Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Theorie des Antisemitismus Stoetzler (Hg.): Antisemitism and the Constitution of Sociology // Erdle & Konitzer (Hg.): Theorien über Judenhass // Weyand: Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus

Marx, Soziologie und Kapitalismuskritik: Aktuelle Perspektiven der Antisemitismusforschung.

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Mathias Berek,

Vor mir liegen drei aktuelle Bücher zum Antisemitismus, die abgesehen vom Oberthema zunächst wirken, als hätten sie nicht viel gemeinsam: ein Sammelband, der auf eine Konferenz zum Zusammenhang von Antisemitismus und Soziologiegeschichte zurückgeht, eine Edition von frühen Quellen zur Auseinandersetzung mit dem Judenhass und eine wissenssoziologisch-ideengeschichtliche Monografie. Bei genauerem Blick gibt es aber doch mehr Übereinstimmungen als erwartet.

Marcel Stoetzlers Sammelband beschäftigt sich mit einem Thema, bei dem er Pionierarbeit geleistet hat: den Beziehungen zwischen Soziologie und Antisemitismus, vor allem in der Gründungsphase des Fachs. Die zugrundeliegende These Stoetzlers ist, dass Soziologie und moderner Antisemitismus als Diskurse Teil des Konsolidierungsprozesses der modernen Gesellschaft als Ensemble von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert waren. Sie waren «related, partly cosubstantial, as much as competing, sometimes antagonistic» (S. 2).

Stoetzler schließt damit zwar an die Thesen des dänischen Soziologen Svend Ranulf von 1939 an, der Auguste Comte, Émile Durkheim und Ferdinand Tönnies als Vorläufer des Faschismus verstand.[1] Er will die Soziologie aber eher in ihrer Ambiguität als eine der Instanzen der Dialektik der Aufklärung in den Blick nehmen (S. 7). Dementsprechend argumentiert er in der Einleitung eher vorsichtig, wenn er die intellektuellen Milieus um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich als eng verbunden beschreibt, in denen der Positivismus (aus dem die Soziologie hervorging) und der Frühsozialismus Saint-Simons und Fouriers entstanden (der Kontext für die Entwicklung einiger der einflussreichsten Varianten des modernen Antisemitismus). Die Gemeinsamkeiten zwischen Comte und dem Antisemitismus lägen in ihrer Kritik an modernem Individualismus und ihrem Verfolgen eines (vermeintlich) ethischen, geläuterten und nicht-kommerziellen Kapitalismus: Fortschritt, Ordnung und Moral gegen die Geld-Ökonomie (S. 13). Auch im deutschen Verein für Sozialpolitik, aus dem die deutsche Soziologie zu guten Teilen hervorging, war der Antisemitismus zwar nicht dominant, aber auch nicht abwesend. Antisemitismus und Soziologie reden nach Stoetzler über dieselben Prozesse, Konflikte, Probleme und Krisen der modernen Gesellschaft (Atomisierung und Auflösung der Gesellschaft und gleichzeitig Erstickung des Individuums durch Gesellschaft) und kämpfen um denselben Acker: «to win over and mobilize the hearts and minds of the perplexed individual members of this society» (S. 29).[2] Deshalb werden die Antisemit/-innen zu Quasi-Soziolog/-innen und deshalb findet die Soziologie nur einen ambivalenten Umgang mit dem modernen Judenhass, ja läuft manchmal parallel zu ihm oder gleicht oder folgt ihm sogar. All das führt aber keineswegs zu einer Gleichsetzung – Antisemitismus ist für Stoetzler nur die «travesty of a social theory» (S. 78).

In seinem eigenen Beitrag zum Sammelband führt Stoetzler seine Beweisführung in Auseinandersetzung mit dem Werk von Durkheim und Max Weber weiter. Selbst in den besten Momenten «of classical sociology‘s commitment and struggle for progressive, liberal society» (S. 66), Durkheims Intervention in die Dreyfus-Affäre, seine Schrift Individualism and the Intellectuals von 1898,[3] zeigten sich die Widersprüche der Moderne, die diese Anstrengungen unterminierten. Der «antimodernist impulse» in Durkheims Subtext (S. 69), in dem er sich mit den antisemitischen Dreyfus-Gegnern einig gewesen sei, bestand nach Stoetzler in seiner Kritik am egotistischen Utilitarismus und Individualismus (vor allem bei Herbert Spencer).

Auch Max Webers Protestantische Ethik,[4] die eigentlich zur Delegitimation der reaktionären, deutsch-nationalen und teilweise antisemitischen Vorwürfe gegen den egotistischen Utilitarismus des Kapitalismus angetreten sei, bleibe dieser nationalen Ablehnung des Utilitarismus selbst verhaftet. Sein Buch handle davon, wie der Kapitalismus von einem guten zu einem schlechten Ding wurde, der nicht mehr um seiner selbst willen, sondern auf der Jagd nach materiellen Gütern betrieben wurde, also nicht mehr (christlich-protestantisch-calvinistisch-)religiös, sondern von purem Utilitarismus angetrieben (S. 71). Weber sei damit Teil des nationalliberalen Diskurses in Deutschland gewesen, den Geist des Kapitalismus mit dem deutschen Nationalismus zusammenzubringen, und somit einen weniger utilitaristischen, amerikanischen (oder jüdischen) Kapitalismus zu schaffen (S. 74).

Stoetzler plädiert dafür, dass eine emanzipatorische Kritik (auch wenn sie kapitalismuskritisch ist) die Aufklärungselemente bei Spencer und den economists retten, also Spencer gegen die falsche Kritik verteidigen müsse, auch wenn dieser ein Kapitalismusapologet sei: «The difficulty of the task consists in challenging the limits of Enlightenment and liberal modernity without betraying the humanity and individualism it has brought about for some and promised for all.» (S. 78)

Mit der Entstehungsphase der Soziologie beschäftigen sich auch die Beiträge von Chad Alan Goldberg (ausführlicher zu Durkheim), Y. Michal Bodeman (über Werner Sombart) und Irmela Gorges (über die Wucher-Enquête des Vereins für Socialpolitik von 1887). Im zweiten Teil des Bandes, zur Reaktion der Soziologie auf den Antisemitismus, liefern u. a. Robert Fine eine Re-Lektüre von Marx‘ bekanntem Text Zur Judenfrage, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, Richard H. King eine Diskussion der US-amerikanischen Situation und Amos Morris-Reich Überlegungen zu Gemeinsamkeiten von Georg Simmel, Franz Boas und Arthur Ruppin: blieb letzterer dabei, Antisemitismus als natürliche Reaktion auf Unterschiede von Juden und Nichtjuden zu verstehen, verschoben die beiden anderen den wissenschaftlichen Blick weg von den Juden, hin zu den Antisemiten, und sahen Antisemitismus als sozial konstruiertes Phänomen.

Im dritten Teil, über soziologische Reaktionen auf Faschismus und Shoah, sind vor allem die Beiträge von Eva-Maria Ziege (eine Zusammenfassung zur Labour Study aus ihrem Buch zur Frankfurter Schule im Exil)[5] und Jonathan Judaken (zu Talcott Parsons‘ «Sociology of Modern Anti-Semitism» von 1942) hervorzuheben. Die Labour Study war nicht nur wegen ihrer Ergebnisse (u. a., dass schwarze Arbeiter/-innen weniger antisemitische Einstellungen zeigten als weiße) interessant, sondern auch deshalb, weil hier die vor dem Nationalsozialismus geflohenen deutschen Sozialwissenschaftler/-innen den erstarkenden Antisemitismus nicht als spezifisch deutsches, sondern als generell autoritär-totalitäres Phänomen in den von zunehmenden faschistischen Tendenzen geprägten USA untersuchten. Nach Judaken tauchten systematische Theorien über den Antisemitismus, welche die Schuld nicht bei den Juden, sondern bei den Judenhasser/-innen suchten, überhaupt erst in der Zeit des Aufstiegs des Faschismus‘, von Zweitem Weltkrieg und Shoah auf. Talcott Parsons als ein Vertreter dieser Ansätze sei in seinem Artikel von 1942 aber wie Max Weber in den Ambivalenzen des Liberalismus gefangen geblieben, der eine jüdische Partikularität weiterhin nicht anerkennen konnte und stereotypischen Konstruktionen des Jüdischen verhaftet blieb (bis hin zum Juden als Wucherer). Womöglich sei es die Einsicht in diese Problematik seines Texts, die Parsons später seinen Text nicht mehr zu seinem Werk zählen ließ.

Es bleibt in Stoetzlers Sammelband inhaltlich etwas unklar, was die Beiträge von Werner Bonefeld und Roland Robertson mit dem Thema zu tun haben. Bei ersterem kann immerhin die Soziologie durch die theoretische Anbindung an Adorno und Horkheimer als vertreten verbucht werden. Bonefeld beschreibt den Antisemitismus als «anticapitalism that seeks a capitalism without capitalism» (S. 319). Dieser stellt die kapitalistischen Verhältnisse nicht in Frage, sondern interpretiert sie nur um: er trennt das Untrennbare – Produktion und Geld – und personifiziert das Geld im Judentum, um diese fetischistische Projektion dann terroristisch angreifen zu können (S. 325). Antisemitismus ist damit «the official ideology of a barbaric rejection of capitalism that makes anticapitalism useful for capitalism. It offers an articulation for resentment and anger, and an enemy» (S. 328).

Detlev Claussen kommt in seinem Schlusswort zum Verdikt, dass die Soziologie in ihrer Geschichte unfähig war, andere als rationalistische Theorien des Antisemitismus zu produzieren, weil sie eng mit ihrem Gegenstand, der bürgerlichen Gesellschaft, verwoben war und Antisemitismus nur als vorbürgerliches Relikt betrachtete statt als genuin und durchgängiges Element der modernen Gesellschaft. In ihrem affirmativ-positivistischen Habitus habe sie die Dialektik der Aufklärung nicht verstanden. Andererseits habe aber eine (meist ideengeschichtliche) Nachkriegsliteratur ihren Blick auf die antisemitischen Elemente der Aufklärung verengt, ohne zu bemerken, «that giving up on the Enlightenment meant giving up on the only intellectual antidote to antisemitism» (S. 335).

Eine inhaltliche Frage bleibt bei diesem Band: Stoetzlers Parallelisierung von Durkheims und Webers Kritik am egotistischen Utilitarismus mit den Denkmustern des Antisemitismus ist letztlich aus den selben Gründen fragwürdig wie die Argumentationsfigur des «strukturellen Antisemitismus», wenn sie zur Gleichsetzung tendiert. Es mag zwar sein, dass auch die Antisemiten einen Strohmann wie Spencer attackierten und eine (nationale) kollektive Moral oder Quasi-Religion forderten, um den angeblichen Zerfall der Gesellschaft aufzuhalten. Aber dies allein ist noch nicht antisemitisch, solange der Bezug auf die Juden als Feindgruppe fehlt. Stoetzler weist an anderen Stellen überzeugend nach, wie die frühen Soziologen dem Antisemitismus wegen ihrer in der gemeinsamen Quelle des nationalen Liberalismus liegenden Ambivalenzen oft wenig entgegensetzen konnten oder wollten. Diese bloß strukturelle Parallelisierung dagegen erscheint mir als Argument nicht ausreichend. Differenzierter argumentiert dabei Jan Weyand im zweiten hier zu besprechenden Buch.

Weyand arbeitet hier frühere Thesen[6] weiter aus: Die Semantik des Antisemitismus steht in dialektischer Beziehung zur modernen, nationalen Gesellschaftsstruktur, beide konstituieren sich gegenseitig. Das antisemitische Feindbild ist auf kollektive Selbstbilder bezogen. Im antisemitischen Denken verkörpert das Jüdische die Ambivalenz und Dynamik der Moderne, während das nationale Selbstbild darin der Konstruktion von Klarheit, Eindeutigkeit und Stabilität dient. Im vorliegenden Buch nun untersucht der Wissenssoziologe historisch am 19. Jahrhundert, inwiefern dieser moderne Antisemitismus in allen seinen Facetten (rassistisch, religiös, kulturell) als nationaler zu verstehen ist. Klaus Holz hat in seiner klassischen Arbeit zum Thema[7] die Grundmuster von Zugehörigkeitsfestlegung und Eigenschaftszuschreibungen beschrieben, welche «die Juden» als das allen «Völkern» und Nationen gegenüberstehende «Andere», als «Feinde aller sozialen Ordnung» (bei Weyand: S. 13) definieren. Weyand untersucht die Genese dieser Grundmuster, an antisemitischen Texten aus den Zeiträumen zwischen 1780 und 1815 sowie 1870 und 1900, und will damit den Prozess der Modernisierung des Antisemitismus verstehen helfen. Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums hat nach Weyand eine «Sattelung» des antisemitischen Wissens stattgefunden, dessen Grundmuster seitdem gleichgeblieben sind und noch die gegenwärtigen Ausformungen prägen.

Er grenzt sich dabei von erstens realistischen und zweitens konstruktivistischen Ansätzen ab, die Antisemitismus erstens entweder als bloßen Güterkonflikt zwischen konkurrierenden Kollektiven begreifen, aber nicht erkennen, dass keine Gruppe ohne Selbstbild zur Gruppe wird, oder zweitens, als Teilgebiet der Vorurteilsforschung, Antisemitismus bloß psychologisch/psychoanalytisch als verzerrtes Weltbild verstehen, das dem Antisemiten die komplizierter werdende Welt erklärt. Weyand dagegen will kulturwissenschaftlich (im Anschluss etwa an Ernst Cassirer und Shulamit Volkov) nicht nach Ursachen fragen, sondern nach der «Bedeutung antisemitischen Weltverstehens» (S. 10). Denn die «Einheit des <Denkmusters> ist nicht nur und möglicherweise nicht zuerst in der Psyche zu verorten, sondern in der Kultur.» Antisemitismus ist ein «Element des kulturellen Wissensvorrats moderner Gesellschaft» (S. 37). Weyand will seinen Ansatz aber nicht als reine Diskursgeschichte konzipiert wissen, in der Kultur auf Kultur verweist (S. 39).

Als wichtigsten soziostrukturellen Hintergrund der Entstehung der «Judenfrage» macht Weyand die Unterordnung der Religion unter den Staat (bzw. ihre Privatisierung), die Trennung von Politik und Ökonomie sowie die Verbürgerlichung – als Etablierung des ökonomisch autonomen Bürgers und Zerschlagung eines Großteils der Ständeordnung – aus. Da der humanistische Bezug auf die ganze Menschheit kein neues kollektives Selbstbild bot, habe sich der Begriff des «Volks» gegen den aufklärerischen Begriff des Menschen etabliert. «Volk» als Abstammungs- und Ethos-Gemeinschaft wurde zur Legitimation einheitlicher Staatszugehörigkeit, und zwar als organische Gleichsetzung von Staat, Nation und Volk (S. 106). Die neuen kollektiven Selbstbilder sollten leisten, was die religiösen nicht mehr konnten. Der bisherige soziale Ort des Judentums war damit in Frage gestellt. Damit verbunden war eine «historisch neue Thematisierung von Homogenität im Staat» (S. 108).

Die Modernisierung des Antisemitismus war zunächst auch eine Negation der Emanzipation: ein Projekt der Abwehr der rechtlichen Gleichstellung. Darüber hinaus wurde die alte Unterscheidung Christ vs. Jude modernisiert, indem sie nun auf christliche «Völker» bezogen wurde (S. 205). Schon 1782 transformierte Johann David Michaelis in seiner judenhassenden Replik auf Christian Wilhelm Dohm das Gegensatzpaar Christ vs. Jude zu Deutscher vs. Jude bzw. Völker vs. Juden.

Auch die antisemitischen Zuschreibungen wandelten sich. In Bezug auf den Staat, der mit einem Volk verknüpft ist, politisierte sich das antisemitische Wissen: «die Juden» wurden zum «Volk», zur Nation, die einen eigenen Staat anstrebten, ergo nicht zu dem Staat gehörten, in dem sie wohnten. Während «Völker» als Solidargemeinschaften mit gemeinsamem Ethos konstruiert wurden, waren Jüdinnen und Juden im antisemitischen Denken Feinde aller «Völker», Gegenvolk und Anti-Ethos der Zersetzung und Zerstörung von Moral und Ökonomie. Als wichtigstes Grundmuster modernen antisemitischen Wissens wurden «Völker» zur Personalisierung von Gemeinschaft, das Judentum dagegen zur Personalisierung von Gesellschaft (S. 193 und 337). Hier liegt nach Weyand die Schwachstelle aller realistischen und sozialpsychologischen Erklärungen des Antisemitismus. Konstruktionen von Feindbildern als Bedingung für Selbstbilder lassen sich so erklären, nicht aber diese Gegenüberstellung von «Völkern» und Judentum. Gleichzeitig lässt sich das auch nicht als Zerrbild psychologisieren – der moderne Antisemitismus ist nicht «wirr», sondern ein durchaus «kohärentes Deutungsmuster von Welt» (S. 194). Als Weltanschauung erklärt er alle sozialen Handlungsbereiche der Gesellschaft: Politik, Ökonomie, Geschlechterverhältnisse, Kunst usw. (S. 256–259).

Die Einführung des Rassismus in den Judenhass hat Weyand zufolge weder die Regel der Zugehörigkeitsfestlegung durch Abstammung noch die Zuschreibungsgrundmuster geändert (S. 261), der rassistische Antisemitismus ist nur eine Variante des modernen, nationalen. Neu an ihm ist aber die Einbettung des «Volks» in eine als Naturgeschichte geschriebene Menschheitsgeschichte von Abstammungsgemeinschaften (S. 280); die Verbindung von Natur und Kultur (S. 279) und die Etablierung biologischer Körper als Modell auch für «Völker» – Körper, die damit auch zum Objekt wissenschaftlichen Eingriffs werden können, bis hin zum Züchtungsmodell oder Maßnahmen wie Sterilisierung und Massenmord (S. 262). Das Ethos der «Rasse» wird nicht mehr nur durch kulturelle Arbeit und Bildung vererbt, sondern das Ergebnis dieser Arbeit wird als körperliche Anlage weitergegeben. In der Konsequenz wird keine Assimilation und Vermischung mehr gefordert wie bei früheren Formen des Antisemitismus, sondern die strikte Trennung – Vermischung gilt als Bedrohung (S. 280).

Am Schluss seines Buches diskutiert Weyand den Unterschied zwischen antimoderner Kulturkritik und modernem Antisemitismus – und damit komme ich zu meiner Kritik an Stoetzler zurück. Für Weyand formulieren beide zwar eine Kritik an der Gesellschaft aus Perspektive der Gemeinschaft und personalisieren diese Kritik, und diese Gemeinsamkeit erlaubte dem Antisemitismus auch eine so weite Verbreitung und Anschlussfähigkeit: er setzt auf der antimodernen Kulturkritik auf, beide sind durch das Selbstbild einer nationalen Gemeinschaft verbunden. Aber die Kulturkritik «externalisiert Gesellschaft aus dem Selbstbild einer eigenen Gemeinschaft und bekämpft entweder abstrakte Prinzipien (den verantwortungslosen homo oeconomicus usw.) oder personalisiert Gesellschaft in [funktionalen] Personengruppen (die verantwortungslosen internationalen Banker usw.)». Der moderne Antisemitismus dagegen «personalisiert Gesellschaft» als das Andere von Gemeinschaft «in der Gruppe der Juden» (S. 335 f., Hervorh.: M. B.).

Weyands Studie ist ein überzeugender Beitrag zum Verständnis des modernen Antisemitismus, vor allem durch seine wissenssoziologische Perspektive. Es bleibt lediglich etwas unklar, wie er das Verhältnis von antisemitischem Wissen und Sozialstruktur nun versteht. Einerseits betont er die Unentbehrlichkeit des Selbstbilds für die Existenz der Gruppe, andererseits setzt er an mehreren Stellen doch wieder die (materielle) Sozialstruktur der (also doch prä-existierenden?) Gruppe dem Selbstbild kausal voraus (S. 274 und 325; vgl. dagegen seine o. g. Kritik an realistischen Ansätzen und S. 323). Auch die von ihm vorgelegte Typologie der nationalen Antisemitismen ist insofern leicht inkohärent, als sie alle zwar nationale sein sollen, er im Einzelnen dann aber christlich-nationalen, nationalreligiösen, nationalrassistischen und nationalen Antisemitismus unterscheidet. Auch berücksichtigt Weyand einen ungeheuren Umfang an Literatur, es verwundert jedoch, dass er keinen der inhaltlich naheliegenden Beiträge Marcel Stoetzlers[8] nennt (oder kennt). Zum Schluss aber sei dem Verlag für ein heutzutage in Deutschland selten gewordenes sorgfältiges Lektorat gedankt, wenn auch ein Register nützlich gewesen wäre.

Der dritte hier zu besprechende Band, die von Birgit Erdle und Werner Konitzer zusammengestellte kommentierte Quellenedition, präsentiert Texte von vor allem jüdischen (und ausschließlich männlichen) Autoren zur «Judenfrage» und zum Judenhass aus den 150 Jahren zwischen 1781 und 1931.[9] Die Quellen liegen meist in Auszügen, teils auch in voller Länge vor, die Kommentare sind auch allein als Einführung in die Texte lesbar. Diese «Denkgeschichte» ist ein Wissens-Schatz, der sowohl wissenschaftliche als auch literarische Werke umfasst, sie präsentiert Bekanntes und Vielzitiertes wie Dohms Bürgerliche Verbesserung der Juden (Kommentar: Stephan Braese) und Marx‘ Zur Judenfrage (Shlomo Avineri), aber auch weniger prominente Werke wie Hermann Cohens Prozessgutachten Die Nächstenliebe im Talmud (Astrid Deuber-Mankowsky) oder Max Wieners Deutscher Geist und wissenschaftlicher Antisemitismus (Daniel Weidner). Ebenfalls mit Beiträgen vertreten sind David Friedländer (Kommentar: Uta Lohmann), Heinrich Heine (Willi Goetschel), Constantin Brunner (Irene Aue-Ben-David), Oskar Baum (Micha Brumlik) und Felix Weltsch (Vivian Liska und David Dessin).

Die hier versammelten Beiträge sind nicht zwangsläufig die systematischsten, wissenschaftlich einflussreichsten oder klarsichtigsten, nicht wenige der vertretenen Positionen (etwa Weltsch, der noch 1931 die Sündenbocktheorie vertrat, S. 352) sind vom Forschungsstand längst überholt. Aber das ist auch gar nicht Aufgabe dieser Edition. Sie bildet vielmehr die Vielfalt und die zeitgebundene Perspektivität der jeweiligen Darstellungen nuancenreich ab. In der Einleitung identifizieren Erdle und Konitzer trotz der extremen Diversität der Texte eine Entwicklung: so hätten zunächst und für lange Zeit die Versuche dominiert, den Judenhass zu erklären und dessen Vorwürfe begründet zurückzuweisen. Später, vor allem seit 1920, habe sich aber die Einsicht durchgesetzt, dass der Antisemitismus nicht aus dem Handeln der Juden, sondern dem der Antisemiten erklärt werden müsse (S. 20). Auch habe zunehmend eine Systematisierung der antisemitischen Phänomene stattgefunden, und die Erklärungen für den Antisemitismus hätten sich immer mehr weg vom Subjekt und hin zum Sozialen entwickelt.

Drei Quellen seien hier besonders herausgehoben. An Saul Aschers Kritik Johann Gottlieb Fichtes als Eisenmenger der Zweite (1794) ist vor allem interessant, wie er als Kant-Anhänger diesen für seine antisemitischen Aussagen angriff und zugleich in Schutz nahm gegen die Vereinnahmung durch Fichte und Konsorten, also «gegen Kant für Kant» kämpfte, aber auch, wie früh er die Bedrohung durch den philosophischen «Judenhass im Kleide der Wissenschaft» erkannte (Kommentar: Bettina Stangneth, S. 79). Aus Arnold Zweigs Caliban oder Politik und Leidenschaft (1927) haben die Herausgeber/-innen (Kommentar: Alfred Bodenheimer) unter anderem seine Darstellung der Deformationen der Juden und Jüdinnen durch den Antisemitismus herausgegriffen – eine eindrückliche Beschreibung, wie in Deutschland der «Antisemitismus als Umwelt» schon lange vor der nationalsozialistischen Herrschaft «am Lebens- und Durchsetzungswillen der Juden nagte» und die jüdische Persönlichkeit «von Kindheit an» gefährdete (S. 321).

Als dritte Quelle will ich hier Karl Marx‘ Essay Zur Judenfrage herausheben. Dass die Diskussion darum, ob Marx mit diesem Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus zu zählen ist oder zur Kritik desselben, offenbar weiterläuft, zeigt sich daran, dass alle drei hier besprochenen Bücher trotz ihrer grundsätzlich verschiedenen Perspektiven und Formate sich mit diesem Artikel beschäftigen.

In Erdles/Konitzers Quellenedition weist Shlomo Avineri darauf hin, dass dieser Text «in den Schriften einiger radikaler Sozialisten eine ebenso herausragende Rolle spielt wie bei manchen rechten Kritikern des Sozialismus, die […] ihm Antisemitismus oder […] <jüdischen Selbsthass> vor[…]werfen» (S. 189). Marx hatte im ersten Teil seines Essays Bruno Bauer vor allem dafür kritisiert, dass dieser den Juden die Emanzipation verweigerte, solange sie Juden blieben. Er trat klar für deren Gleichberechtigung ein. Im zweiten Teil der Besprechung Bauers jedoch startete Marx einen hinsichtlich seines gesellschaftsanalytischen Anspruchs unhaltbaren, «extremen und manchmal bösartigen Angriff auf das Judentum» (Avineri, S. 190), indem er es mit dem Kapitalismus gleichsetzte, sich dabei etlicher klassischer Stereotype bediente (wie: der weltliche Gott der Juden sei das Geld) und am Ende zur Feststellung gelangte, die Judenemanzipation bestehe in der Emanzipation der Menschheit vom Judentum (S. 174 und 178). Avineri weist darauf hin, der Text müsse im Kontext der Zeit gesehen werden, wo der Sozialrevolutionär Marx nicht nur die Gleichberechtigung forderte, sondern auch die Unzulänglichkeit der politischen Emanzipation der Französischen Revolution kritisierte, mit Blick auf die menschliche Emanzipation, in der die Menschen keinerlei Religion mehr nötig hätten (Avineri, S. 188). Außerdem spekuliert Avineri, Marx habe «Judentum» eventuell aus Angst vor der preußischen Zensur als Codewort für den «Kapitalismus» genutzt (S. 191). Dafür spreche auch, dass er im selben Text nach dem Judentum auch das Christentum mit dem Kapitalismus gleichsetzte. Vor allem aber sei Marx nie wieder auf seine Invektiven gegen das Judentum zurückgekommen – in dem später erschienenen Text Die heilige Familie greift er zwar seine Kritik an Bauer erneut auf, aber wiederholt nicht seine judenfeindlichen Aussagen.

In Stoetzlers Sammelband diskutiert Robert Fine den Marxschen Problemtext ähnlich: Die Sprache des zweiten Teils des Essays sei «troubling» (S. 150) und stehe im Widerspruch zum ersten. Als Lösung des Widerspruchs schlägt er zwei alternative Lesarten vor: Entweder verstünde man Marx so, dass er in seinem Text Bauers ökonomische Vorurteile gegen die Juden nachgeäfft und auf den Kopf gedreht hätte, in dem er sagt, sie würden für alle im Kapitalismus gelten. Marx wollte Bauer nicht empirisch widerlegen, weil das bei Antisemiten unmöglich sei, sondern sich von der ganzen Perspektive der «Judenfrage» lösen. Oder man würde (wie Avineri) den Text im Zusammenhang mit Marx‘ universellem Humanismus lesen, der auch für die Juden galt. Beide Varianten sind für Fine sinnvoller als die meisten bisherigen Rezeptionen. Deren herabsetzende Version versteht Marx als Antisemiten und rezipiert nur den zweiten Essay. Dieser Sicht widerspreche, dass es kaum weitere Belege für einen antisemitischen Marx gibt und er stets kritisch gegenüber antisemitischen Linken wie Bauer, Fourier, Dühring und Bakunin und immer für die Emanzipation aufgetreten sei. Die apologetische Rezeption dagegen ignoriert den Text, trivialisiert ihn als privates Vorurteil, normalisiert ihn als Zeichen der Zeit, übersetzt ihn (mit Judentum sei Kommerz gemeint) oder heißt ihn in seinen judenfeindlichen Aussagen sogar gut. Diese Rezeption ist nach Fine mitverantwortlich für die Verankerung und Legitimation des Antisemitismus im Marxismus, aber auch dafür, dass Marx und der Marxismus in der Antisemitismusforschung nicht als kritische Quelle, sondern als Teil des Problems angesehen werden.

Auch Jan Weyand schließlich hält fest, dass Marx‘ Essay nicht gegen das Judentum gerichtet sei, sondern auf die Aufhebung der Entfremdung in der herrschaftsfreien Gesellschaft. Der Begriff «Jude» «profiliert nicht die Einheit eines Kollektivs gegen andere, sondern eine soziale Funktion. Der Sinn der Unterscheidung Christ, Jude und Mensch bezieht sich nicht auf Personengruppen, sondern ist sozialrevolutionär» (S. 213). Konsequenterweise unterscheidet er auch Bruno Bauer von anderen Antisemiten, insofern seine judenfeindlichen Aussagen allgemein religionskritisch motiviert seien, er sich selbst keinem «Volk» zurechne und die Juden nicht für die soziale Lage einer anderen Gruppe verantwortlich mache (S. 212). Bei Marx wie Bauer sollten Christen wie Juden in der Kategorie Mensch aufgehen. Keiner von beiden habe einen Gegensatz Gemeinschaft/Völker vs. Gesellschaft/Juden konstruiert. Somit gehören nach Weyand beide nicht in die Wissensgeschichte des Antisemitismus. Das werde dadurch bestätigt, dass andere Antisemiten sich kaum und wenn, dann nur eklektisch, auf sie beziehen würden (S. 214).

Letztlich schließt die Diskussion um Marx‘ umstrittenen Text an die oben erwähnte Problematik einer Parallelisierung (mit Tendenz zur Gleichsetzung) von Kapitalismuskritik und Antisemitismus an. Die von Fine genannte herabsetzende Rezeption Marx‘ findet eine Entsprechung in gegenwärtigen Debatten, in denen die Blickverengung auf linken Antisemitismus in Verbindung mit einer kritiklosen Affirmation des gesellschaftlichen Status Quo zu einer generellen Gleichsetzung von Kapitalismuskritik und Antisemitismus gerinnt.[10] Aber: Die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse unter dem Label Antisemitismuskritik zu affirmieren, weil auch Antisemit/-innen den Kapitalismus «kritisieren», hat weder viel mit Kritik zu tun, noch dient es der Erkenntnis oder dem Kampf gegen den Antisemitismus; es bleibt eine Affirmation der bestehenden schlechten Verhältnisse. Auch die vorliegenden Bände haben wieder mehr als ausreichende Belege für die Tatsache geliefert, dass der moderne Antisemitismus nicht aus der kapitalistischen und nationalen Gesellschaft herausgerechnet werden kann, sondern aus ihr heraus entstanden ist und sich immer wieder reproduziert.
 


[1] Ranulf, Svend: Scholarly Forerunners of Antisemitism, in: Ethics 50 (1939), 1, S. 16–34.

[2] Fraglich ist jedoch, ob beide wirklich dieselben Zielgruppen adressierten.

[3] In: Bellah, Robert N. (Hg.): On Morality and Society, Chicago 1978, S. 43–57.

[4] Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (= Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 18), Tübingen 2016.

[5] Ziege, Eva-Maria: Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, Frankfurt/M. 2009.

[6] Zum Beispiel in: Weyand, Jan: Die Semantik des Antisemitismus und die Struktur der Gesellschaft, in: Wolfram Stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 69–89.

[7] Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.

[8] Zum Beispiel Stoetzler, Marcel: The State, the Nation, and the Jews: Liberalism and the Antisemitism Dispute in Bismarck's Germany, Lincoln, Nebraska/London 2008.

[9] Ähnlich gelagert: Hahn, Hans-Joachim/Kistenmacher, Olaf (Hg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944, Berlin 2015.

[10] Zum Beispiel: Kahane, Anetta: G20, die Gewalt des totalitären Denkens und eine globale Zukunft für alle, online unter:

www.belltower.news/artikel/g20-die-gewalt-des-totalit%C3%A4ren-denkens-und-eine-globale-zukunft-f%C3%BCr-alle-12327 [26.8.2017].
 


Marcel Stoetzler (Hg.): Antisemitism and the Constitution of Sociology, Lincoln/London 2014: University of Nebraska Press (380 S., $ 65,00).

Birgit Erdle & Werner Konitzer (Hg.): Theorien über Judenhass – eine Denkgeschichte. Kommentierte Quellenedition (1781–1931) (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 26), Frankfurt/New York 2015: Campus (364 S., 39,90 €).

Jan Weyand: Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen 2016: Wallstein (368 S., 39,90 €).
 


Die Besprechung erschien 2017 im wissenschaftlichen Online-Periodikum Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung.