Kommentar | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Demokratischer Sozialismus «Alle wollen regieren, wir wollen verändern»

Stefan Liebich über die wechselvolle Geschichte linker Regierungsbeteiligungen seit den 1990er Jahren

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Die LINKE-Senator*innen der neuen Berliner Landesregierung: Klaus Lederer, Katja Kipping, Prof. Dr. Lena Kreck. Foto: picture alliance / Fotostand | Fotostand / Reuhl

Wollte ein wohlmeinender Beobachter den gegenwärtigen Einfluss der Partei DIE LINKE in der Bundesrepublik positiv würdigen, schriebe er, dass sie in einem Viertel aller Bundesländer mitregiert, darunter nach der jüngsten Entscheidung der Mitglieder auch in der Hauptstadt Berlin, und dass die Partei mit dem Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ramelow, sogar den amtierenden Präsidenten des Bundesrates (der Vertretung der Bundesländer) stellt.

Stefan Liebich war von 1995 bis 2009 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und von 2009 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags. Ab Januar 2022 ist er Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Allerdings zeigt gerade die Entscheidung in Berlin, dass es auch eine andere Sicht auf die Dinge gibt. Denn es stimmt zugleich, dass DIE LINKE in sechs von sechzehn Landtagen gar nicht vertreten ist und die Regierungsbeteiligungen in der Partei selbst durchaus umstritten sind. Im Rahmen des Berliner Mitgliederentscheids etwa haben relevante Teile des Landesverbandes engagiert für eine Ablehnung des ausgehandelten Koalitionsvertrags geworben, weil aus ihrer Sicht die Ergebnisse für eine erfolgreiche Regierungsbeteiligung nicht ausreichen.

Regieren oder nicht regieren?

Die Debatte über das Regieren begleitet DIE LINKE und eine ihrer Vorgängerparteien, die PDS, von Beginn an. (Für die andere Vorgängerpartei, die WASG, hat sich die Frage praktisch nie gestellt. Allerdings war ihr bekanntestes Mitglied, Oskar Lafontaine, als Sozialdemokrat selbst Teil von Regierungen auf Landes- und Bundesebene.)

Linke Parteien haben in ihrer Geschichte immer wieder die Frage diskutiert, ob man als Sozialist*in im Kapitalismus überhaupt regieren sollte oder ob man sich damit nicht eher zum «Arzt am Krankenbett» eines Patienten machte, dem man doch eigentlich ein schnelles Ende wünscht. Unzählige Reden sind zu diesem Thema gehalten und ganze Bücher geschrieben worden. Die vermutlich berühmteste Kontroverse war die sogenannte Revisionismusdebatte in der frühen SPD, in der Eduard Bernstein, Karl Kautsky und die junge Rosa Luxemburg am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert ihre intellektuellen Klingen kreuzten. Ähnliche Debatten führten aber auch die KPD der frühen 1920er Jahre und DIE GRÜNEN der 1980er Jahre.[1]

Die linken Diskussionen über Regierungsbeteiligungen werden wohl nie enden – und sollten es auch nicht. Entschiede sich die Partei DIE LINKE, grundsätzlich keine Beteiligung mehr an Landes- oder Bundesregierung anzustreben, verlöre sie unweigerlich den übergroßen Teil ihrer Wähler*innen, die genau das von ihr erwarten. Sie würde zu einer Sekte, die auf möglichen Einfluss zugunsten der «reinen Lehre» verzichtete.

Entschiede man sich umgekehrt – würde man also unabhängig von Inhalten, Rahmenbedingungen und Kräfteverhältnissen einfach jede Chance ergreifen, Minister*innen zu stellen –, machte die Partei sich ebenso überflüssig. Regieren ist nämlich kein Wert an sich. Opposition allerdings ebenso wenig.

«Alle wollen regieren, wir wollen verändern»: Unter dieser Losung bestritt die PDS in den 1990er Jahren ihre Wahlkämpfe. Sie bringt zum Ausdruck, dass es Linken darum gehen sollte, wirklich etwas zu bewegen, statt lediglich auf Posten zu schielen. Die Idee, dass ausgerechnet die Nachfolgeorganisation der DDR-Staatspartei an Regierungen beteiligt sein sollte, schien vielen Menschen nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus als gewagt. Aber dann ging es doch ziemlich schnell.

PDS und LINKE in der Regierung

Den Tabubruch wagte der Sozialdemokrat Reinhard Höppner im Bundesland Sachsen-Anhalt bereits 1994, nachdem die konservativ-liberale Landesregierung aus CDU und FDP ihre Mehrheit verloren hatte. Da SPD und GRÜNE ebenfalls über keine Mehrheit verfügten, verabredete Höppner mit der PDS, dass deren Abgeordnete sich der Stimme enthalten würden, wodurch er mit relativer Mehrheit zum Ministerpräsident gewählt werden konnte. Die Tolerierung einer Minderheitsregierung, die flugs nach der Landeshauptstadt «Magdeburger Modell» genannt wurde, erweiterte die bisherigen Formen der Regierungszusammenarbeit der Bundesrepublik. Das Bündnis hielt zwei Legislaturperioden, bis die Parteien links der Mitte ihre Mehrheit wieder verloren.

Der nächste Schritt war dann die erste «echte» Regierungsbeteiligung der PDS: In Mecklenburg-Vorpommern wurde im November 1998 eine «rot-rote» Koalition aus SPD und PDS gebildet. Damit stellte die Partei des Demokratischen Sozialismus erstmalig eine Ministerin und zwei Minister. Die Koalition hielt bis 2006; seit wenigen Wochen regiert sie erneut in dem nordöstlichen Bundesland.

Nur drei Jahre nach der Regierungsbildung im Norden regierte die PDS erstmals auch auf der westlichen Seite der Mauer – ausgerechnet in der Stadt, die 28 Jahre durch dieses Bauwerk getrennt war, in Berlin. Ich selbst war damals Landesvorsitzender der PDS, später auch Vorsitzender der Fraktion im Abgeordnetenhaus (dem Landesparlament), und verhandelte mit den Sozialdemokraten Klaus Wowereit (SPD), der bereits Regierender Bürgermeister war, dem SPD-Landesvorsitzenden Peter Strieder und dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Michael Müller. Aufseiten der PDS waren außerdem unser Spitzenkandidat, der wohl populärste PDS-Politiker Gregor Gysi, und unser Fraktionsvorsitzender Harald Wolf an den Verhandlungen beteiligt. Tage- und nächtelang diskutierten wir über die Bildung einer gemeinsamen Regierung im einzigen Bundesland, das in der Zeit des Kalten Krieges zwischen DDR und Bundesrepublik geteilt war. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Gespräche regierten damit zum ersten Mal Ministerinnen und Minister der PDS, später der Partei DIE LINKE, auch im ehemaligen Westen. Die Regierung hielt zehn Jahre lang. Da DIE LINKE in dieser Zeit jedoch die Hälfte ihrer Stimmen verlor, besaß die Koalition dann keine Mehrheit mehr und wurde von einer SPD/CDU-Regierung abgelöst. Aber schon 2016 kehrte DIE LINKE in die Regierung zurück, der diesmal auch die GRÜNEN angehörten. Die «rot-grün-rote» Koalition kann nun, nach der Annahme des neuen Koalitionsvertrages, für weitere fünf Jahre den Stadtstaat regieren.

Auch im benachbarten Land Brandenburg bildete Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) im November 2009 eine «rot-rote» Landesregierung, die sein Nachfolger Dietmar Woidke bis 2019 fortführte. Erstmalig war unsere Partei drei aufeinanderfolgende Wahlperioden Teil einer Regierungskoalition.

Der Paukenschlag erfolgte im Dezember 2014 in Thüringen mit der Wahl des langjährigen Oppositionsführers Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten einer «rot-rot-grünen» Landesregierung. Abgesehen von einer kleinen Unterbrechung – als für wenige Wochen ein FDP-Politiker dem Land vorstand, der mit Unterstützung der rechtsradikalen AfD gewählt wurde, dann aber wegen einer breiten Protestwelle wieder zurücktreten musste – regiert Ramelow das Bundesland bis heute. Am 1. November 2021 wurde er, wie eingangs erwähnt, im Rahmen einer turnusmäßigen Rotation für ein Jahr zum Präsidenten des Bundesrates gewählt.

Inzwischen gibt es selbst auf dem Territorium der «alten» Bundesrepublik – der zehn westdeutschen Bundesländer – eine Landesregierung, an der DIE LINKE beteiligt ist. Im norddeutschen Bremen einigten sich 2019 SPD, GRÜNE und LINKE auf eine Koalition unter Führung des Bürgermeisters Andreas Bovenschulte (SPD). Und obschon dies die bislang einzige linke Regierungsbeteiligung in Westdeutschland blieb, sollte doch erwähnt werden, dass die SPD-Politikerin Hannelore Kraft im Sommer 2010 im größten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen zur Ministerpräsidentin gewählt wurde, obwohl SPD und GRÜNE keine eigene Mehrheit hatten. Wie anderthalb Jahrzehnte zuvor in Magdeburg enthielten sich nämlich die LINKE-Abgeordneten bei der Wahl der Ministerpräsidentin und ermöglichten dadurch die Wahl Krafts.

Erfolg oder Misserfolg?

Dass DIE LINKE an verschiedenen Landesregierungen beteiligt war, lässt sich als Erfolg interpretieren; ob die jeweilige konkrete Regierungspolitik aus Sicht der Linken erfolgreich war, steht auf einem anderen Blatt. Denn die linken Regierungsbeteiligungen waren in den eigenen Reihen immer umstritten, und so ist eine mehr oder weniger objektive Bewertung der tatsächlichen Arbeit der Minister*innen (und der sie tragenden linken Fraktionen und Landesverbände) kaum möglich. Während die einen jeden schlechten Kompromiss, jeden Fehler und jede Wahlniederlage – und davon gab es etliche – als Beleg dafür heranzogen, dass man doch besser in der Opposition geblieben wäre, zitierten andere – zu denen ich gehörte – lange Listen realer Verbesserungen und der Verhinderung von Verschlechterungen.

Auf diese Weise bildete sich in unserer Partei das folgende Narrativ heraus: Die PDS befand sich in den 90er Jahren im Aufwind; die Tolerierung in Sachsen-Anhalt und die Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern galten als Belege hierfür. Die Regierungsbeteiligung in Berlin markierte dann den «turning point»: Die Abwahl des CDU-geführten Senats in Berlin und der Triumph der PDS 2001 im Osten Berlins wurden gefeiert – doch dann folgte der Absturz: mit dem Rücktritt Gregor Gysis, der unpopulären Politik der Haushaltskonsolidierung der völlig überschuldeten Stadt und schließlich, nur ein Jahr nach dem Berliner Wahlerfolg, der vorübergehenden Abwahl der PDS aus dem Bundestag 2002 (vier Prozent reichten für den Wiedereinzug nicht aus, sodass die Partei lediglich über zwei Direktmandate aus Berlin im Parlament vertreten war). Die folgenden dramatischen Flügelkämpfe, in denen es immer wieder um die Frage des Regierens ging, drohten die Partei zu zerstören. Die meisten, die damals dabei waren, erinnern sich heute eher an den Verkauf einer Wohnungsbaugesellschaft in Berlin, als etwa an die Einführung von Volksentscheiden, und eher an ein neues Polizeigesetz in Brandenburg als an die Verstaatlichung von Seen durch die Landesregierung. Anders ausgedrückt: Allzu oft wurden die schmerzhaften Kompromisse, die man eingehen musste, schwerer gewichtet als die Reformen, die man durchsetzen konnte.

Wir können es besser

Erst mit der Perspektive einer neuen, wirklich gesamtdeutschen Partei, die sich 2005 aus der PDS und der linken SPD-Abspaltung WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit) zu bilden begann, gab es wieder Hoffnung, dass sich neben SPD und GRÜNEN eine demokratisch-sozialistische Partei etablieren könnte. Personifiziert wurde der Aufbruch vor allem durch den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine und den wieder zurückgekehrten Gregor Gysi. Die Erfolge bei den Bundestagwahlen, wo DIE LINKE 2009 mit 11,9 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis erzielen konnte, und die Wahl des ersten linken Ministerpräsidenten bestätigten den Aufschwung. Auch die zuvor viel kritisierte Berliner LINKE erhielt plötzlich aus allen Parteiflügeln Zuspruch für ihren Klassenkampf gegen die Berliner Immobilienwirtschaft.

Die Diskussion über Regierungsbeteiligungen hat sich allerdings inzwischen verschoben. Heute geht es bei der Frage, ob sich DIE LINKE an Regierungen beteiligen soll, weniger um Grundsatzentscheidungen, als um konkrete Inhalte. Die Fragen sind heute eher: Gelingt es tatsächlich, börsennotierte Immobilienkonzerne zu vergesellschaften? Wird der öffentliche Nahverkehr ausgebaut? Werden wirklich neue Lehrer*innen eingestellt? Die Antworten fallen nach wie vor unterschiedlich aus, und die Debatte ist nicht weniger kontrovers. Das aber muss in einer linken, demokratisch-sozialistischen Partei, für die Regieren kein Selbstzweck ist, auch notwendig so sein.

Den Streit um eine linke Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zu führen, ist allerdings nach der jüngsten Wahlniederlage in weite Ferne gerückt. Darüber dürfen auch die Regierungsbeteiligungen in den Bundesländern nicht hinwegtäuschen. Ob das irgendwann möglich sein wird, wird zudem nicht von den Landesverbänden entschieden, sondern in der Fraktion im Deutschen Bundestag und dem Karl-Liebknecht-Haus, der Parteizentrale. Denjenigen, die von der aktuellen Bundesregierung nicht vertreten werden, wäre es jedenfalls zu wünschen, dass DIE LINKE sich jetzt nicht verkriecht, sondern neu aufstellt und einen weiteren Anlauf startet. Denn eines steht fest: Wir können es besser!


[1] Vgl. hierzu das brandneue Buch von Harald Wolf: (Nicht)Regieren ist auch keine Lösung. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen, wenn Linke sich beteiligen, Hamburg: VSA, 2021; auch online verfügbar unter www.rosalux.de/publikation/id/45252/nichtregieren-ist-auch-keine-loesung.