Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Befürworten alle Ukrainer*innen einen NATO-Beitritt?

Volodymyr Ishchenko über nicht geführte Debatten in der Ukraine

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NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg (rechts) und der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyy während einer Pressekonferenz in Brüssel im Dezember 2021. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Olivier Matthys

Nach wochenlanger medialer Panikmache wegen einer angeblichen russischen Invasion in der Ukraine scheint sich der Konflikt nun auf dem Verhandlungsweg lösen zu lassen. Der öffentliche Diskurs über die aktuelle Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen birgt jedoch eine gewisse Ironie. Vordergründig jedenfalls scheint es um eine Garantie zu gehen, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt. Dabei ist seitens des Militärbündnisses gar keine Rede von einer Mitgliedschaft. Und auch die Ukrainer*innen lehnen einen Beitritt mehrheitlich ab.

Die Ukraine spielt bei den gegenseitigen Drohungen und Verhandlungen über ihre Zukunft keine bloß untergeordnete Rolle. In der Berichterstattung kommt aber eine typisch koloniale Haltung zum Ausdruck. Ukrainer*innen werden als homogene Gruppe dargestellt und die politische Vielfalt einer Nation von 40 Millionen Menschen wird ignoriert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj tweetete kürzlich: «Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine». Damit stellte er sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der über die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine offenbar im kleinen Kreis der Großmächte bestimmen will. Das Problem ist aber nicht nur, dass hier «ohne die Ukraine», sondern dass «stellvertretend für» ganz unterschiedliche Ukrainer*innen entschieden wird, als wären sie sich in allen kritischen Punkten einig.

Volodymyr Ishchenko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale und Protestbewegungen, die extreme Rechte und linke Politik sowie Nationalismus und die Zivilgesellschaft in der Ukraine.

Dieses strategische Vorgehen ergibt sich auch aus einer weitverbreiteten Interpretation der Euromaidan-Revolution. Demnach vereinten sich die Ukrainer*innen der unterschiedlichen Regionen, die im Zweiten Weltkrieg zu einem modernen Staat zusammengeschlossen wurden, erst durch die Revolution von 2014 wirklich zu einer bürgerlichen und inklusiven Nation. Sie hätten demnach in einer «zivilisatorischen Wahl» für eine westliche geopolitische Ausrichtung votiert und verteidigten diese nun gegen die russische Aggression, die die Ukraine in ihre Einflusssphäre zurückholen wolle. Der anschließende Krieg im Donbas wird primär als ein Krieg zwischen zwei Staaten dargestellt und nicht als eine direkte Fortsetzung des gewaltsamen inneren Konflikts, der in den letzten Tagen des Euromaidan noch vor der russischen Intervention begonnen hatte.

Der Euromaidan war nämlich keine gelungene Revolution. Er schuf keine nationale Einheit. Die Gruppen der Elite, die von den Entwicklungen ebenso profitierten wie die Ideolog*innen, müssen diese Illusion jedoch für ihre innere und äußere Legitimation aufrechterhalten. Dafür setzen sie auf Zensur und Unterdrückung. Es gibt also ein Interesse daran, alternative Ansichten zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ukraine als «unukrainisch» oder «anti-ukrainisch» darzustellen, obwohl viele (vielleicht sogar die meisten) Bürger*innen sie teilen. Manche Ukrainer*innen finden daher in der innenpolitischen und internationalen Öffentlichkeit immer weniger Gehör.

Die Ukraine ist nicht bloß zu einem Spielball der Großmächte geworden. Besonders demütigend ist, dass das Land für imperialistische Interessen herhalten muss, die sich als uneigennützig darstellen. Die hochtrabende Betonung der ukrainischen Souveränität steht im Kontrast zur Realität eines Staates, der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion politisch, ökonomisch und militärisch noch nie so abhängig war wie heute. Es ist wichtig, die Vielfalt der Ukraine anzuerkennen und über die Interessen der Ukrainer*innen zu sprechen, nicht nur um den Konflikt kurzfristig zu deeskalieren, sondern auch um eine nachhaltige Lösung für die Ukraine zu finden und Frieden in Europa zu schaffen.

Wollen die Ukrainer*innen in die NATO?

Russland fordert unumstößliche Garantien, dass die Ukraine und andere Staaten der ehemaligen UdSSR nicht der NATO beitreten und die NATO deren Territorien nicht für ihre militärische Expansion nutzt. Für gewöhnlich erwidern Vertreter*innen und Beobachter*innen aus dem Westen, dass darüber nicht Russland, sondern die NATO und die Ukraine zu entscheiden hätten. Viele westliche Kommentator*innen sind ganz versessen darauf, Putins Gedanken zu lesen: Wie würde er reagieren, wenn er mit einer Antwort auf seine Ultimaten nicht zufrieden ist? Dem stehen auf der anderen Seite Spekulationen entgegen, inwiefern Biden zu einem Abkommen mit Russland bereit ist. Was die Ukrainer*innen davon halten, interessiert die wenigsten. Wollen die Ukrainer*innen überhaupt in die NATO?

Die Neutralität der Ukraine, die den Beitritt zu jeglichen Militärbündnissen ausschließt, ist in den Gründungsurkunden des modernen ukrainischen Staats verankert, der Unabhängigkeitserklärung (verabschiedet am 16. Juli 1990) und der Verfassung (28. Juni 1996). Die Ukraine darf also keinem militärischen Block beitreten. Im Dezember 2007, kurz vor dem berüchtigten NATO-Gipfel in Bukarest, auf dem beschlossen wurde, dass die Ukraine und Georgien «der NATO beitreten werden», sprachen sich weniger als 20 Prozent der ukrainischen Bürger*innen für einen Beitritt aus. Die meisten wollten entweder ein militärisches Bündnis mit Russland eingehen oder die blockfreie Neutralität beibehalten.

Eine NATO-Mitgliedschaft forderte vor den turbulenten Ereignissen von 2014 nur eine kleine Minderheit. Nach Russlands Annexion der Krim und dem Kriegsausbruch im Donbas befürworteten etwa 40 Prozent einen NATO-Beitritt. Die meisten Ukrainer*innen waren aber immer noch nicht dafür.

Zwei Faktoren waren für diesen Wandel in der öffentlichen Meinung maßgeblich. Ukrainer*innen, die zuvor skeptisch gewesen waren, sahen in der NATO-Mitgliedschaft nun einen Schutz gegen weitere russische Kriegshandlungen. Ebenso entscheidend war aber, dass die Umfragen die russlandfreundlichsten Ukrainer*innen aus den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Territorien, der Krim und des Donbas, nicht mehr abbildeten. Millionen Ukrainer*innen hatten dadurch in der Öffentlichkeit des Landes effektiv keine Stimme mehr.

Ein Militärbündnis mit Russland stieß in der übrigen Ukraine seit 2014 auf deutlich weniger Zuspruch. Die meisten ehemaligen Russlandbefürworter*innen waren aber nicht auf einmal für die NATO, sondern sprachen sich gleichermaßen gegen beide Seiten und für eine neutrale Ukraine aus. Angesichts des siebenjährigen militärischen Konflikts, der meist (fälschlich) als Krieg gegen Russland dargestellt wird, erstaunt die weitgehende Zurückhaltung der Ukrainer*innen gegenüber der NATO.

Vor den Wahlen von 2019 drängte der damalige Präsident Petro Poroschenko auf eine Verfassungsänderung, um eine EU- und NATO-Mitgliedschaft zu ermöglichen. Damit konnte er die Schlappe gegen Selenskyj jedoch nicht verhindern.

Die Befürwortung eines NATO-Beitritts schwankt je nach Region. Eine stabile NATO-freundliche Mehrheit besteht nur im Westen des Landes. In der Zentralukraine gibt es eine eher NATO-freundliche Stimmung mit abweichenden Stimmen. In den östlichen und südlichen Regionen ist Neutralität beliebter, obwohl diese Gebiete im Fall einer tatsächlichen Invasion wohl am ehesten besetzt würden.

Da die Haltung zur NATO mit verschiedenen Vorstellungen einer ukrainischen Identität korreliert, spaltet diese Frage besonders stark. Viele Ukrainer*innen sehen die NATO als Schutz gegen Russland. Viele andere sind der Ansicht, dass eine NATO-Mitgliedschaft mit einer durch den Westen eingeschränkten Souveränität einhergehen werde. Sie meinen, dass dies bereits seit 2014 der Fall sei. Das gespannte Verhältnis zu Russland werde sich weiter verschärfen, der innere Konflikt eskalieren und das Land sich in einen der «ewigen» Kriege der USA verwickeln lassen. Dabei habe einer von diesen gerade erst in einer beschämenden Niederlage geendet.

Einiges spricht dafür, dass die Manöver des russischen Militärs im Frühjahr 2021 ein Erstarken der NATO-Befürworter*innen bewirken könnten. Ein mögliches Referendum könnte zugunsten des NATO-Beitritts ausgehen. Solche Prognosen lassen aber keine stichhaltigen Rückschlüsse auf die Präferenzen der ukrainischen Bevölkerung bezüglich der Sicherheitsstrategie zu, denn die Entscheidung würde auf ein bloßes «Ja» oder «Nein» verkürzt und Millionen Bürger*innen im Donbas und auf der Krim könnten nicht abstimmen, obwohl sie eine klare Meinung haben. Es bleibt ungewiss, wie es sich auf die öffentliche Meinung auswirkt, dass die USA im Fall eines russischen Angriffs auf den Einsatz von Truppen verzichten wollen. Auch der Einfluss potenzieller Kompromisse in den Verhandlungen mit Russland ist unklar.

Man sollte zwar Putins Forderung kritisieren, dass die Großmächte die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine unter sich ausmachen sollen. Gleichzeitig darf man aber auch nicht davon ausgehen, dass die Ukrainer*innen sich einen NATO-Beitritt wünschen. Sie sind bei weitem nicht geschlossen dafür. Die umstrittene Frage kann nur in einem politischen Prozess gelöst werden, in dem große Teile der andersdenkenden Ukrainer*innen nicht ignoriert und von vornherein als «Verräter*innen» oder «Erfüllungsgehilf*innen» der russischen Propaganda stigmatisiert werden, weil sie der NATO aus gutem Grund skeptisch gegenüberstehen.

Ausweg und weiteres Vorgehen

Die Opposition stellt eine große Minderheit, bisweilen sogar die Mehrheit der Ukrainer*innen, aber sie ist im Vergleich zu den nationalistischen und neoliberalen Strömungen der Zivilgesellschaft schlecht mobilisiert und organisiert. Letztere haben den Druck auf den geschwächten ukrainischen Staat erhöht, um ihre unpopulären Pläne umzusetzen. Auf die radikalen nationalistischen Maßnahmen unter Poroschenko folgten 2021 Selenskyjs Sanktionen und Einschüchterungsversuche gegen die Führungsfigur einer populären Oppositionspartei, mächtige Oligarch*innen und die meisten großen Oppositionsmedien. Trotz Menschenrechtsverletzungen kam es in der westlichen Öffentlichkeit nicht zu großen Reaktionen, anders als bei der Unterdrückung der Opposition in Russland und Belarus. Viele Beobachter*innen nahmen die bequeme sicherheitspolitische Erklärung hin, dass die Unterdrückung angeblich «russlandfreundlicher» Kräfte angesichts der äußeren Bedrohung unvermeidlich oder gar gerechtfertigt sei. Weitere Beschränkungen der politischen und öffentlichen Repräsentation eines großen Teils der ukrainischen Gesellschaft machen das Land aber nicht stärker. Sie schwächen und spalten es immer weiter.

Gemäß den Minsker Abkommen sollen die abtrünnigen Territorien im Donbas einen Sonderstatus erhalten. Das könnte entscheidend zu einer Lösung der Lage in der Ukraine beitragen. Die Vereinbarungen wurden nach einer Reihe von Niederlagen des ukrainischen Militärs zwischen 2014 und 2015 unterzeichnet, allerdings weitestgehend nicht umgesetzt. Sogar einige Befürworter*innen bezeichnen sie als einen «widerlichen Kompromiss» mit «Russland, das seine Bedingungen unter Waffeneinsatz erzwungen hat».

Es ist wichtig, die Minsker Abkommen nicht als Entsprechung von Putins Vorstellungen zu verstehen, sondern als potentiellen Weg zu einer demokratischeren und pluralistischeren Ukraine, die ihre eigene politische Vielfalt erkennt und akzeptiert. In diesem Prozess sind die Abkommen sowohl Mittel als auch Zweck. Sie setzen voraus, dass die Einwohner*innen des Donbas wieder einen legitimen Teil der ukrainischen Nation ausmachen. Meist hat dieser Teil der Bevölkerung zur Geschichte und zu jüngeren Ereignissen, zur Sprachpolitik und internationalen Bündnissen ganz andere Ansichten als die nationalistische Zivilgesellschaft, die beansprucht, für die Ukraine als solche zu sprechen, ihre Vielfalt jedoch nicht abbildet. Voraussetzung dafür wäre ein radikaler Wandel des seit dem Euromaidan herrschenden Diskurses und die Arbeit an einer inklusiveren nationalen Identität.

Außerdem stellen die Minsker Vereinbarungen durch die Rückkehr von Millionen Bürger*innen des Donbas in die ukrainische Gesellschaft das verlorene politische Gleichgewicht teilweise wieder her und schützen es institutionell. Die ukrainische Politik ist nämlich stark von den Einstellungen und Erwartungen der Bevölkerung abgewichen. Die Abkommen erfordern und ermöglichen so auch einen grundlegenden Dialog über die Zukunft der Ukraine.

Natürlich gibt es dabei Risiken. Die ukrainische Gesellschaft hat einen starken Wunsch nach Frieden. Bestimmte Klauseln des Sonderstatus im Donbas (etwa die Amnestie für Kämpfer*innen und die aus Separatist*innentruppen bestehende «Volksmiliz») sind daher unbeliebt. An der Mehrheitsmeinung scheitert die Umsetzung der Minsker Abkommen aber sicher nicht, denn sie war nie ein Hindernis der Kampagne für den NATO-Beitritt und noch unpopulärere nationalistische und neoliberale Maßnahmen. Obwohl die Minsker Vereinbarungen aus militärischen Niederlagen hervorgingen, stießen sie bei den meisten Ukrainer*innen nach der Unterzeichnung im Jahr 2015 auf Zustimmung. Die aktuelle Enttäuschung vieler Bürger*innen lässt sich hauptsächlich darauf zurückführen, dass es nur wenig Fortschritt auf dem Weg zum Frieden gegeben hat, nicht auf die Abkommen selbst.

Entscheidender war die ausdrückliche Gewaltandrohung der nationalistischen Zivilgesellschaft, die von einer Kapitulation sprach und Proteste gegen die Umsetzung der Vereinbarungen veranstaltete. Nur 26 Prozent der Bevölkerung teilten die Ansichten der Protestierenden, 41 Prozent sprachen sich eindeutig dagegen aus. Dennoch konnten sie die Implementierung von Minsk aufhalten, nachdem es infolge des erdrutschartigen Sieges Selenskyjs bei der Wahl von 2019 zuerst zu Fortschritten gekommen war.

Dabei «kapituliert» aber nicht die Ukraine, sondern ein ganz bestimmtes Projekt der Nationenbildung, in dem Russland die Rolle des «Anderen» in Abgrenzung zur eigenen nationalen Identität einnimmt. Heute haben viele jedoch ein Demokratieverständnis, das sich nicht damit vereinbaren lässt, die kulturelle und politische Vielfalt in der Ukraine an ein Leitbild anzupassen (wie es in den westlichen Nationen ab dem 19. Jahrhundert praktiziert wurde) – ebenso wenig wie eine Weltmachtpolitik aus dem «goldenen Zeitalter» des Imperialismus. Unter den aktuellen Umständen lässt sich das Projekt der Nationenbildung nicht durchführen, weil parallel dazu kein Modernisierungsprozess stattfindet. Heute kann man nicht mehr «aus Bäuer*innen Französ*innen machen», weil die Kommunistische Partei diese Aufgabe in der Ukraine bereits vor Jahrzehnten erledigt hat. Es überrascht daher nicht, dass es dem zutiefst antikommunistischen Projekt der ukrainischen Zivilgesellschaft nicht gelungen ist, die Nation zu einen, obwohl es in einer Generation drei Revolutionen und eine vermeintlich mobilisierende Bedrohung von außen gegeben hat. Bislang hat das Vorhaben der Nationenbildung die tiefe postsowjetische Krise der politischen Repräsentation nicht etwa gelöst, sondern vielmehr verschärft.

Eine andere, pluralistische Ukraine als souveräne Brücke zwischen Europa und Russland, die sich durch Synthese und Dialog entwickelt, ist sicher möglich. Die politische Vielfalt der Ukraine muss dafür aber anerkannt werden und es sind Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Dialog zwischen Ukrainer*innen mit gegensätzlichen Ansichten institutionell geschützt wird. Ob auch irgendjemand außer den Ukrainer*innen ein Interesse daran hat, steht auf einem anderen Blatt.

Übersetzung aus dem Englischen von André Hansen für Gegensatz Translation Collective. Der Artikel wurde zuerst im Englischen auf truthout.org veröffentlicht.