Nachricht | Osteuropa Proteste in Kiew

Was fordern die Impfgegner*innen wirklich?

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«Nein zur Impfung! Nein zur Impfung!»  Eine Gruppe von mehreren Personen hat sich von der Hauptkundgebung getrennt und bewegt sich in Richtung der Präsidialadministration. Die Teilnehmenden der ersten großen Kundgebung von Impfgegnern*innen in der Ukraine haben offensichtlich einen taktischen Plan zur Blockade des Regierungsviertels in Kiew. Sie agieren in Kleingruppen.

Aus den Fenstern der Busse, die auf der Straße vorbeifahren, winken die Menschen fröhlich der Kolonne zu. Trotz der frühen Stunde und des regnerischen Wetters kommen immer mehr Menschen im Zentrum der Hauptstadt an. Noch wenige Tage vor der Demonstration war die Frage, wie man ohne Impf-Zertifikat nach Kiew kommt, eines der wichtigsten Themen unter den Impfgegner*innen. Und obwohl sich später viele über die behördlichen Auflagen für die Demonstration beklagen und ihre eigenen Tipps zu deren Umgehung weitergeben, sind Menschen von außerhalb anscheinend deutlich in der Mehrzahl. «Kiew, steh auf!», skandieren alle und forderten zu aktiver Beteiligung auf.

«Die 'Diener des Volkes' [so heißt die regierende Partei des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj - Anm. d. Red.] sollen zu Fuß zur Arbeit gehen, um endlich zu sehen, wie das einfache Volk tatsächlich lebt», erklärt einer der Teilnehmer das Ziel der Aktion.

Die Gruppen bewegen sich in verschiedene Richtungen und blockieren den Verkehr auf den Straßen des Regierungsviertels.«Ihr blockiert die Straße, macht die Straße frei!» verlangt die Polizei. «Und Ihr? Lasst Ihr uns in die Metro?» entgegnet ein Demonstrant.

Ähnlich bei den Autofahrenden: «Lasst mich durch, ich muss zur Arbeit!» «Wir alle müssen zur Arbeit. Ich sollte jetzt bei der Arbeit sein, bin aber hierhergekommen, um für mich und für Sie zu kämpfen!» Einem Fahrzeug ist es gelungen, die Blockade zu umfahren, ein weiteres folgt. Die Absperrung ist durchbrochen und der Anführer der Gruppe befiehlt über ein Megaphon den Rückzug zum Parlament.

Völkermord, Experimente, Roboter

Die meisten Transparente auf der Kundgebung fordern, die verfassungsmäßigen Rechte der Menschen nicht zu verletzen und von der Impfpflicht abzusehen. Mit Erlass Nr. 2153 des Gesundheitsministeriums wurde bereits am 4. Oktober eine Liste von Berufen, Unternehmen und Einrichtungen festgelegt, deren Mitarbeiter*innen geimpft sein müssen. Diese Liste umfasst zahlreiche Regierungs- und Verwaltungsbehörden sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Personen mit medizinischem Attest müssen sich nicht impfen lassen, das scheint vielen Kundgebungsteilnehmer*innen jedoch nicht bekannt zu sein. «Alle bekommen den Stich, niemand fragt, ob man ihn bekommen darf oder nicht», sagt einer der Teilnehmer.     

Ein weiterer Slogan lautet «Nein zum Völkermord». Wie sich der Völkermord äußert? «In der Zwangsimpfung. Ohne sie darfst du nicht arbeiten, ohne sie dürfen die Kinder nicht in die Schule. Nicht nur die Grundrechte, alle Rechte werden verletzt», sagt ein Teilnehmer. Er hat keine Angst vor dem Corona-Virus, vertraut stattdessen lieber auf sein Immunsystem als auf den Impfstoff.

«Ist das etwa kein Völkermord?! Bringen sie uns damit denn nicht um?! Wir werden gezwungen, zu 100 Prozent geimpft zu sein. Ist das nicht die Vernichtung der Menschheit?! Sie wollen uns vernichten, wie sie es geplant haben», erklärt eine Teilnehmerin konfus die Bedeutung des Slogans. Sie ist aus Zaporizhia nach Kiew gekommen, dort habe man den Bus zweieinhalb Stunden nicht aus der Stadt abfahren lassen. Auf die Frage, wer das alles geplant habe, antwortet sie, die globalen Eliten. «Unsere Regierung, das sind nur Spielfiguren. Amerika und die reichen Onkels haben beschlossen, dass es zu viele von uns auf der Erde gibt.» Sie fordert von der Regierung die sofortige Abschaffung aller pandemiebedingten Einschränkungen sowie der Impfflicht. «Ich möchte mich frei bewegen. Ich bin ein menschliches Wesen auf dieser Erde. Ich habe alles Recht darauf. Ich gehe, wohin ich will, ohne Stempel, ohne Bescheinigungen oder Impfungen. Ich will nicht sterben und ich werde meine Mutter nicht freiwillig zur Euthanasie bringen. Und mein Kind auch nicht.» Das Virus selbst existiere zwar, so die Frau, aber es werde absichtlich verbreitet: «Es existiert, genau wie die Grippe. Aber sie verbreiten es absichtlich. Und vielleicht versprühen sie es gerade jetzt.»

Gespräche mit Teilnehmenden über die Verletzung der Grundrechte – Anlass der Demonstration – und die Ablehnung der Impfflicht enden fast immer bei globalen Fragen. Die derzeitigen Impfstoffe werden von den Demonstrierenden bestenfalls als experimentell und unzureichend erforscht angesehen. Im schlimmsten Fall sind es Mikrochips, die im Zusammenhang mit 5G stehen.

Auf vielen Protesten gegen die Maßnahmen ist zudem ein Mann namens Andrij häufig anzutreffen. Er hält ein Poster in der Hand, das ein weinendes Baby zeigt, in dessen Körper von allen Seiten Spritzen gestochen werden. «Nein zu medizinischen Experimenten.» lautet die Aufschrift auf seinem Plakat. «Das sind medizinische Experimente an Kindern und Menschen», erklärt er. Die Impfung sei ein Experiment. «Wer möchte, soll sich stechen, sich impfen lassen. Uns aber beschneiden sie in unseren Rechten, wir dürfen ohne die Bescheinigung weder mit dem Bus fahren noch ins Geschäft gehen. Und jetzt fangen sie auch bei unseren Kindern an. Niemand übernimmt die Verantwortung für diese Impfung. Wenn ein Kind oder ein Mensch stirbt, haben alle saubere Hände. Es ist unklar, was da drinnen ist, welche Brühe das ist.» Andrij wird aufgefordert, seinen Standort zu wechseln und vom Ministerkabinett zu einem anderen Fußgängerübergang zu gehen. Die Gruppe folgt ihm und seinem Plakat, er setzt das Gespräch im Gehen fort. «Im Moment traue ich keinem Impfstoff. Der Impfstoff muss 5 bis 7 Jahre lang getestet werden. Außerdem gibt es Daten darüber, dass Nanopartikel enthalten sind und der Mensch nach mehreren Dosen zum Roboter wird», sagt Andrij mittlerweile ein wenig ruhiger.

«Wir sollen keine Interviews geben», mischt sich ein Mann aus der Menge ein. Wahrscheinlich handelt es sich um einen der Organisatoren. «Warum reden Sie nicht mit denen, die den Impfstoff bekommen haben? Wir werden nichts sagen.» Andrij kommt schließlich darauf zurück, dass sie einzig und allein für die verfassungsmäßigen Rechte und gegen Diskriminierung eintreten.

Freiheit, Gleichheit, Antivax

Auf dem Vorplatz des Parlaments, von wo aus die Demonstration koordiniert wird, steht einsam ein junges Paar. Ihr Transparent mit der Aufschrift «Antivax», einem Davidstern in einer Spritze und einer Fahne mit einem durchgestrichenen Dollarzeichen erregt die Aufmerksamkeit der Passanten. Hier gehe es nicht um Antisemitismus, versichert der Demonstrant, das Plakat sei vielmehr eine antikapitalistische Botschaft: «Antivax und das Dollarzeichen, weil der Kapitalismus hinter allem steckt. Am Beispiel Chinas können wir sehen, dass das Coronavirus in zwei Wochen besiegt wurde, obwohl dort der Sozialismus mit dem Kapitalismus vermischt ist. Wir haben es jetzt schon über ein Jahr. Und der Davidstern besagt nicht, dass ich gegen Israel bin. Ich bin pro-israelisch. Er richtet sich gegen unseren Präsidenten. Er symbolisiert Selenskyj», erklärt Wolodymyr. Er sei auch nicht prinzipiell gegen die Impfung, lediglich gegen die Pflicht dazu. Sobald er 18 Jahre alt werde, wolle er sich impfen lassen. [Gegenwärtig ist die Impfung für Menschen unter 18 Jahren nicht verpflichtend. Anm. d. Red.] Ruslan, ein Mann mit weißem Bart, der sich gut auszudrücken versteht, erklärt seine Teilnahme mit seinem Kampf für die Freiheit. Es ist offensichtlich, dass Ruslan nicht zum ersten Mal an der Demonstration teilnimmt. Gemeinsam mit einem Freund trägt er ein Transparent mit Fotos der Helden der 'Himmlischen Hundertschaft'.  [Bei den Protesten auf dem Maidan im Winter 2014 wurden über 100 Menschen von Scharfschützen ermordet. Die Opfer werden als 'Himmlische Hundertschaft' bezeichnet. Anm. d. Red.] «Wir wollen uns daran erinnern, wie viele Menschen ihr Leben gelassen haben, damit wir freie Bürger unseres Landes sein können», erklärt Ruslan die Bedeutung des Banners.

Er spricht praktisch kaum über Impfstoffe und geht direkt zu sozialen Fragen über. «Ich möchte die Abgeordneten auffordern, die Verfassung der Ukraine zu achten. Unsere Verfassung ist eine soziale, die Art und Weise, wie die ukrainische Staatlichkeit jetzt ruiniert wird, löst Protest aus. Und wenn man genauer hinschaut, sieht man, wie sich der Lebensstandard rapide verschlechtert, während einige Milliarden einstecken und nicht wissen, wofür sie das Geld ausgeben sollen. Während es früher hieß, die Reichen kommen ins Gefängnis und die Oligarchie wird vernichtet, sehen wir jetzt, dass die einen einfach durch andere ersetzt wurden.»

Ruslan erklärt die Einschränkungen in verschiedenen Ländern mit dem Wunsch der Machthabenden auf der ganzen Welt, ihre Bevölkerungen strenger zu kontrollieren. Als Kriterium für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder die Entlassung könnte seiner Ansicht nach das Vorhandensein oder Fehlen von Antikörpern dienen, und nicht eine Impfbescheinigung. «Die Menschen haben begonnen, die Verfassung zu lesen. Sie kennen ihre Rechte. Wir haben eine sehr soziale Verfassung. Artikel 48 besagt, dass der Staat verpflichtet ist, einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Sowohl dem Präsidenten als auch dem kleinen Beamten. Tatsächlich aber plündern sie das Land. Und niemand stellt ihnen Fragen, also antworten sie auch nicht. Erst wenn wir beginnen zu fragen, wird sich etwas ändern.»

Ukraine GmbH - der Staat ist nur ein Unternehmen

Während die Impfgegner den Platz vor dem Parlament kontrollieren, geht es anderswo dramatischer zu. An einer Kreuzung hat eine Journalistin des TV-Senders UkrLive beim Versuch mit ihrem Auto aus der Blockade zu fahren, einen Mann touchiert. Der Streit artet schnell in Anschuldigungen aus. Journalist*innen würden die Menschen täuschen und stattdessen für die Impfung werben.

Eine weitere Demonstrantin arbeitet in einem Kindergarten. Irina hat einen schweren Verlauf einer Coronainfektion hinter sich, impfen lassen will sie sich dennoch nicht. Wenn sie nicht baldeinen Impfpass vorlege, werde sie vom Dienst suspendiert. «Warum tun sie das? Ist unsere Verfassung nicht mehr in Kraft? Wir haben Vorschriften, an die wir uns halten, Regelungen, die es nicht zulassen, dass wir erniedrigt oder entlassen werden. Das geschieht aber in der ganzen Ukraine. Bei uns haben sich viele impfen lassen, manche haben ein gefälschtes Impfzertifikat gekauft. Aber nicht, weil sie sich nicht impfen lassen wollten. Sondern aus Angst. Aus Angst um die Arbeit. Ohne Geld, ohne ein Stück Brot zu bleiben.»

Nach Ansicht von Labour Initiatives, einer Organisation, die sich für die Rechte Arbeitnehmender einsetzt, sei es rechtlich problematisch, Menschen zu entlassen, weil sie nicht gegen das Coronavirus geimpft sind. Schließlich verbietet Artikel 2 des Arbeitsgesetzes ausdrücklich die Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dies erklärte auch das Büro des Bevollmächtigten für Menschenrechte, als Ruslan Marzynkiw, der Bürgermeister von Iwano-Frankiwsk, die Impfpflicht der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ankündigte. Das Gesundheitsministerium der Ukraine rechtfertigt die Entscheidung mit dem Gesetz über den Schutz der Bevölkerung vor Infektionskrankheiten und den Empfehlungen der WHO. Viele Teilnehmende der Kundgebung trauen der WHO nicht.

«Wir haben überhaupt nichts zu verlieren», wirft eine ältere Frau, die extra aus dem Süden der Ukraine angereist ist, in das Gespräch ein. Ihr Name ist Marija Michajlowna und sie betreibt ein kleines Geschäft in einem Einkaufszentrum in Cherson. «Ich bin Geschäftsfrau und habe einen kleinen Kiosk, acht Quadratmeter. Ich bekomme 63 EUR Rente, bin auf mich allein gestellt. Ich arbeite dort bereits seit zwölf Jahren. Ich dachte, ich könnte wenigstens etwas Geld für die Heizung dazu verdienen. Aber jetzt ist alles geschlossen und man sagt mir, dass ich kein Recht habe zu arbeiten. Die, die in Cherson ein Impfzertifikat gekauft haben, können arbeiten. Andere verstecken sich. Ich kann das nicht und ich will kein Zertifikat kaufen. Das ist eine Frage des Prinzips. Ich werde nach Cherson fahren und beim Gedanken daran, dass ich mein ganzes Geld investiert habe, kommen mir die Tränen. Ich habe jetzt nichts mehr, um meine Heizkosten zu bezahlen.»

Viktorija, eine energische Frau, übernimmt die Leitung des Gesprächs. Heftig gestikulierend stellt sie ihre Sicht auf die Dinge dar. «Es gibt Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Ukraine nichts als eine Firma ist. Die Nationale Polizei und das Ministerkabinett sind nur eine Firma. Und wir alle sind Bürger dieses unsäglichen Betriebs.» «Bitte?» «Schaut euch die Dokumente einmal genau an, Leute! Das Parlament, die Werchowna Rada, das Gesetz über die Ökologie. Es ist sehr gut versteckt, das von Ex-Präsident Poroschenko unterzeichnete Dokument, in dem es heißt, dass die Ukraine an dem Experiment teilnehmen wird.» Sagt sie hitzig, doch das ist nicht alles. «Es gibt ein staatliches Archiv, ich kann nicht genau sagen, wie es heißt. Dort wurde angefragt, wie die Verfassung im Jahr 1991 verabschiedet wurde, wie die Republik Ukraine entstand. Als Antwort kam, dass es kein Dokument über die Gründung der ukrainischen Republik gibt. Die Ukraine ist eine Firma, die in Alaska registriert wurde! Wir haben Vormunde. Jede Person hat 15 davon. Und wir bekommen nur 16 Prozent unserer Rente ausgezahlt, der Rest geht an die Vormünder in Übersee. Und so weiter, und so fort. Aber auch wenn diese Informationen aus dem Internet entfernt werden, ist es unmöglich, die Wahrheit zu verbergen. Die Menschen beginnen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen,» schließt Viktorija.

Impfgegner oder Anti-Establishment?

Seit Beginn der ersten Restriktionen und des harten Lockdowns im Jahr 2020 haben die Anti-Covid19-Maßnahmen erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes und auf das Leben der Menschen. Eine Studie für das Jahr 2020 zeigt einen Anstieg der informellen Beschäftigung sowie eine Zunahme der Arbeitszeit. Weiter verschärft wird das Risiko eines Arbeitsplatzverlustes durch steigende Energiepreise und die drohende Gefahr einer Energiekrise. Hinzu kommt, dass viele Haushalte über keine nennenserten Ersparnisse verfügen, um eine mögliche Krise zu überstehen. Auch die Arbeitsmigration, die für Millionen Ukrainer*innen die wichtigste Einnahmequelle darstellt, ist seit einiger Zeit unterbrochen. Die Anti-Impf-Kundgebung ist nicht nur eine Versammlung von Verschwörungstheoretikern, obwohl es derer genug gibt. Die Proteste sind zu einem großen Teil auch auf die schlechte sozioökonomische Lage im Lande zurückzuführen, auf die Angst, das letzte Hemd zu verlieren und auf totales Misstrauen gegenüber dem Staat.

Unter diesen Umständen erscheint die Gefahr sich mit COVID-19 zu infizieren oder an der Krankheit zu sterben geringer, als die Gefahr arbeitslos zu werden.

Die Menschen in der Ukraine sind es nicht gewohnt, für soziale und wirtschaftliche Rechte auf die Straße zu gehen. Davon zeugen die halbherzigen Proteste gegen die Erhöhungen der Kommunaltarife, die Änderungen des Arbeitsrechts sowie die verschleppte Pensionsreform. Es gibt auch niemanden, der all diese Proteste bündeln oder organisieren würde. Es ist jedoch die massenhafte Unzufriedenheit mit der Regierung und ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik, die durch Verschwörungstheorien befeuert wird. Neben der Angst, die von den Verschwörungstheoretikern im Internet geschürt wird, treibt die Angst, unter dem Vorwand der Virusbekämpfung in die Enge getrieben zu werden und nie wieder aus der Armut herauszukommen, die Menschen auf die Straße.

Der Text wurde zuerst auf www.politkrytyka.org, einem Partner der RLS, veröffentlicht und von Susanne Macht übersetzt.