Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Die revolutionäre Zivilgesellschaft als oppositionelle Vorstellung

Das Potential der Erinnerung

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Selbstorganisierte Workshops von Frauen für Frauen in Süddamaskus. Bildrechte: Abdallah Alkhatib

Die Einnahme eines Großteils der Gebiete durch das syrische Regime, die bis 2018 unter der Kontrolle revolutionärer Kräfte standen, führte auch zur Zerstörung der über mehrere Jahre hinweg aufgebauten zivilgesellschaftlichen und alternativen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Es folgte die Rückkehr eines korrupten, klientelkapitalistischen Systems, in dem der Zugang zu technischer und sozialer Infrastruktur ein Privileg ist. Ein Blick auf die Erinnerung an diese oppositionelle Praxis der Selbstbestimmung trägt dazu bei, die Fragilität der Hegemonie des syrischen Regimes zu erfassen und zu verstehen, was in anderen Gebieten mit selbstorganisierten Strukturen im Norden Syriens noch zu gewinnen oder verlieren ist.

«Eine weise Führung, aber eine törichte Nation» – einer der häufigsten Slogans der syrischen Baath-Partei, den Syrer*innen tagein, tagaus seit Beginn der Herrschaft Hafiz al-Assads wiederholen müssen, fasst ungefähr zusammen, was aus Sicht des syrischen Regimes der politische Horizont der Bevölkerung sein soll: Menschen, die unfähig sind, sich selbst zu führen, «Angst um uns selbst, vor uns selbst». Gleichschaltung aller staatlichen und zivilen gesellschaftlich-politischen Institutionen wie der Gewerkschaften, der Frauenunion, der Bauernverbände, Bildungseinrichtungen etc. unter der Baath-Partei, haben zum Aufbau einer kulturellen Hegemonie geführt und für oppositionelle Kräfte wenig Handlungsspielraum gelassen. In diesem Kontext hat die revolutionäre Praxis der selbstverwalteten Gebiete in Südsyrien, Damaskus und Zentralsyrien bis 2018 (und in Nordsyrien bis heute) trotz ihrer scheinbaren Niederlage neue Referenzpunkte für alle Syrer*innen geschaffen. Deutlich wird dies auch in den Diskursen um die (syrische) Revolution als «[…] kein[em] einzelne[n] Akt; sie ist vielmehr kontinuierlich und handlungsgenerierend, das Produkt früherer Ereignisse

Abdallah Alkhatib ist ein palästinensisch-syrischer Menschenrechtsaktivist aus Yarmouk, Damaskus. Seit 2011 war er Teil der friedlichen Bewegung gegen das Assad-Regime. 2017 gründete er mit anderen Aktivist*innen den literarischen Blog «sard.network». Sard hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum für syrische Narrative zu Revolution, Vertreibung, Exil, Krieg zu schaffen und so am Aufbau und der Dokumentation eines syrischen kollektiven Gedächtnisses teilzuhaben. Seit Anfang 2019 lebt Abdallah in Deutschland. Sein Dokumentarfilm zur Belagerung von Yarmouk mit dem Titel «Little Palestine. Diary of a Siege» hatte im April 2021 Weltpremiere.

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

In Zeiten der wirtschaftlichen Krise in Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes, in der Tausende Menschen wohnen, die eine revolutionäre Alternative erlebt haben, spielt die oppositionelle Vorstellung der Selbstbestimmung immer noch eine Rolle und formt in den Köpfen vieler eine gegenhegemoniale Vorstellung. Diese Sichtweise stellt das Narrativ des Sieges des Regimes und der Niederlage der syrischen Revolution infrage.

Ein Blick zurück

Yalda, Babilla, Beit Sahem sind drei ländliche Gebiete in der Provinz Rif-Damaskus (Damaskus Land), die in der Zeit von 2013–2018 als politisch-geographische Entität Süddamaskus bekannt waren. Ab Juli 2013 hatte das syrische Regime dieses Gebiet, mit den angrenzenden Gebieten Yarmouk, al-Qadam, Tadamon, Hajar al-Aswad militärisch abgeriegelt. Um die Strukturen der Selbstorganisierung – die in den vom Regime befreiten Gebieten weder konflikt- noch widerspruchsfrei entstanden waren – zu zerstören, wurden die Gebiete einer Hungerblockade und massiver Gewalt durch Bombardierung ausgesetzt.

In den drei Orten mit circa 100.000 Einwohner*innen – einschließlich hunderter Binnengeflüchteter aus ganz Syrien – entstanden drei Lokale Räte, sechs Schulen, unzählige Organisationen und Initiativen, medizinische Infrastruktur mit kostenloser Versorgung, Jugendgruppen, Kollektive von Medienaktivist*innen, Kooperativen etc.

Sara (Pseudonym) ist syrische Palästinenserin, 31 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Sie hat die Belagerung von Süddamaskus als auch die Entwicklung der selbstorganisierten Strukturen miterlebt, war Teil davon. 2018, als circa 10.000 Personen die mit dem Euphemismus «Versöhnungsabkommen» bezeichnete Vereinbarung annahmen, ein durch Russland ausgehandeltes Angebot, Süddamaskus nach Nordsyrien zu verlassen, entschied sich Sara vor Ort zu bleiben.[1] Sie wollte nicht in den provisorischen Flüchtlingslagern im Norden Syriens im Ungewissen leben und nahm in Kauf, wieder unter der Kontrolle des Regimes zu leben – dem Feind, den sie kannte. Mit dem Abzug der oppositionellen Kräfte und dem Einzug des syrischen und russischen Militärs, verschwanden alle selbstorganisierten Strukturen: selbstbestimmte Schulen, kostenloser Wohnraum für Binnengeflüchtete, Krankenversorgung und politische Diskussionsrunden.

Dies hatte massive Auswirkungen auf die materielle und ideelle Realität der vor Ort Verbliebenen. Saras Kinder haben nun wieder baathistische Morgenappelle in der Schule. Sie hat Probleme, die Miete ihrer Wohnung zu bezahlen, und als ihr Sohn krank war, konnte sie ihn nicht ins Krankenhaus bringen.
In ganz Süddamaskus gibt es kein funktionierendes Krankenhaus mehr. Sie hätte ihn ins über 10 km entfernte Damaskus bringen müssen – in einer Zeit, in der aufgrund der wirtschaftlichen Krise Menschen sich den Weg zur Arbeit oft nicht mehr leisten können. Nach Abzug der Opposition hat das Assad-Regime auf Erniedrigung und die Herstellung von Prekarität gesetzt: Aktiv wurde die zuvor aufgebaute Infrastruktur abgebaut, um ein würdevolles Leben in ehemals von der Opposition gehaltenen Gebieten unmöglich zu machen. Die einzige Infrastruktur, die das Regime sofort (wieder) instand setzte, war sein ideologischer Machtapprat durch die Entsendung von Lehrer*innen aus Damaskus an die lokalen Schulen. Saras Leben ist nun von der Erfahrung eines Lebens in Würde und Freiheit, ohne Unterdrückung bestimmt – und dem Widerspruch zu ihrer alltäglichen Realität in »Assads Syrien«, geprägt durch Geheimdienst und Militär.

Dezentralisierung politischer Macht

Inzwischen wurde ausführlich über die Lokalen Räte geschrieben, die mit Beginn der Revolution zu Hunderten in Syrien entstanden waren, dabei stellen sie nur einen Aspekt von lokaler Selbstbestimmung dar. Lokale Räte, unabhängige Zeitungen, Bibliotheken, Schulen, Krankhäuser, Diskussionsgruppen, Theatergruppen, Selbstorganisation von Bäuer*innen und Bildungsinitiativen spiegeln die Dynamik in den vom Regime befreiten Gebieten von gesellschaftlicher Autonomie und radikaler Dezentralisierung von politischer Macht auf mikropolitischer Ebene wider. Akteure wie bewaffnete Fraktionen, aber auch traditionelle gesellschaftliche Notabeln, wie etwa die Sheikhs von Süddamaskus, die diese Selbstbestimmung infrage stellten, provozierten immer wieder Protest. Als das Jugendzentrum Watad, in dem Sara aktiv war, 2016 eine Schwimmschule für Mädchen einrichtete, gab es eine lautstarke Ablehnung seitens der lokalen Sheikhs. Als die lokalen Bildungsinitiativen, die nach dem Rückzug des Regimes die Schulen neu organisierten, geschlechtergemischten Unterricht einführten, hetzten die Sheikhs gegen sie in den Freitagspredigten. Das Fass zum Überlaufen brachten die Angebote für die Sommerferien: Es gab auf einmal etliche Initiativen, die den Kindern, die im konservativen Yalda gewohnt waren, die Sommer in den Moscheen zu verbringen, attraktive Sommer(bildungs)angebote machten. Aus Angst um ihre Autorität, versuchten die Sheikhs, die lokale Gesellschaft zu mobilisieren. Ihre gesellschaftliche Macht basierte darauf, dass sie die Kinder von klein auf beeinflussen konnten. Die selbstorganisierten Gruppen hatten allerdings so starken gesellschaftlichen Rückhalt, dass die Eltern in der Konfrontation mit den Sheikhs diese zum Schweigen brachten. In den drei Damaszener Vororten bestand Mikropolitik daraus, alle traditionellen Autoritäten zu brechen.

Selbstbestimmung als revolutionäre Praxis

Die Praxis der Revolution war eben dies: der Aufbau von medizinischer Infrastruktur, Schulen, kulturellen Einrichtungen, zivilgesellschaftlichen Zentren für Frauen etc.
Dabei gab es durchaus auch Menschen, die sich eher zufällig in den von der Opposition kontrollierten Gebieten wiederfanden. Auch sie profitierten von den Strukturen, standen ihnen aber ideologisch weder nahe, noch lehnten sie sie direkt ab.
Insbesondere die Schulen in Süddamaskus zeichneten sich durch eine revolutionäre Praxis aus. Hierbei ging es weniger um das Curriculum selbst, als um den Akt, Schulen von einem Ort der baathistischen Erziehung und der militärischen Morgenapelle in einen Ort des Lernens zu verwandeln. In Yarmouk, wo die Hamas nach 2013 eine Schule organisierte, protestierten Eltern, weil sie die Indoktrinierung ihrer Kinder ablehnten. Durch die Revolution war Widerspruch zur Alltagspraktik geworden. Die Praxis der Selbstorganisierung transformierte ganz wesentlich soziale und traditionelle Beziehungen.

Dies betraf auch den Gesundheitsbereich in Süddamaskus: Krankenhäuser waren für das Regime Orte der Ausübung von Biopolitiken gewesen, wie Ammar Issa [2], ein ehemaliger Arzt eines Feldkrankenhauses in Süddamaskus, erzählt. «Das Regime hatte viele Krankenhäuser in Geheimdienstbranchen umgewandelt. Es waren Orte der Kontrolle über den Körper: Verhaftungen, Überwachung, Verhöre. Zu Beginn der Revolution wurden Verletzte vom Geheimdienst aus den Krankenhäusern entführt. Unsere Feldkrankenhäuser waren zunächst Ergebnis der Notwendigkeit, Verletzte der Bombardierungen und Angriffe des Regimes zu versorgen. Wir haben sichere Orte geschaffen und somit mit der Biopolitik des Regimes gebrochen.» Für Sara bedeuteten die Krankenhäuser, dass sie würdevoll Zugang zu notwendiger Infrastruktur hatte: «Für mich ist das ein Aspekt von Freiheit.» Die Leitung der Feldkrankenhäuser wurde demokratisch gewählt und das Budget demokratisch auf die einzelnen Bereiche verteilt. In der Praxis der Selbstbestimmung ging es auch um Experimente von Organisierung jenseits des Staates. Als 2013 ein Arzt von der Freien Syrischen Armee verhaftet wurde, weil er des Atheismus bezichtigt wurde, streikte spontan das gesamte Krankenhauspersonal – die Macht der Waffen war somit nicht immer die stärkere!

Demonstration vor dem Palästina-Krankenhaus in Yarmouk.
  Bildrechte: Abdallah Alkhatib

Finanzierung der Strukturen

Ein Blick auf die finanziellen Strukturen verkompliziert das Bild. Gerade für den medizinischen Sektor gab es eine Abhängigkeit von Geldern von außerhalb Syriens. Teilweise wurden diese über syrische Organisationen, wie etwa die Syrian American Medical Society (SAMS) finanziert oder über andere ausländische Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs). Dennoch wird bei der Frage der Finanzierung der Blick zu oft ausschließlich auf die internationalen Geldgeber*innen gerichtet. Vernachlässigt werden dabei die depolitisierenden Aspekte internationaler (westlicher) Finanzierung auf politische Strukturen vor Ort sowie die Wege, auf denen es Strukturen gelang, sich finanziell unabhängig zu machen. Um ihr zivilgesellschaftliches Zentrum in Yalda aufrecht zu erhalten, verwandelte eine Gruppe von Aktivist*innen einen verwahrlosten Innenhof einer Schule in ein Sportstadion. Dieses wiederum wurde an andere lokale Organisationen vermietet. Hierüber finanzierten sie einen Großteil ihrer Community-Aktivitäten und sicherten das Einkommen von mehreren Dutzend Familien. Hierarchiearme, flache administrative Strukturen der Graswurzeldemokratie wie etwa im Feldkrankenhaus, wo Ammar Issa aktiv war, führten zudem dazu, dass keine Gelder in einem aufgeblasenen bürokratischen Verwaltungsapparat verschwanden.

Das Stadion in Süddamaskus wurde als öffentlicher Raum genutzt. Bildrechte: Abdallah Alkhatib

Würde, Protest und Ablehnung

Die Freiheit zu gestalten und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, war maßgeblich mit dem Aspekt der Würde für alle involvierten Akteur*innen in dieser Phase der Selbstregierung verbunden. Es gab Raum, gegen Entwicklungen, die Menschen nicht passten, zu protestieren. Die Auseinandersetzungen mit den lokalen Sheikhs oder der Hamas in Süddamaskus zeigen, wie sich die lokale Gesellschaft durch diese Form der Selbstbestimmung auch von anderen gesellschaftlichen Autoritäten emanzipieren konnte. Es zeigt aber auch, dass diese Entwicklungen nicht ohne Konflikte und Widersprüche stattfanden. Selbst in der Situation der Belagerung und trotz bewaffneter Kräfte, war dies ein Prozess, der ausgehandelt werden musste.

2018: Wenn das Materielle ideell wird

Als ungefähr 10.000 Personen der Opposition, unter ihnen u.a. Aktivist*innen, Bewaffnete, medizinisches Personal und Lehrer*innen der Selbstverwaltungsstrukturen im Mai 2018 unter russischer Vermittlung Süddamaskus verließen, blieb die physische Infrastruktur ihres Experiments zunächst zurück. Die Gebäude, die nicht sofort von der nun einziehenden russischen Armee als Militärstützpunkte (u.a. auch das Sportstadion) genutzt wurden, wurden, anstatt vom Regime umfunktioniert zu werden, geplündert. In den Wochen nach dem Einmarsch hielt der Zustand des «ta´feesh», der syrische Ausdruck für die Plünderung durch das Regime, welche selbst vor den Stromleitungen und Steckdosen nicht Halt machte, an. Das Regime vernichtete also jegliche physische Präsenz der selbstbestimmten Strukturen und kommunizierte damit, dass diese keine Legitimität in der neuen alten Ordnung haben und überschreibt gleichzeitig die Spuren der Revolution durch die der Zerstörung. Nicht nur soll verhindert werden, über Dienstleistungen oder Infrastruktur eine Klientel in den ehemaligen Oppositionsgebieten zu bedienen, die Bevölkerung soll zudem für ihre Abtrünnigkeit bestraft werden.
Trotz dieser Gewalt – die Erfahrung der Selbstermächtigung kann den Menschen, die sie erlebt und mitgestaltet haben, nicht genommen werden. Nach der Erfahrung revolutionärer Selbstbestimmung, wie etwa bei Sara, kann das Regime keine Hegemonie mehr durch seinen ideellen Staatsapparat erzwingen, sondern ausschließlich durch die Nutzung von Repression, wie es seit 2011 deutlich bewiesen hat. Auch wenn das Regime heute weite Teile des Landes wieder militärisch kontrolliert, ist die syrische Revolution als Instrument der Selbstermächtigung der Riss in seiner Macht, der nicht zu kitten ist. Die immer noch bestehenden Strukturen der Selbstorganisierung in ganz Nordsyrien sind der materielle Beweis dafür. Der ideelle Beweis sind die immer wieder aufflammenden Proteste in den von Regime kontrollierten Gebieten wie Suwaida, regimekritisches Graffiti in Damaskus sowie Saras Weigerung, das »Spektakel« des Regimes mitzumachen.


[1] Persönliche Gespräche am 30.11.2021 und 15.12.2021 über WhatsApp.

[2] Interview in Berlin, 17.12.2021.