Ich bin sicher, dass das, was wir getan haben, in 20 Jahren kein positives Feedback bekommen wird, wenn die Rentner*innen erkennen, was wir getan haben.
Göran Persson, Chef der Sozialdemokraten und Ministerpräsident von Schweden, in seiner bekannten überschwänglichen Offenheit während eines Besuchs in Australien 2005.
Nur sechs Jahre nach der Einführung des neuen schwedischen Rentensystems war sich der Chef der größten Partei hinter der Reform bereits sicher, dass sich daraus ein allgemeines Elend für all jene ergeben würde, die sich nach einem langen Arbeitsleben darauf verlassen hatten, versorgt zu werden.
Das bisherige System, bekannt als «allmän tilläggspension» bzw. ATP, war in vielerlei Hinsicht die Krönung der langen Ära sozialdemokratischer Herrschaft in Schweden. Zwar waren nicht alle Versprechen in die Tat umgesetzt worden, aber zumindest das: Niemand musste im Alter Armut erleiden.
Inzwischen ist das nicht mehr der Fall.
Eine Rekapitulation
Die erste wirklich universelle schwedische Rente wurde 1948 in Kraft gesetzt. Vorher gab es bereits seit 1903 ein anderes System, es wies jedoch Schwächen auf und bot nicht wirklich allen Bürger*innen die vorgesehene Rente.
1948 wurde das Rentensystem dann auf alle Bürger*innen ausgeweitet und eine einheitliche Grundrente ausgezahlt. Bettler und Könige, hieß es, erhielten nun dieselbe Rente. Im Durchschnitt verdreifachten sich durch die Reform die ausgezahlten Rentenleistungen.
Erweitert wurde das Rentenmodell dann durch das sogenannte ATP-System. Der Staat garantierte, dass die Rentenleistung 65 Prozent des Nettolohns betrug. Obwohl weniger egalitär als das Rentensystem von 1948, wurde das ATP-System von den linken und sozialdemokratischen Parteien in einer intensiven Auseinandersetzung mit den rechten Parteien damals mit nur einer Stimme Mehrheit durch den Riksdag gebracht.
Tor Gasslander ist Chefredakteur der sozialistischen Zeitschrift «Flamman» in Schweden
Die politische Rechte, die ein rein privates System wollte, in dem Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen sich ohne Einmischung des Staatsapparats auf eine Rente einigen sollten, behauptete immer wieder, dass ATP das Symbol für all das sei, was im schwedischen Wohlfahrtsstaat falsch liefe. Die Sozialdemokrat*innen feierten es hingegen als Paradebeispiel für die Errungenschaften ihrer langen Regierungszeit.
Das System war einfach: Wenn man 30 Jahre gearbeitet hatte, erhielt man mit 65 Jahren mindestens 65 Prozent des höchsten durchschnittlichen Jahresgehalts. Zur Berechnung herangezogen wurden dafür nur die 15 Jahre mit den höchsten erzielten Einkommen. Das schwedische Rentensystem galt damit als eines der großzügigsten in der Geschichte. Es wurde jedoch in einer Zeit beispiellosen Wirtschaftswachstums konzipiert. Und als sich das Wachstum verlangsamte, fingen in den Parteien auch die einst stolzesten Verteidiger*innen an unruhig zu werden und mit anderen, weniger kostspieligen Rentensystemen zu liebäugeln.
Die Entstehung der schwedischen Aktienrente
Die heutigen Regelungen wurden 1999 nach einer schweren Wirtschaftskrise eingeführt, als in allen Ländern des globalen Norden neoliberale Reformen durchgesetzt wurden. Nur die Linkspartei (Vänsterpartiet) stimmte gegen die Reform.
Bis heute ist das System weitgehend unverändert geblieben und besteht - im Bereich der öffentlichen Altersvorsorge - aus drei Elementen: Einer umlagefinanzierten sogenannten „Einkommensrente“, einer obligatorischen und ebenfalls einkommensabhängigen, kapitalgedeckten „Prämienrente“ sowie einer durch Steuermitteln finanzierten „Garantierente“. Neben diesen drei Elementen in der ersten Säule des Systems gibt es zudem noch die zweite und dritte Säule: Betriebsrenten sowie die private Altersvorsorge.
Die Einkommensrente basiert auf dem individuellen Einkommen, das der/die Empfänger*in im Laufe des Arbeitslebens erzielt. Anders als im alten ATP-System werden zur Berechnung der Rente nun die entgeltbezogenen Einkünfte des gesamten Arbeitslebens herangezogen. Der Beitragssatz zur Einkommensrente liegt bei insgesamt 16 Prozent des Bruttolohns. Für die kapitalgedeckte Prämienrente müssen zusätzlich 2,5 Prozent des Einkommens verpflichtend in mindestens einen von über 500 Fonds eingezahlt werden[1]. Die kombinierte Auszahlung aus diesen beiden Systeme wächst langsamer als der Durchschnittslohn, was bedeutet, dass selbst die besser gestellten Rentner*innen relativ gesehen immer ärmer werden.
Der dritte Teil ist die Garantierente, die direkt aus dem Staatshaushalt finanziert wird. Man erhält sie, wenn die Leistungen aus der Einkommens- und Prämienrente zu niedrig sind. Die Garantierente beläuft sich auf maximal rund 800 Euro im Monat, knapp ein Viertel des schwedischen Durchschnittslohns. Obwohl viele ältere Menschen, die gezwungen sind, nur von dieser Rente zu leben, Mietzuschüsse erhalten, stehen diese Rentner*innen damit am absolut untersten Ende der Einkommenspyramide. Seit 20 Jahren steigt die Armut in der älteren Bevölkerung im Land an. Rund 15 Prozent der Rentner*innen - etwa 300.000 Personen - gelten derzeit offiziell als arm. Etwa jede/r Zehnte davon hat Schwierigkeiten, sich auch nur das Notwendigste zum Überleben zu kaufen.
Die harschen Einschnitte im Vergleich zum alten ATP-System werden deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass der höchste Satz der Garantierente zusammen mit den Mietzuschüssen nur knapp ein Drittel des schwedischen Durchschnittslohns beträgt. Damit bekommen die ärmsten Rennter*innen nur noch die Hälfte dessen, was als niedrigster Betrag im alten Rentensystem ausgezahlt wurde.
Das neue System garantiert Rentner*innen keinerlei Leistungszusage irgendeiner Art, etwa für ein auskömmliches Rentenniveau, es basiert vielmehr nur darauf, dass den aktiv Beschäftigten eine Beitragszusage gemacht wird, das heißt, dass Beiträge nicht über einen bestimmten Satz angehoben werden. Dazu kommt, dass diejenigen mit höheren Löhnen nur einen kleineren Teiles ihres Einkommens zur Rente beisteuern. Die Beitragsbemessungsgrenze liegt derzeit bei etwa 4.500 Euro brutto im Monat.
Das schwedische Rentensystem beinhaltet zudem einige automatisch greifende Mechanismen mit weitreichender Wirkung: Im Falle einer Wirtschaftskrise wird eine automatische Bremse aktiviert, die die Rentenauszahlungen umgehend senkt. Das ist seit Einführung des Systems bereits mehrfach passiert. Das System ist so strukturiert, dass nie mehr Geld ausgezahlt wird als eingeht. Die Berechnung der Rentenhöhe ist zudem vollständig an die durchschnittliche Lebenserwartung gekoppelt. Steigt diese an, fallen die Renten automatisch geringer aus.
Die Ungerechtigkeiten des Systems
Viele Schwed*innen, nach offiziellen Zahlen etwa neun von zehn, konnten mit Hilfe ihrer Gewerkschaft eine Betriebsrente verhandeln. Für die meisten Menschen ist dies - abgesehen von persönlichen Ersparnissen - der einzige Weg, um ihren Lebensstandard nach Renteneintritt halbwegs aufrechtzuerhalten. Das aber unterstreicht die große Ungleichheit des Systems. Beschäftigte, die gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt in Berufen zu verdienen, in denen Gewerkschaften nur schwach oder nicht existent sind, haben unter Umständen keine Chance auf diesen wichtigen Teil der Rente. Wie immer, trifft dies marginalisierte Gesellschaftsgruppen am härtesten.
Außerdem sind prekäre Jobs generell mit weniger stabilem Einkommen verbunden – und entsprechend auch mit niedrigeren staatlichen Renten. Frauen, die weniger verdienen und aufgrund von Kinderbetreuung mehr zu Hause bleiben als Männer, werden dabei zusätzlich benachteiligt. Aus Daten des nationalen Statistikbüros von Schweden geht hervor, dass Frauen ein doppelt so hohes Risiko haben wie Männer, nach dem Berufsleben zu verarmen. Sie erhalten deutlich niedrigere Renten als Männer (im Schnitt liegen ihre Renten nur bei 70 Prozent der Altersrenten von Männern), was das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern während der Rente und bis zum Tod aufrechterhält.
Menschen, die aus Staaten außerhalb der EU nach Schweden immigriert sind, sind jedoch am härtesten betroffen. Da die ausgezahlte Rente nur auf den in Schweden verdienten Löhnen basiert, verlieren viele von ihnen große Teile ihrer Einkommens- und Prämienrenten im Vergleich zu in Schweden geborenen Beschäftigten. Dieser Verlust an Renteneinkommen kann oft nicht durch Leistungen aus einem früheren Wohnsitzland ersetzt werden, kommen die meisten Geflüchteten kaum aus großzügigen Wohlfahrtsstaaten.
Besonders schwer wiegt, dass man für den vollen Anspruch auf die Garantierente 40 Jahre im Land gelebt haben muss. Für jedes nicht vorhandene Jahr, werden 1/40 der gesamten Auszahlung abgezogen. Das bedeutet, dass Geflüchtete, die nach ihrem 25. Lebensjahr nach Schweden gekommen sind und bis zum Renteneintritt mit 65 Jahren keine 40 Jahre in Schweden arbeiten, noch weniger als die erwähnten rund 800 Euro im Monat erhalten.
Das treibt die soziale Spaltung weiter voran. Männer und Frauen, die nur auf Grund der Tatsache, dass sie in einem anderem Land geboren wurden, etwa nur die Hälfte der Rente bekommen, die ihre schwedischen Nachbar*innen erhalten, werden so zu Bürger*innen zweiter Klasse degradiert.
Und obwohl jede*r verantwortliche Politiker*in ernst nicken wird, wenn diese Beschwerden vorgebracht werden (Rentner*innen sind eine bedeutende Wählergruppe), wird sich das Rentensystem wahrscheinlich nicht ändern.
Undurchschaubares Vorgehen
In der Tat war es dafür auch gar nicht konzipiert. Viele Analyst*innen, Forscher*innen und Journalist*innen haben das schwedische Rentensystem als «Black Box» bezeichnet, als eine Maschine, deren Innenleben unverständlich oder unsichtbar ist.
Wie die Köpfe dahinter viele Male erfreut zugegeben haben, ist das Geniale am System, hier mal dahingestellt, ob man diese Genialität als gut oder schlecht ansieht, seine geschlossene, automatisierte Struktur. Die Höhe der Auszahlungen ist das Ergebnis mathematischer Berechnungen und von Marktbewegungen, nicht politischer Entscheidungen oder eines Gerechtigkeitsverständnisses. Bemerkenswert ist, dass das System zwischen den Wahlen abgestimmt wurde. So war das Thema der Rente vermutlich kein entscheidendes Wahlkriterium und die politischen Parteien mussten den Wähler*innen auch keine direkte Rede und Antwort stehen.Aus verschiedenen Interviews mit den verantwortlichen Politiker*innen geht hervor, dass niemand das Thema Rente politisieren wollte. Man muss davon ausgehen, dass sie alle wussten, wie es der oben zitierte Göran Persson tat, dass ihre Lösung nicht gut ankommen würde, sobald der volle Umfang deutlich werden würde.
Wenn Politiker*innen heute auf die niedrigen Renten angesprochen werden, dann antworten sie gerne, dass ihnen die Hände gebunden seien. Das stimmt in gewisser Weise sogar.
Als fünf Parteien, darunter die Sozialdemokraten, in den 1990er-Jahren das Rentensystem reformierten, verlagerten sie die Verantwortung, zusammen mit allen wirtschaftlichen Risiken, vom Staat auf die Bürger*innen. Der Lohn bildet die Grundlage der Rentenberechnung und für einen weiteren Teil der Altersabsicherung müssen die Menschen selbst zu Akteur*innen der Finanzwelt werden. Sie sollen entscheiden, in welche Fonds ihre Gelder investiert werden. Ist die Auszahlung nicht hoch genug, liegt die Schuld bei ihnen selbst.
Natürlich ist fraglich, ob die richtige Investitionsentscheidung überhaupt wahrscheinlich oder möglich ist. Kann wirklich jede*r Bürger*in eine fundierte Entscheidung darüber treffen, in welche Fonds er oder sie das Geld investieren soll? Wie Börsen funktionieren, ist nicht Gegenstand dieses Artikels, aber klar ist, selbst die kompetentesten Broker*innen sind Spieler*innen, die mit Geld, das nicht ihnen gehört, an krisenanfälligen Finanzmärkten pokern.
Statistiken belegen offensichtlich, dass der oder die durchschnittliche Schwed*in zumindest dem ersten Teil dieser Bewertung zustimmt. Immer weniger Menschen treffen nämlich eine aktive Entscheidung in Bezug auf die Fonds, in die sie für die Rente ihr Geld anlegen sollen. 2019 etwa hatte nur ein Prozent der Menschen, die das Rentenalter erreicht hatten, aktiv eine solche Entscheidung getroffen.
Glücklicherweise hat bisher AP7, der staatliche Fonds, der als Standardoption fungiert, höhere Renditen erzielt als die anderen Fonds, in die die erwähnten ein Prozent ihre Gelder angelegt haben. Das aber ist für die Zukunft alles andere als sicher.
Der finanzialisierte Teil des Rentensystems hat auch einen Markt für eine Vielzahl von Betrüger*innen eröffnet. Die Regierung senkt derzeit die Zahl der verfügbaren Fonds um die Hälfte und weist auf das Problem hin, dass einige Fonds «nicht seriös» seien. Diese Fonds verwalten seit fast 20 Jahren das Rentengeld der schwedischen Bürger*innen. Gleichzeitig wurden die Chefs des Pensionsfonds Allra zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie Anleger*innen um Millionen Euro betrogen haben. Zwar wurden die Sportwagen und Luxusvillen der Täter*innen von den Behörden beschlagnahmt, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass die Betroffenen jemals ihr Geld zurückbekommen.
Die Rente als Druckmittel der Wirtschaft
Die Rentenpläne des gesamten Landes sind jetzt explizit an den Markt gebunden. Dies hat nicht nur eine Nation unfreiwilliger Börsianer*innen geschaffen und die Verantwortung für die Renten verlagert, sondern auch dafür gesorgt, dass das Wachstum der Wirtschaft zu einem persönlichen wirtschaftlichen Interesse geworden ist – andernfalls könnten Schwed*innen Teile ihrer sozialen Absicherung verlieren. Jede Politik, die den Markt stören könnte, läuft jetzt auch Gefahr, das Rentensystem zu stören.
Eine Partei, die beispielsweise die Anstrengungen zur Rettung des Klimas verstärken, die Kontrolle über die Schulen und das Gesundheitssystem von privaten Unternehmen zurückerobern oder sogar einen Lockdown während einer Pandemie durchsetzen möchte, sähe sich nicht nur mit den bereits erheblichen Widerständen gegen eine solche Politik konfrontiert. Sie müsste sich auch dem Risiko stellen, die Rente Tausender zu ruinieren.
Die Sozialanthropologin Annette Nygren brachte es so auf den Punkt: «Es ist nicht die Loyalität zu einem Kaiser oder Arbeitgeber, die das Rentensystem sicherstellen soll, sondern das Streben nach allgemeinem und individuellem wirtschaftlichem Wachstum, und politische Unterschiede spielen darin keine Rolle mehr.»
Neueste Entwicklungen
Im vergangenen Jahr gab es zwei kleinere Reformen. Eine Steuersenkung auf Renten wurde durchgesetzt sowie eine notwendige aber nur minimale Erhöhung der Leistungen für die ärmsten Rentner*innen. Letzteres war nur möglich, weil die Linkspartei ihre Position in einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse nutzte. Die Sozialdemokrat*innen waren auf die Stimmen der Linkspartei angewiesen, um in eine Regierungsbildung eintreten zu können, im Gegenzug verlangte die Linkspartei die Durchsetzung der Rentenreform.
Diese Reformen stellen aber keine Änderung am eigentlichen Rentensystem und seiner Logik dar. So wurden etwa die erhöhten Leistungen als eine direkte Auszahlung on top auf die Leistungen aus dem bestehenden System organisiert. Daran sieht man: Wenn Politiker*innen Änderungen vornehmen, umgehen sie die eigentliche Rentenmaschine bzw. arbeiten nicht direkt an ihren Logiken.
Zwanzig Jahre nach Einführung des neuen Rentensystems hat sich gezeigt, dass es nicht nur weniger auszahlt als das vorherige und bemerkenswert schwer zu verändern ist, sondern eine Art eigene politische Kraft ausübt. Es verringert die Chancen mögliche Alternativen umzusetzen, lässt den Menschen weniger Wahlmöglichkeiten und trägt offenbar dazu bei, das Land an einen Pfad des Neoliberalismus zu ketten.
Mit anderen Worten: Es funktioniert genau wie beabsichtigt.
[1]Von diesen insgesamt 18,5 Prozent tragen die Beschäftigen 7,4 und die Unternehmen 11,1 Prozent.