Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Krieg in der Ukraine: Die Stille

Wenn plötzlich die Trommeln der Kanonen schweigen: Die ukrainische Übersetzerin Nelia Vakhovska schreibt von ihrer unerträglichen Hoffnung. Sie lebt auf einmal mitten im Krieg.

Information

Autorin

Nelia Vakhovska,

Foto: Nelia Vakhovska

Eine Woche Krieg. Ich erwachte aus schlechtem Schlaf, etwas war falsch. Eigentlich richtig, wie es zu diesem abgelegenen Dörfchen gehörte: Es war still. Leichter Märzschnee behübschte immergrüne Kiefern, alles sah morgendlich graublau und nass aus, für den Moment ziemlich zauberhaft. Die Kanonen schwiegen. Internet war da. Die Welt schien wieder in Ordnung zu sein, und ich überlegte mir noch ein wenig zu pennen, da stach es: Die Medikamente sind in Kyjiw geblieben, und der Katze geht es auch nicht gut. Das war der Preis, um den ich mich überredet habe, die Stadt zu verlassen: «Es kann ja nicht lange dauern, in drei, vier Tagen kommst du zurück.»

Nelia Vakhovska (*1980) arbeitet als Programmmanagerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Kiew und Übersetzer*in unter anderem von Josef Winkler, Martin Pollack und Arno Schmidt.

Das ist jetzt eine Woche her. Wir reden von einem Stellungskrieg. Die Welt applaudiert uns und schüttelt die Köpfe, aber hier, einige Dutzend Kilometer von mir, stehen junge Männer mit alten sowjetischen Kanonen und schießen Tag und Nacht auf die Panzer des Feindes, die sich Richtung Westen bewegen. Bislang kamen fast jede Nacht die Flieger angeflogen, unter ihren Bomben zitterten der Wald, die Erde, das Haus. Danach war Geklapper von Getrieben zu hören – die verbliebenen Kanonen wurden woandershin gebracht. Und wieder ertönte, wie von riesigen Trommeln, das ferne Buh-Buh-Buh. Nur heute nicht. Mir geht alles auf einmal durch den Kopf: Wurden sie zerstört, muss ich auf die russischen Panzer warten? Ist der Krieg plötzlich zu Ende? Waren die Verhandlungen erfolgreich?

Und in diesem Moment der Stille zerbreche ich regelrecht und heule wie ein Kind, um alle, die wir verloren haben ...

Die Hoffnung ist schlimm. Wenn ich die Nachrichten lese, mir fürchterliche Bilder der Bombenangriffe auf Butscha oder Charkiw anschaue, mir Sorgen um die in Kyjiw verbliebenen Freunde mache, will ich nur eines – den Worten der ukrainischen Armeeführung glauben, dass wir es schaffen, wir überleben und gewinnen werden. Denn es ist unser Land. Das will ich hoffen, trotz meines Verständnisses, dass unsere Verluste offensichtlich kleingeredet werden, dass Uncle Joe uns zwar bewundert, aber nicht in Schutz nimmt, dass der Atomkrieg nicht ausgeschlossen wird …

Diese Hoffnung ist unerträglich. Und in diesem Moment der Stille zerbreche ich regelrecht und heule wie ein Kind, um alle, die wir verloren haben; um die Stadt, um die ich so fürchte, um meine Blumen auf dem Balkon, und diese Männer und Frauen da in den Wäldern, so klein und zerbrechlich gegenüber dem Monster des Krieges.

Sieben Tage lang habe ich verbracht voll Wut und Hass gegen die Okkupanten, deren Anführer sich nicht mal die Mühe gegeben hat, einen Vorwand für den Angriff auszudenken. Gegen westliche Politiker, die Besorgnisse äußerten und uns mit Waffen belieferten, statt Waffenstillstand auf allen möglichen Wegen zu verhandeln. Gegen die westlichen Linken, die uns von ihren sanften Sofas heraus Militarismus vorwarfen und sich um die «einfachen Russen» sorgten, denen die Sanktionen das Leben verschlimmern könnten. Genau die Russen, die ihren Präsidenten für seinen Machismus bewunderten und schadenfreudig über die «Banderowzy»* und «Chochly»** in sozialen Netzwerken berichteten. Die einen Autokraten immer wieder gewählt haben. Wenn mein Staat viel zu viele Kredite aufnimmt, werde ich als «Normalbürgerin» von der Schuldenlast nicht befreit. Wenn ihr Staat die Nachbaren überfällt, sollen die Bürger von den Folgen verschont bleiben? Warum sind harte Sanktionen erst jetzt gekommen, und nicht vor acht Jahren? Vielleicht hätte der Irre im Kreml bereits verstanden, dass selbst sein Übermut Grenzen haben muss?

Langsam wird es in meinem Dörfchen dunkel. In meiner Einbildung kommt mir Kyjiw wie ein kluges Lebewesen vor. Es horcht an beiden Ufern des Dnipro, bereit, nach den Gefahren in die Luft zu greifen und seine Wunden wegzulecken. Ich wünsche ihm Kraft und eine möglichst ruhige Nacht. Meine Nachbarn hier und ich, wir alle trauen uns nicht, abends Licht anzumachen, wir haben Angst. Hinter dem Wald ertönt wieder das ferne Buh-buh, der Russe kommt mit seinen Bomben von oben, und ich denke an einen Ausdruck auf Ukrainisch – прихилити небо, den Himmel näherbringen. Es wird meistens in Konjunktiv gebraucht, um die Intensität der Liebe und Fürsorge zu zeigen: meinem Kind oder Geliebten würde ich sogar den Himmel näherbringen, wenn ich nur könnte. Ich wünsche mir, es würde die Leute im Walde schützen. Uns alle. Wenn ich das nur könnte…

Die Explosionen sind ein gutesMittel gegen Demut. Sie lassen dich zusammenzucken. Die Hoffnungen sind weg, die Tränen auch. Wenn mein Vater anruft, klingt meine Stimme wie gewöhnlich: «Hier? Alles in Ordnung. Es wird weiter geschossen».

*«Banderowzy»: Anhänger von Stepan Bandera, ukrainischer Nationalist, der in Teilen der Ukraine als Nationalheld verehrt wird

**«Chochly»: Mehrzahl von «Chochol» - pejorative Bezeichnung für «Ukrainer» im Russischen

Erstveröffentlichung bei der österreichischen Wochenzeitung Die Furche: https://www.furche.at/feuilleton/krieg-in-der-ukraine-die-stille-7969287