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Die Zahl derer wächst, die gegen die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar protestieren

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Vom 21. November bis 18. Dezember 2022 soll in Katar die 22. Fußball-Weltmeisterschaft der Männer ausgetragen werden. In einem Land, in dem Homosexualität gesetzlich verboten ist; in einem Land, in dem Frauen systematisch benachteiligt werden; in einem Land, in dem Hunderttausende Arbeitsmigrant*innen – meist Bauarbeiter und weibliche Hausangestellte – unter elenden, teils sklavenähnlichen Bedingungen schuften; in einem Land, in dem es keine politischen Parteien und keine Gewerkschaften gibt; in einem Land, in dem eine Familiendynastie herrscht und Kritik am Herrscherhaus unter Strafe steht. Das alles hat die Funktionäre des Fußball-Weltverbandes FIFA nicht davon abhalten können, die WM an den Golfstaat zu vergeben. Nun mehren sich die Stimmen, die dagegen protestieren. Was sind ihre Motive, welches ihre Ziele?

Stephan Lahrem ist im Vorstand des Berliner Vereins Gesellschaftsspiele e.V., der Bildungsarbeit im Kontext von Politik, Fußball- und Fankultur macht und zu den Erstunterzeichnern der Kampagne „Boycott Qatar 2022“ gehört. Am 28. Mai 2022 findet in Frankfurt am Main ein Vernetzungstreffen der Kritiker*innen der WM in Katar statt.

Weckruf

Kritik hat es von Anfang an gegeben. Wenige Tage nachdem FIFA-Präsident Joseph Blatter am 1. Dezember 2010 in Zürich verkündet hatte, die WM werde 2022 in Katar stattfinden, erklärte beispielsweise das britisch-irische Gay Football Supporterʼs Network: «Wir sind der Meinung, dass die Fußballweltmeisterschaft nicht in einem Land stattfinden sollte, das die grundlegenden Menschenrechte von LGBT-Personen missbraucht und missachtet.» Man werde alle Aktivitäten rund um die WM in Katar boykottieren. Mit einer solchen Position standen sie zunächst allein, gleichwohl hagelte es weiter Proteste: Korruptionsvorwürfe an die Adresse der FIFA, Kritik am Terminplan, Skepsis wegen der Menschenrechtssituation in Katar und schließlich – immer häufiger und drastischer – Berichte über die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der mehr als zwei Millionen Arbeitsmigrant*innen im Land. Die Kritik ebbte ab, nachdem die katarische Regierung sich angesichts des wachsenden internationalen Drucks zu Reformen im Arbeitsrecht bereit erklärt hatte. Und schließlich sei – auch wenn man wie der Dortmunder Sportdirektor Michael Zorc mit der Entscheidung für Katar absolut nicht einverstanden war – der Drops gelutscht.

Doch dann meldete der britische Guardian im Februar 2021, dass nach eigenen Recherchen seit der Vergabe der WM auf Baustellen in Katar 6500 Arbeiter gestorben seien. Der Aufschrei in Europa war gewaltig. In Norwegen forderten einige Erstligisten – darunter Rekordmeister Rosenborg Trondheim – den norwegischen Fußballverband auf, nicht zur WM zu fahren; in Dänemark erhoben Fans des Traditionsvereins Brøndby Kopenhagen dieselbe Forderung gegenüber ihrem nationalen Verband. In den Niederlanden lehnte das Unternehmen Hendriks Graszoden, traditionell der Rasenlieferant für viele Fußball-Welt- und Europameisterschaften, den Millionenauftrag aus Katar ab. Und auch die deutsche Nationalmannschaft, nicht gerade für politische Statements bekannt, präsentierte sich vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Island im April 2021 mit der Aufschrift «Human Rights» auf den Trikots.

In einigen Bundesligastadien machte sich der Unmut über die WM in Katar ebenfalls breit, nicht immer zur Freude der Kluboberen. Besonders heftig ging es beim Serienmeister FC Bayern München zu, der seit zehn Jahren im Winter ins Trainingslager nach Katar fliegt und die staatliche Qatar Airlines zum Werbepartner hat. Ein Teil der aktiven Fanszene bemüht sich seit Jahren vergebens darum, mit der Vereinsführung in einen kritischen Dialog darüber einzutreten, hat nepalesische Arbeitsmigranten von den WM-Baustellen zu Info-Abenden eingeladen und Choreos zum Thema gezeigt. Als auf der letzten Jahreshauptversammlung die Abstimmung über eine Auflösung der Geschäftsbeziehungen mit Katar nicht zugelassen wurde, kam es zu tumultartigen Szenen.
Mit symbolischen Aktionen will sich auch ProFans, ein bundesweites Bündnis aktiver Fan- und Ultra-Gruppierungen, nicht begnügen und erklärte: «Ein rauschendes Fest auf den Gräbern von Tausenden Arbeitsmigranten – daran teilzuhaben, wäre das Ende von Ethik und Würde». Das Bündnis forderte den Deutschen Fußball-Bund auf, «die Teilnahme am Turnier abzusagen». Doch für DFB-Direktor Oliver Bierhoff ist ein Boykott der WM «keine Option», man wolle aber «offensiv für Menschrechte eintreten». Für Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch steht ein Boykott nicht auf der Agenda, weil sie vor Ort verhandeln müssen. Allerdings fordern sie in deutlichen Worten, dass die FIFA und auch der DFB den Druck auf die katarische Regierung in Sachen Menschen- und Arbeitsrechte erheblich erhöhen müssten.

Darauf wollen Fußballvereine wie der Regionalligist KSV Hessen Kassel ebenso wenig warten wie die SPD Berlin, der DGB Hessen-Thüringen, die Evangelische Jugend im Rheinland oder Frank Schwabe, seit Januar 2022 Beauftragter der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit: Sie alle fordern den Boykott der WM in Katar. Ihre Begründungen sind verschieden, doch sie eint die Auffassung, dass eine Fußballweltmeisterschaft als ein – etwas altmodisch gesprochen – Fest der Völkerverständigung nicht dort stattfinden dürfe, wo Menschen oder Menschengruppen systematisch diskriminiert werden.
Dem entspricht theoretisch die Menschenrechtspolitik der FIFA. Denn die FIFA hat sich 2017 verpflichtet, die Menschenrechte zu achten, und «ist bestrebt, innerhalb der Organisation und bei all ihren Tätigkeiten ein diskriminierungsfreies Umfeld zu schaffen». Nach den eigenen Kriterien dürfte die WM deshalb eigentlich nicht in Katar stattfinden, auch wenn die Selbstverpflichtung erst nach der Vergabe erfolgt ist. Aber das kümmert FIFA-Chef Gianni Infantino wenig, der inzwischen seinen Wohnsitz nach Katar verlegt hat. Er schwadroniert lieber über seine Vorfreude auf eine «fantastische WM».

«Rote Linie» überschritten

Die tatsächliche Politik der FIFA ist es denn auch, die eine weitere Gruppe von Kritiker*innen antreibt. Um Menschenrechte, so argumentieren sie, habe sich die FIFA noch nie sonderlich gekümmert. Der FIFA gehe es seit Jahren nur noch um Geld und Macht; die Kommerzialisierung und Eventisierung des Fußballs schreite unaufhaltsam voran; den Zuschlag für die WM erhalte, wer den größten Gewinn verspreche – und die wenigsten Probleme. 2013 hatte der damalige FIFA-Generalsekretär Jerome Valcke offen bekannt: «Manchmal ist weniger Demokratie bei der Planung einer WM besser», etwa «wenn es ein starkes Staatsoberhaupt mit Entscheidungsgewalt gibt, vielleicht wie Putin sie 2018 hat».
Es sieht so aus, als habe die FIFA die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 nicht trotz politischer und Menschenrechtsdefizite nach Russland und Katar vergeben, sondern weil dort autoritäre Regimes eine störungsfreie Vorbereitung und Durchführung gewährleisten. Als Gegenleistung bekommt der Gastgeber dann einen Persilschein von höchster Stelle. So äußerte sich FIFA-Boss Infantino 2018 begeistert: «Ein großer Dank an die russische Regierung und natürlich an Präsident Putin, an das Organisationskomitee, den russischen Fußballverband und jeden in diesem Land, der involviert war, um sicherzustellen, dass diese WM die beste aller Zeiten geworden ist.» «Sportswashing» nennt man das. Die Führung von Katar darf Ähnliches erwarten.
Korruption, Kommerzialisierung, Demokratiedefizite, Menschenrechtsverletzungen, mangelnde Nachhaltigkeit, Sportswashing – alles wirklich nicht neu und doch dieses Mal in einer Dreistigkeit vorgetragen, dass viele sagten: Einmal ist genug. Irgendwann ist die «rote Linie» überschritten. Paradigmatisch vertritt diese Argumentation die 2020 von den beiden Publizisten und Fußballenthusiasten Bernd Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling ins Leben gerufene Kampagne «Boycott Qatar 2022», die seit dem vergangenen Frühjahr reichlich Zulauf verzeichnet. Die Initiatoren halten es nicht für realistisch, dass die WM noch abgesagt werden könnte, selbst wenn einzelne Verbände oder Aktive sich für einen Boykott entschließen sollten. Deswegen richtet sich ihr Boykott-Aufruf auch dezidiert an die Fußballfans.

Aktiver Boykott der Fans

Die Fans sind aufgerufen, die WM-Spiele weder im Fernsehen daheim noch beim Public Viewing zu verfolgen, nicht zum Turnier zu reisen, keine Fan-Artikel mit WM-Logo zu erwerben und auch keine Produkte der Sponsoren. «Unser Ziel ist es, das lukrative Zusammenspiel zwischen FIFA, Sponsoren und autokratischen Regimen zu stören. Es darf für sie nicht mehr attraktiv sein, die WM auf diese pervertierte Art zu präsentieren und den Fußball weiter zu ruinieren», heißt es in dem Aufruf der Initiative, den inzwischen Hunderte Fans und Fanvereinigungen unterzeichnet haben.
Das Charmante an dieser Boykott-Kampagne: Es geht nicht einfach um Absenz – nicht zuschauen, nicht teilhaben –, sondern um einen aktiven Fanboykott, der vor und während des Turniers auf vielfältige Weise sichtbar werden soll. Beispielhaft dafür ist eine vereinsübergreifende Aktion namens #Back2Bolzen, die sich die Schalker Fan-Initiative e.V. ausgedacht hat, die sich seit mehr als zwei Jahrzehnten gegen Rassismus und Diskriminierung engagiert. Im Geiste von «Zurück zu den Wurzeln des Spiels» sollen «möglichst viele Menschen, Gruppen und Vereine vor allem auch an den Spieltagen der WM 2022 […] selbst aktiv werden, anstatt sich die Spiele im Fernsehen anzusehen: indem sie selbst Fußball spielen oder Menschen, die spielen, unterstützen, mit ihnen feiern und Freude am Spiel haben. Dazu organisieren alle Interessierten an ihren Standorten Spiele oder Turniere, ob klein oder groß, ob auf der Straße, dem Bolzplatz oder in einer Halle, ob mit Wenigen oder mit ganz Vielen. Notfalls auch Tipp-Kick- oder Kicker-Turniere.» Eben #Back2Bolzen.

Die Hoffnung vieler Kritiker*innen und Boykott-Befürworter*innen – wie auch immer ihre Motive und Begründungen im Einzelnen sein mögen – richtet sich darauf, dass zumindest bei Vergabe und Durchführung künftiger Fußball-Weltmeisterschaften (aber auch anderer Mega-Sportveranstaltungen) Menschenrechte und Nachhaltigkeit, Partizipation und Fankultur angemessen berücksichtigt werden. Dass Gier und Maßlosigkeit nicht mehr das letzte Wort haben. Dass der Fußball, die Freude am Spiel und das gemeinsame Erleben wieder ins Zentrum rücken.
Zwei Tage nach der Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 nach Russland und 2022 nach Katar hatte der sonst eher betuliche Berliner Tagesspiegel «Doppelter Skandal» gewettert und wütend gefordert: «Ihr Spieler und Fans auf der ganzen Welt, die ihr den Fußball liebt und verehrt: Jagt Sepp Blatter und seine Spießgesellen zum Teufel! Holt euch das Spiel zurück!» In diesem Sinne: «Boycott Qatar 2022»!

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