Interview | Geschlechterverhältnisse - Westeuropa - Feminismus für alle - Sorgende Stadt «Jedes Stadtviertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden»

Die Kraft der vielen Frauen ermöglicht, bahnbrechende Projekte anzuschieben

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Frauentagsdemo am 8. März 2018 in Barcelona, Spanien. Foto: picture alliance / NurPhoto | Victòria Rovira

Laura Pérez Castaño ist stellvertretende Bürgermeisterin von Barcelona und Stadträtin für soziale Rechte, globale Gerechtigkeit, Feminismus und LGBTI. Sie hat viele verschiedene Initiativen gestartet, um neue Wege politischen Handelns zu gehen und transformative feministische Ansätze in allen politischen Bereichen zu implementieren. María del Vigo sprach mit ihr über Erfolge, Gelerntes und Herausforderungen auf diesem Weg.

Bei den jüngsten Wahlumfragen in Barcelona im Dezember 2021 lag Barcelona en Comú zum ersten Mal vor der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC). Was hat zu dieser Unterstützung geführt und wie lässt sich dieser Erfolg aufrechterhalten?

Die Umfragen müssen mit einer gewissen Distanz betrachtet werden, aber eine positive Tendenz ist weiterhin erkennbar. Die politischen Ziele von Barcelona en Comú scheinen bis zu einem gewissen Grad mit den Bedürfnissen der Menschen vor Ort übereinzustimmen.

Ich glaube, dass es uns im Stadtrat gelungen ist, Forderungen der Bevölkerung Barcelonas aufzugreifen, etwa beim Thema Mobilität. Wir haben uns klar fürs Fahrrad, für Fußgänger*innen sowie für verkehrsberuhigte Bereiche im Umfeld von Schulen ausgesprochen. Das sind zum Teil kontroverse Themensetzungen, die zu Ablehnung hätten führen können. Die Wahlumfragen bestätigen jedoch, dass die Mehrheit und wir den gleichen Weg verfolgen.

In ökonomischer Hinsicht geht es Barcelona etwas besser als anderen großen Städten. Und ich glaube, dass das soziale Engagement des Stadtrats von den Bürger*innen sehr geschätzt wird.

Sie haben Initiativen gestartet, die städtische Politik betreffen, aber auch solche, mit denen die Präsenz von Frauen in den internen Strukturen von Barcelona en Comú gestärkt werden soll. Was von beidem hat Ihnen mehr Kopfzerbrechen bereitet?

Ohne Zweifel die städtische Politik. Ich möchte nicht behaupten, dass die interne Stärkung der Position von Frauen nicht schwierig ist. Aber Barcelona en Comú ist eine Organisation, in der es sehr viele aktive und engagierte Bündnisse gibt, die dafür sorgen, dass Feminismus in den Grundfesten der Politik verankert ist.

Die Ausgangslage bei der Verwaltung städtischer Belange ist eine ganz andere. Du magst über Bündnisse innerhalb und außerhalb des Stadtrates verfügen, aber der Apparat an sich ist schwerfällig, patriarchal und unglaublich hierarchisch aufgestellt. Gegen diese Dynamiken anzukämpfen, ist sehr viel komplexer.

María del Vigo ist PR-Verantwortliche des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Madrid.

Übersetzung von Luisa Donnerberg & Sebastian Landsberger für Gegensatz Translation Collective

Ich muss auch gestehen, dass es bei unserem Amtsantritt 2015 für andere nicht einfach war, sich gegen eine feministische Politik zu stellen. Wenn du auf den Rathausplatz hinausgegangen bist, hast du den enormen gesellschaftlichen Druck und die Kraft der vielen Frauen gespürt. Die haben klar gemacht, dass dies deine Priorität sein muss. Wir haben bahnbrechende Projekte angeschoben, und es gab schon Leute, die nicht mitgemacht haben oder wenig Interesse daran hatten. Aber wir mussten keine verschlossenen Türen aufbrechen.

Ciudad Cuidadora (Fürsorgliche Stadt) ist eine sehr ambitionierte Initiative, angeleitet von Ihrem Stadtratsamt. Was ist das für ein Projekt?

Eine der großen Herausforderungen für den Feminismus liegt heute im Bereich der Wirtschaft, denn das herrschende Wirtschaftsmodell basiert maßgeblich auf strukturellen Geschlechterunterschieden, die wir beseitigen müssen. Im Zentrum des Projekts «Barcelona Cuidadora» steht die CareArbeit, einer der Bereiche mit dem größten Anteil an Frauen und mit sehr prekären Arbeitsbedingungen.

Das Projekt verfolgt zwei Ansätze: Zum einen geht es darum, Frauen zu entlasten, die unbezahlte Pflegearbeit leisten. Zum anderen werden Frauen unterstützt, die einer bezahlten Pflegearbeit nachgehen. Das sind meist Migrantinnen, die es anderen Frauen ermöglichen, beruflich voranzukommen – auf Kosten ihrer eigenen Arbeitsbedingungen.

Das Projekt startete 2017. Wie hat sich die Pandemie auf Ciudad Cuidadora ausgewirkt? Gibt es größeren Bedarf an Care-Arbeit oder haben wir bloß verstanden, was es heißt, sie zu leisten, weil wir zu Hause geblieben sind und damit konfrontiert waren?

Die Lehren, die wir daraus ziehen, sind nachhaltig. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Sobald strikte Ausgangssperren aufgehoben werden, geben die, die es können, Care-Arbeit wieder an andere ab. Das ist so, weil Pflegearbeit kaum gesellschaftlichen oder ökonomischen Wert hat. Wir müssen Lehren aus der Pandemie ziehen und darüber nachdenken, wie wir der Pflegearbeit auf politischem Wege zu mehr Wertschätzung verhelfen.

Dieser Text ist in der maldekstra, dem Auslandsjournal für globale Perspektiven von Links erschienen. Das Thema der Ausgabe #14 ist «Linke Bewegungen».

Neben der Ausweitung der Online-Betreuung und der Anpassung unserer Angebote an die Bedürfnisse der Bevölkerung – berücksichtigend, dass nicht alle auf gleiche Weise von der Pandemie betroffen sind – haben wir dieses Jahr ein weiteres Projekt gestartet: die «Supermanzanas» (Quartiersfürsorgesysteme). Ziel des Projektes ist es, dass jegliche Pflegedienstleistungen innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. Deine häusliche Pflegekraft sollte beispielsweise nicht morgens am einen Ende der Stadt und abends am anderen arbeiten, sondern immer in deinem Viertel, also auch immer dieselbe sein. Dank der Lehren, die wir aus der Pandemie gezogen haben, als benachbarte Stadtviertel nicht besucht werden konnten, organisieren wir die Pflegearbeit heute ganz neu. Die unmittelbare räumliche Nähe von Pflegekräften ist sehr wichtig und jedes Viertel muss eine Einheit der Fürsorge bilden.

Ein weiterer großer Kampf der europäischen Linken ist der Zugang zu Wohnraum. Dieses Recht zu gewährleisten, ist nach wie vor eines der Ziele des Stadtrates. Wo überschneiden sich Wohnungs- und Geschlechterpolitik?

Es gibt keine feministische Politik, wenn wir nicht über die Wohnungspolitik sprechen. Das Recht auf Stadt geht Hand in Hand mit dem Recht auf Wohnen. Leider ist das heute in Barcelona nicht der Fall. Wenn wir den Etat im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gesichtspunkte analysieren, zeigt sich allerdings, dass Wohnraumpolitik mit am besten abschneidet.

Zurzeit baut Barcelona 2.300 Wohnungen. Zudem haben wir Wohnraum erworben, saniert und auf den Markt gebracht. Außerdem haben wir im Rahmen eines Programms für zeitlich begrenztes Wohnen in unmittelbarer Nähe eine ganze Reihe von APROPs errichtet. Das sind modulare Gebäude, die in acht Monaten aus Schiffscontainern hergestellt werden können. Von den nächsten beispielsweise wird die Hälfte an alleinerziehende Mütter gehen, weil die Mieten für sie zu teuer sind. Momentan betragen die Ausgaben für Wohnraum in Barcelona im Schnitt 23 Prozent des Einkommens, bei alleinerziehenden Müttern sind es 64 Prozent. Wohnungspolitik muss insbesondere die Situation von Frauen berücksichtigen und entsprechende Unterstützung bereitstellen.

Feministische Bewegungen und recht viele Institutionen reden von der Notwendigkeit, eine feministische Perspektive in allen Bereichen der Politik mitzudenken. Das ist ja eines Ihrer Hauptanliegen. Wie weit sind Sie gekommen?

Wenn wir über Jugend, Gesundheit oder Sport sprechen, sollten geschlechtsspezifische Fragen nicht losgelöst davon behandelt werden. Abgesehen davon gibt es viele interne Instrumente, die sich bewährt haben, um feministische Werte in den Institutionen zu verankern. Sie sind nicht besonders sichtbar, wie die Steuerberichte, die wir anfertigen lassen, aber sie helfen uns sehr. Die Berichte über Einkommensunterschiede im Stadtrat von Barcelona haben uns zum Beispiel geholfen, viele Verbesserungen zu erreichen, die sonst nicht möglich gewesen wären. Es ist richtig, dass ich mich mit diesem Bericht selbst stark unter Druck gesetzt habe, weil ich der Opposition damit ein Werkzeug an die Hand gegeben habe, aber ich habe auch erreicht, dass sich die Arbeitsbedingungen von Frauen verbessert haben.

Was die Struktur betrifft, so arbeiten 12 Personen im Gender-Mainstreaming-Team. Wir haben außerdem Gender-Referate in allen Abteilungen des Stadtrats. Und es wird sie in allen Bezirken geben. Solche Maßnahmen sind kaum sichtbar, aber sie sind unbedingt erforderlich, um Gender-Mainstreaming wirksam zu machen.