Nachricht | Geschichte - International / Transnational - Afrika - Nordafrika - Algerien Das Erbe des algerischen Bürgerkrieges

Erzwungenes Verschwindenlassen und der Preis der Amnestie

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Familien von Verschwundenen fordern Aufklärung und Gerechtigkeit CC BY-NC-ND 4.0, Le Collectif des Familles de Disparus en Algérie (CFDA)

Im Rahmen unserer diesjährigen Veranstaltungs- und Veröffentlichungsreihe anlässlich des 60. Jahrestages der Unabhängigkeit Algeriens veröffentlicht die RLS diesen ursprünglich beim ägyptischen Nachrichtenportal Mada Masr erschienenen Artikel erneut. Der Text wurde leicht aktualisiert und redigiert, da er 19 Monate vor dem Hirak-Aufstand und dem Sturz von Algeriens Expräsident Abdelaziz Bouteflika geschrieben wurde.

Nordafrika war das Epizentrum des sogenannten «Arabischen Frühlings» als 2011 Volksaufstände die autoritären Regimes in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und Jemen herausforderten. Doch in einem Staat am Mittelmeer blieb die öffentliche Mobilisierung trotz des wachsenden Unmuts in der Gesellschaft über die kleptokratischen Eliten des Landes weitgehend aus. Erst 2019 lösten dieser Unmut und eine Wirtschaftskrise auch in Algerien einen Volksaufstand aus, der im Land meist nur «Hirak» (Arabisch für «Bewegung») genannt wird.

Doch während die Aufstände von 2011 den Weg für den vorübergehenden Kollaps autokratischer Herrschaft in mehreren Ländern ebneten, blieb Algeriens Regime an der Macht. Die Proteste gegen die Regierung wurden in der Gesellschaft mit vorsichtiger Zurückhaltung aufgenommen. Nur wenige tausend Menschen hatten sich 2011 der größten regimekritischen Demonstration in Algier angeschlossen, auch da das Regime den Sicherheitsapparat mobilisiert und die Stadt in eine Festung verwandelt hatte.

Sofian Philip Naceur ist Projektmanager im Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und arbeitet als freier Journalist.

Die von Armee und ehemaliger Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN, Front de Libération Nationale) kontrollierte Regierung machte im Angesicht der Proteste zwar begrenzte Zugeständnisse und versprach Reformen, warnte die Menschen aber auch davor, dass die Teilnahme an einem Volksaufstand erneut zu Unsicherheit und Blutvergießen führen könnte. In diesem Sinne bezeichneten algerische Spitzenpolitiker*innen den Bürgerkrieg der 1990er Jahre immer wieder als unmittelbare Folge der politischen Revolte von 1988.

Die Brutalität, mit der in diesem Krieg gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen wurde, war in der Tat beispiellos: 150.000 Menschen wurden im Konflikt zwischen Staat und bewaffneten islamistischen Gruppen getötet. Trotz der dokumentierten Beteiligung des Militärs an Gräueltaten des Krieges gelang es dem Regime, das nationale Trauma in ein Instrument zur Stärkung seiner Legitimität zu verwandeln und damit seine Dominanz über öffentliche Diskurse zu festigen. Seither präsentiert sich die herrschende Elite als Retter vor einer islamistischen Machtübernahme und als einzige Alternative zu dem Chaos und Blutvergießen der 1990er – ein Narrativ, dass algerische Politiker*innen 2011 und nach der gewaltsamen Auflösung des Rabaa Al-Adaweya-Sit-Ins 2013 der kurz zuvor entmachteten Muslimbruderschaft in Ägyptens Hauptstadt Kairo wiederholt zum Besten gaben. Algeriens Elite wollte mit diesem Vergleich die eigene Bevölkerung einschüchtern und deutlich machen, dass jedwede Volkserhebung zwangsläufig zu Gewalt und Instabilitäten führe.

Das Regime zehrt dabei immer noch von dieser Angst und instrumentalisiert den Krieg der 1990er Jahre weiterhin, um seine Machtposition zu verteidigen. Das Narrativ des angeblichen Erfolgs des Regimes bei der Aufrechterhaltung von Stabilität steht jedoch in starkem Widerspruch zu den Geschichten jener, die während der skrupellosen Aufstandsbekämpfung des Militärs ermordet oder gewaltsam verschleppt wurden und spurlos verschwanden – eine bewegte Geschichte, die trotz Algeriens Hinwendung zu einer politischen Amnestie zur Beilegung des Konfliktes ungelöst blieb.

Heute sind die Ermittlungen über das erzwungene Verschwindenlassen von Personen durch Algeriens Sicherheitsapparat weitgehend eingestellt. Doch die Familien tausender Zivilist*innen, deren Schicksal bis heute ungeklärt ist, fordern weiterhin Gerechtigkeit und widersprechen der offiziellen Darstellung der Ereignisse hartnäckig. Ihr Kampf ist eine Herausforderung, weigert sich der Staat doch bis heute, das Ausmaß des Unrechts anzuerkennen, während er die Forderungen der Familien der Verschwundenen konsequent ignoriert. Diese wenden sich auch deshalb an Algeriens Zivilgesellschaft.

Erzwungenes Verschwindenlassen und Algeriens Bürgerkrieges

«Sie kamen nachts, durchsuchten das Haus meiner Großmutter und nahmen meinen Vater mit. Es war das letzte Mal, dass ihn jemand aus unserer Familie lebend gesehen hat.» Torkia Bourechak war 14 Jahre alt als die berüchtigte algerische Militärpolizei Adda Bourechak in Sidi Bachir verhaftete, einem informellen Viertel am Rande der am Mittelmeer gelegenen Großstadt Oran.

Ihr Haus wurde mehrmals durchsucht, aber Adda und sein jüngerer Bruder Hocine waren jedes Mal vorsichtig genug und hatten sich woanders versteckt – bis sie eines Tages im Jahre 1994 verschleppt wurden. Heute hat Torkia keine Hoffnung mehr, sie lebend wieder zu finden. Ihre Familie hatte jahrelang in Gefängnissen, Krankenhäusern und Leichenhallen nach ihnen gesucht, aber die Suche 2001 schließlich aufgegeben. Doch Torkia strebt immer noch nach der Wahrheit.

«Sie waren keine Islamisten, ganz und gar nicht. Aber sie haben bei den Parlamentswahlen 1991 für die Islamische Heilsfront (FIS, Front Islamique du Salut) gestimmt», sagt sie.

Die FIS, eine radikal-islamistische Partei, die nach dem Aufstand 1988 in weiten Teilen der algerischen Gesellschaft große Rückhalt fand – auch bei nicht-islamistischen Gegner*innen der alten Eliten – , stand kurz vor einem Erdrutschwahlsieg bei den ersten demokratischen Wahlen im Land seit Algeriens Unabhängigkeit von Frankreich 1962. Doch die zweite Runde der Abstimmung fand nie statt. Denn im Januar 1992 hatte die Armee eingegriffen, die Wahlen abgebrochen, den Notstand verhängt und eine Militärregierung eingesetzt.

Die FIS wurde verboten und aufgelöst. Viele ihrer Mitglieder und Anhänger*innen gingen in den Untergrund und versteckten sich vor dem harten Vorgehen des Staates gegen die Partei, während ihre radikale Fraktion den Weg des bewaffneten Widerstands wählte und mehrere gewaltbereite Gruppen gründete, insbesondere die Islamische Heilsarmee (AIS, Armeé Islamique du Salut), die später damit begann, den Staat mit Bombenanschlägen anzugreifen. Der Notstand gewährte den Behörden nahezu unbegrenzte Befugnisse, die diese dafür nutzten, eine lang anhaltende Verhaftungskampagne gegen FIS-Funktionär*innen, Parteianhänger*innen und andere Personen zu lancieren, die sich den Protesten gegen die Machtübernahme der Armee angeschlossen hatten. Willkürliche Verhaftungen gehörten in diesem «schwarzen Jahrzehnt», wie Algeriens Bürgerkrieg oft genannt wird, zum Alltag.

«Das Einzige, was meine Verwandten getan haben, war es, an Demonstrationen teilzunehmen und die falsche Partei zu wählen. Sie waren keine Terroristen, aber die Polizei war trotzdem hinter ihnen her», sagt Torkia.

Während viele Familien keine Hinweise darauf haben, was mit ihren Angehörigen geschehen ist, haben andere eindeutige Beweise dafür, wer hinter der Entführung oder Ermordung ihrer Verwandten steckt. Einer davon ist Ahmed Khaddour, dessen Bruder Selman von der Gendarmerie in Ain Benian im Großraum Algier vorgeladen wurde.

«Zwei Tage, nachdem er zum Verhör erschienen ist, rief das Krankenhaus an und bat uns, seinen Leichnam abzuholen», erzählt Khaddour. «Sie behaupteten, es sei Selbstmord gewesen, aber sein Körper wies Spuren von Folter auf. Er wurde erdrosselt.»

Selmans Familie war ein nahezu typisches Ziel algerischer Sicherheitsbehörden, hatten doch viele seiner Angehörigen die FIS unterstützt. Einige waren sogar Parteimitglieder, so Khaddour. Und für diese Unterstützung der Islamist*innen bezahlten sie einen hohen Preis: sechs von Khaddours Verwandten verschwanden, während des Krieges und es wird vermutet, dass keiner von ihnen noch am Leben ist.

Der Aufstieg von Algeriens Militärgeheimdienst

Nach dem Putsch begannen die Armee und der berüchtigte Militärgeheimdienst DRS (Département du Renseignement et de la Sécurité) eine regelrechte Hexenjagd auf all jene, die mit der FIS in Verbindung standen. Nachdem der Sicherheitsapparat die FLN regimeintern erfolgreich an den Rand gedrängt hatte, ließ das Regime den DRS vollständig von der Leine. Die Saat für ein massives Blutvergießen war damit gelegt – und dessen Narben sind auch heute noch tief.

Als das Tauziehen zwischen islamistischen Aufständischen und dem Regime 1997 außer Kontrolle geriet, erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt. Drei Jahre nach ihrem Aufstieg hatte die AIS gegenüber ihrer Hauptkonkurrentin, der gewaltbereiten und noch extremer auftretenden Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA, Groupe Islamique Armé), massiv an Boden verloren. Im Gegensatz zur AIS richtete sich die GIA nicht vornehmlich gegen staatliche Einrichtungen, sondern exekutierte systematisch Journalist*innen, Künstler*innen und Ausländer*innen und verübte sogar Massaker an der Zivilbevölkerung, während mehrere islamistische Zellen ebenso auf erzwungenes Verwindenlassen von Menschen setzten, um Angst im Land zu verbreiten. Nachdem Liamine Zeroual Algeriens Präsidentschaft übernommen hatte, nahm die AIS Verhandlungen mit der Regierung auf – eine Strategie, die von GIA und Hardlinern im Militär strikt abgelehnt wurde.

Jedes Mal wenn die Gespräche Fortschritte machten, verstärkte die GIA ihre Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die AIS. Wer für diese Anschläge verantwortlich war, ist nach wie vor unklar. Aber der von Geheimdienstchef Mohamed «Tewfik» Mediène geführte DRS war an dieser Gewalt direkt beteiligt, hatte der Dienst doch Berichten zufolge die GIA in großem Stile infiltriert.

In seinem Buch „Der schmutzige Krieg“ beschreibt der ehemalige Militäroffizier Habib Souaïdia wie DRS-Einheiten – bisweilen gekleidet wie Islamist*innen – außergerichtliche Hinrichtungen und Massaker an Zivilist*innen verübten. Das Narrativ eines «legitimen Krieges“ gegen den Terror geriet ins Wanken, schließlich deuten Berichte darauf hin, dass der DRS deutlich mehr Blut an den Händen hatte als dessen Führung bereit war zuzugeben.

Der DRS festigte jedoch seine Macht, setzte weiterhin die Strategie der Eskalation durch und nutzte die GIS und das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen als Einschüchterungstaktik. Die Ziele der Hardliner innerhalb des Militärs bestanden darin, die Islamist*innen zu diskreditieren und die Legitimität des Regimes zu erneuern, um dessen Privilegien und den Zugang zu den Erdöl- und Erdgaseinnahmen des Staates zu sichern; Ziele, die von FLN und Zerouals neu gegründeter Partei Nationale Demokratische Sammlung (RND, Rassemblement Nationale Démocrqtique) geteilt wurden. Der einzige Grund für die Uneinigkeit zwischen diesen Akteur*innen waren die Mittel zum Erreichen dieser Ziele.

Algeriens Charta für nationalen Frieden und Versöhnung

Auf dem Höhepunkt des Krieges 1997 leitete das Regime einen Versöhnungsprozess ein. Regierung und AIS einigten sich gar auf einen Waffenstillstand. Der DRS stellte sein hartes Durchgreifen ein, während die Armee den Weg zur Wiederherstellung der politischen Stabilität ebnete indem sie die Präsidentschaftskandidatur des im Exil lebenden ehemaligen algerischen Außenministers Abdelaziz Bouteflika unterstützte. Die Wahl 1999 gewann er erdrutschartig. Die Armee zog sich aus der unmittelbaren Regierungsverantwortung zurück und trat – zumindest formell – für Bouteflika, den «Konsenskandidaten“ des Regime ohne Blut an den Händen, in den Hintergrund. Zügig rief dieser die Charta für nationalen Frieden und Versöhnung ins Leben, eine Initiative zur Beilegung des Konfliktes, die in einem öffentlichen Referendum am 29. September 2005 angenommen wurde. Die im Februar 2006 in Kraft tretende Charta sieht eine Amnestie für «Terroristen» vor – mit Ausnahme jener, die sich des Massenmords, Bombenanschlägen auf öffentliche Einrichtungen und der Vergewaltigung schuldig gemacht hatten – , aber auch Entschädigungen für die Familien Getöteter und Verschwundener sowie eine implizite Schuldbefreiung für die vom Staat verübten Verbrechen.

Die Charta bleibt jedoch umstritten. Die Regierung erklärte 2012, sie habe 7.020 Familien von im Krieg verschwundenen Personen entschädigt. Einzelheiten über den Waffenstillstand mit der AIS und genaue Zahlen über das Ausmaß der Amnestie wurden jedoch nie veröffentlicht. Auch wird vermutet, dass die Charta auch dazu diente, jene Staatsbedienstete, die bewaffnete Gruppen infiltriert hatten, eine Rückkehr ins zivile Leben zu ermöglichen ohne sie für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen.

Unterdessen beruhigte sich der Machtkampf innerhalb des Regimes und führte zur Wiedergeburt einer bipolaren Autokratie. Während Bouteflikas Clan die FLN graduell wieder als unangefochtene Fassade des Regimes etablierte – einen Status, den sie auch nach Bouteflikas Sturz durch den Hirak-Aufstand 2019 erhalten konnte – stieg der DRS zur mächtigsten Sektion des Staates auf. Die Einheit wurde teils sogar als einziges Gegengewicht zu Bouteflikas FLN porträtiert, der man attestierte, tatsächlich das Land zu regieren.

Umgang mit dem Erbe des Bürgerkrieges

Bis heute vernachlässigen algerische Behörden konsequent die Forderungen der Familien der Verschwundenen, weigern sich, das Ausmaß der vom Staat begangenen Verbrechen anzuerkennen und loben stattdessen den eigenen Ansatz zur Beendigung des Konflikts. Es ist kaum überraschend, dass diese Familien die Amnestieregelungen ablehnen, da diese ihrem Streben nach Gerechtigkeit widersprechen. Jedes Jahr rufen sie daher für den 29. September – dem Jahrestag des Referendums über die Charta von 2005 – zu Kundgebungen auf.

Und diese Familien sind zahlreich. Bis zu 20.000 Zivilist*innen sind während des Krieges gewaltsam verschwunden, sagt Nassera Dutour, Gründerin des in Paris ansässigen Kollektivs der Familien der Verschwundenen in Algerien (CFDA, Collectif des Familles de Disparu.e.s en Algérie) und dessen algerischem Ableger SOS Disparus, und beruft sich dabei auf Schätzungen von Menschenrechtsaktivist*innen. Ihre Organisation sammelt Daten über das Verschwindenlassen von Personen, macht auf das unbekannte Schicksal der unrechtmäßig Verhafteten und Verschwundenen aufmerksam, unterstützt deren Familien und organisiert Kundgebungen. Das CFDA ist die einzige noch öffentlich tätige Vertretung dieser Familien und repräsentiert tausende von Familien all jener, die während der Anti-Terror-Kampagne des Regimes verschleppt worden sind.

«Wir haben mehr als 5.400 Fälle in unseren Archiven dokumentiert, aber viele sind auch weiterhin unbekannt, auch da die Menschen Angst haben, darüber zu reden», sagt Dutour.

Der Staat verfolgt gegenüber den Familien der Verschwundenen eine ambivalente Haltung. Ihre Proteste in Algerien werden schnell aufgelöst und ihre Aktivitäten überwacht. Doch die Behörden verzichten darauf, Büros zu durchsuchen oder zu schließen und nach Verhaftungen auf Protesten offiziell Anklage zu erheben.

«2016 konnte wir einen Workshop am geplanten Ort nicht durchführen, weil jemand unsere Emails abfing, sie an den Hoteldirektor weiterleitete, uns beschuldigte eine terroristische Organisation zu sein und uns mit Verhaftung drohte, sollte die Veranstaltung doch stattfinden», sagt Dutour und fügt hinzu, dass die Familien der Verschwundenen lange Zeit als Terrorist*innen dargestellt wurden. «Selbst die Medien bezeichneten uns als ‚Familien von Terrorist*innen‘.» Aber die Zeiten ändern sich – langsam.

Das Erbe des Bürgerkrieges prägt seither den öffentlichen Diskurs mit einem Schleier von Angst und Misstrauen. Diese Anschuldigungen waren durchaus üblich, bestätigt auch Torkia. «Nachbar*innen mieden uns und beschuldigten uns, Waffen zu verstecken, aber in den vergangenen Jahren wurden die Leute vernünftiger und fragten, was passiert sei. Wir konnten offen sprechen», sagt sie.

Sicherheitsapparat und regimetreue Kräfte gehen den Konflikt nach wie vor voreingenommen an, doch in dem Maße, in dem die Legitimität des Regimes schwindet, verlieren auch dessen Narrative über das «schwarze Jahrzehnt» an Glaubwürdigkeit.

Zwar ist weiterhin fraglich, ob es den Familien der Verschwundenen gelingen wird, das Schweigen zu brechen, doch sie melden sich weiter zu Wort und stellen die Verdrängung der Geschichte durch das Regime in Frage. «Das ist alles, was mir von meinem Sohn geblieben ist», sagt Dutour und deutet auf ein CFDA-Poster an der Wand, das ein Bild ihres 1997 verschwundenen Sohnes Amine zeigt.

Inzwischen hat die CFDA enge Beziehungen zu anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wie Menschenrechtsorganisationen und Parteien aufgebaut, unter anderem der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS, Front des Forces Socialistes) und der Arbeiterpartei (PT, Parti des Travailleurs). Regimefreundliche Kräfte und Oppositionsparteien mit einer radikalen anti-islamistischen Agenda halten sich aber weiterhin von der CFDA fern. Doch heute sind die Familien der Verschwundenen nicht mehr allein bei ihren Kampagnen.

Nachlässige Politik und der Verfall der Legitimität

Das Streben des Regimes nach Machterhalt steht heute vor erheblichen Hindernissen, aber eine Alternative zu der aus der FLN-RND-Koalition und der Armee bestehenden bipolaren Elite ist nicht in Sicht. Der Hirak-Aufstand von 2019 hatte dabei nur begrenzte Auswirkungen auf diesen im Land entstandenen politischen Sumpf.

Nach den Parlamentswahlen 2017 hatte die FLN erneut deutlich gemacht, dass sie sich als führende Fraktion des Regimes betrachtet. «Wir verbünden uns nicht mir anderen. Andere verbünden sich mit uns», erklärte der damalige FLN-Generalsekretär, Djamel Ould Abbas, unmittelbar nach Schließung der Wahllokale.

Seit 2015 haben Bouteflikas Verbündete die Befugnisse des DRS erheblich beschnitten, dessen als unantastbar geltenden Chef Tewfik entlassen und den DRS durch den DSS (Direction des Services de Sécurité) ersetzt. Es blieb aber unklar, wie mächtig der Dienst unter seinem zwischen 2015 und 2019 amtierenden Leiter Athmane Tartag – einer Schlüsselfigur der blutigen Aufstandsbekämpfung in den 1990ern – geworden war.

Die Verwirrung und entkernte Wahrnehmung darüber, wer tatsächlich das Land regiert, sowie die Kooptation gemäßigt islamistischer Parteien wie der Bewegung der Gesellschaft für den Frieden (MSP, Movement de la Société pour la Paix) und in jüngerer Zeit der Sammlung der Hoffnung Algeriens (TAJ, Rassemblement de l‘Espoir de l‘Algérie) wurden zu wichtigen Instrumenten für das Regime, seine Stellung zu bewahren. Doch Tewfiks Abgang könnte sich tatsächlich als Pyrrhussieg für Bouteflika erwiesen haben, schließlich richtete sich der Unmut der Bevölkerung in den Jahren darauf fast ausschließlich gegen dessen Koalition.

In der Tat hat dieser Unmut im Land den Weg für den Hirak-Aufstand 2019 geebnet, der Bouteflika und seinen Clan schließlich aus der herrschenden Elite Algeriens verdrängte. Doch obwohl der Hirak wirkungsmächtige Impulse für einen radikalen Wandel in Algerien ausgesendet hatte, hat die konterrevolutionäre Dynamik der letzten zwei Jahre die Forderungen des Hirak nach einem echten politischen Wandel untergraben und die Rückkehr einer geringfügig entschlackten bipolaren Elite ermöglicht, die heute von Staatspräsident Abdelmajid Tebboune und Armeechef Saïd Chengriha angeführt wird.

Während einige von Bouteflikas weitgehend diskreditierten Verbündeten innerhalb des Regimes ins Abseits gedrängt wurden, gelang es anderen, sich nach den regimeinternen Säuberungen wieder mit dem mächtigen Militär zu verbünden, darunter auch die FLN. Die Partei hatte gar die von Manipulationsvorwürfen überschatteten Parlamentswahlen 2021 gewonnen und kontrolliert heute erneut die Regierung.

Derweil hat die Selbstdarstellung der FLN als Algeriens einzige legitime führende politische Kraft, die sich vor allem auf ihre Rolle im Unabhängigkeitskrieg stützt, in der überwiegend jungen Gesellschaft im Land erheblich an Rückhalt verloren. Held*innengeschichten über die Niederlage der französischen Armee finden heute kaum noch Anklang, während die hohe Jugendarbeitslosigkeit und der Mangel an Wohnraum die lokalen Nachrichten dominieren. Angesichts der immer noch weit verbreiteten Korruption und des Versagens des Rentierstaatsmodells und des Sozialsystems im Land muss die FLN sich und ihren Machtanspruch erneut unter Beweis stellen. Dem Hirak ist es zwar nicht gelungen, dem Machtzugriff des Regimes ernsthaft die Stirn zu bieten, doch ihren Machtanspruch hat die FLN bisher nicht neu legitimieren und untermauern können.

Hinweis: Dieser Artikel erschien 2017 bei Mada Masr und wurde für die Neuveröffentlichung leicht aktualisiert.