Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Frankreich-Wahl 2022 Die französische Präsidentschaftswahl im Zeichen des Kulturkampfs

Wer sind die Hoffnungsträger*innen, wohin steuern ihre Kampagnen, und warum erscheint ein linkes Wahlbündnis derzeit so unwahrscheinlich?

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Cole Stangler,

Man muss nicht in Frankreich leben, um zu verstehen, dass bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl viel auf dem Spiel steht: Die globale Klimakrise verschärft sich, die Rolle des Landes auf der internationalen Bühne steht in Frage, sein Wohlfahrtsstaatsmodell ist unter Druck, und die sich drehenden politischen Winde in Berlin deuten darauf hin, dass es vielleicht sogar ein Gelegenheitsfenster gibt, der Europäischen Union einen Schubs in eine fortschrittlichere Richtung zu geben. All dies wird im Übrigen von einer Pandemie überschattet.

Cole Stangler ist ein in Paris lebender Journalist. Als TV-Redakteur berichtet Cole ferner für verschiedene englischsprachige Zeitungen über französische Politik. Er ist Autor eines Buches über die Geschichte der französischen Gewerkschaftsbewegung, das demnächst bei Arbre Bleu Éditions erscheint: La solidarité et ses limites. La CFDT et les travailleurs immigrés dans « les années 68 ».

In anderen Zeiten würde sich der Präsidentschaftswahlkampf 2022 auf einige der folgenden Fragen konzentrieren. Wie will Frankreich die fossile Energiewirtschaft einschränken? Wie soll es sich angesichts des sich aufheizenden Neuen Kalten Krieges positionieren? Wie kann der Staat das Sicherheitsnetz schützen und den Wohlstand umverteilen, da die europäischen Sparfüchse beginnen, ihre Kreise zu ziehen?

Um all das geht es nicht in der aktuellen Kampagne.

Vier Monate vor dem ersten Urnengang wird die Wahl stattdessen von einer Reihe von brisanten Kulturkampfthemen geprägt, die einer erstarkten extremen Rechten Auftrieb geben. Debatten über den Islam, Einwanderung, nationale Identität und Kriminalität haben die Anfangsphase des Rennens beherrscht und einen Wahlkampf befeuert, der von den eigentlichen Interessen der französischen Öffentlichkeit und des gesamten Planeten weit entfernt scheint. Es ist noch früh und bis April kann noch viel passieren – aber es sieht nicht gut aus.

Die Spitzenkandidat*innen decken das Spektrum von Rechtsaußen bis Mitte-Rechts ab: zwei Revanchisten, die mehr oder weniger den Nachrichtenzyklus beherrschen, ein neoliberaler Amtsinhaber, der in einer Zeit der Unsicherheit Stabilität und die Verteidigung liberaler Grundwerte verspricht, und schließlich ein Vertreter der Konservativen der alten Garde, die in den letzten Jahren um ihre Raison d'être gerungen haben, aber durchaus in der Lage sein könnten, die für einen Sieg in der Stichwahl erforderliche breite Koalition zu bilden. Unter ferner liefen rangieren eine Reihe von Linksparteien, die stark gespalten sind, denen es an Glaubwürdigkeit mangelt und die von ihrer alten Basis in der Arbeiterklasse deutlich abgekoppelt sind.

Die extreme Rechte

Die Rechtsextremen geben den Ton im Wahlkampf weitgehend an, indem sie den Schlagabtausch zwischen den verschiedenen Kandidat*innen prägen und die Berichterstattung der Medien nachhaltig beeinflussen. Dies war bis zu einem gewissen Grad auch zu erwarten. Im Rennen 2017 erzielte Marine Le Pen mit 34 Prozent der Stimmen in der Stichwahl gegen Emmanuel Macron das bisher beste Ergebnis für den Front National. Auch wenn ihr Endergebnis für die Partei eine Enttäuschung war – viele hatten eine noch bessere Leistung erwartet – so machte es doch deutlich, wie sehr die Partei in der Mitte der Gesellschaft angekommen war.

Die Partei, die sich jetzt Rassemblement National nennt, hat ihre Basis in der Ära Macron gehalten. Und obwohl die Wahlergebnisse des RN alles andere als überwältigend waren – bei den diesjährigen Regionalwahlen mit erstaunlich niedriger Wahlbeteiligung konnte der RN keinen einzigen der 17 zu vergebenden Präsidentenposten ergattern –, so ist er doch weiterhin Sieger im Kampf der Ideen. Ein Blick in die nationale Presse zeigt eine Debatte, die von den einstigen Lieblingsthemen der Partei geprägt ist, die im politischen Leben nur eine untergeordnete Rolle spielen: Forderungen nach einem Ende der Einwanderung, der Abschiebung von Menschen ohne Papiere, der Einschränkung des Anspruchs von Ausländer*innen auf staatliche Beihilfen, der Eindämmung der öffentlichen Zurschaustellung des Islam und der Bekämpfung von Kriminalität – und zwar um jeden Preis.

Diese Art von Politik ist gefragt. Es lässt sich nicht leugnen, dass ein großer Teil der französischen Wählerschaft sich von der Botschaft der Partei angezogen fühlt, darunter auch ein beträchtlicher Teil der Arbeiterklasse. (Der Niedergang der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung und der traditionellen politischen Parteien der Linken hatte nicht zu unterschätzende verheerende Auswirkungen.) Allerdings haben die Rechtsextremen in den letzten Jahren dank einer für sie günstigeren Medienlandschaft – und insbesondere durch den Erfolg eines Fernsehsenders, der oft als «französische Fox News» bezeichnet wird, zusätzlichen Rückenwind erhalten. Im Jahr 2017 vom konservativen Milliardär Vincent Bolloré gegründet, hat sich CNews schnell zu einem der meistgesehenen Nachrichtensender des Landes entwickelt. Er pumpt einen unaufhörlichen Strom von Beiträgen über Dinge wie drogenbedingte Gewalt in Sozialwohnungen, den islamischen Schleier und die Exzesse politisch korrekter Studierender in die Öffentlichkeit – und verändert im Zuge dessen den gesamten nationalen Nachrichtenzyklus.

Unterdessen hat Macrons Strategie der Triangulation dazu geführt, dass seine Regierung die rechtsextremen Anliegen de facto legitimiert. Obwohl er sich als entschiedener Gegner des RN darstellt, hat seine Regierung die Einwanderungsbeschränkungen verschärft, ein hartes Vorgehen gegen islamistischen «Separatismus» eingeleitet und ein Gesetz zur nationalen Sicherheit auf den Weg gebracht, das unter anderem das Filmen von Polizeibeamten unter Strafe stellt – ein Gesetzespassus, der schließlich vom französischen Verfassungsrat gekippt wurde. Gleichzeitig haben sich führende Mitglieder von Macrons Kabinett auf eine neue Reihe von Kulturkämpfen eingelassen und beklagen die Ausbreitung einer anglo-amerikanisch inspirierten «Cancel Culture», die mutmaßliche Plage der «Wokeness» und die angebliche Bedrohung durch den «Islamo-Gauchisme». Diese Kämpfe haben den Eindruck erhärtet, dass Frankreichs unantastbare nationale Identität in Gefahr ist – eine Zielscheibe für Feinde außerhalb und innerhalb der Landesgrenzen, insbesondere für solche muslimischen Glaubens.

All dies erklärt, warum Marine Le Pen in der ersten Runde nach wie vor die wichtigste Herausforderin von Macron sein wird. Meinungsumfragen von Anfang Dezember zufolge hätte sie etwa 15 bis 20 Prozent der Stimmen, während sie in der Stichwahl 10 bis 15 Prozentpunkte hinter dem Amtsinhaber liegen würde. Aber das ist auch der Grund, warum es sogar noch weiter rechts noch Platz für einen Kandidaten gibt, was vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Passenderweise ist der Mann, der Le Pen überflügelt, ein ehemaliger Star-Moderator von CNews, jemand, der den Rechtsruck in den französischen Medien und der Politik maßgeblich mit vorangetrieben hat.

Trotz ihrer offensichtlichen ideologischen Gemeinsamkeiten hat Éric Zemmour einen völlig anderen Stil als die Chefin des RN. Letztere versucht, sich als vernünftig und regierungsfähig zu präsentieren, ersterer ergötzt sich an seiner Fähigkeit, zu verprellen und gegen Regeln zu verstoßen. Im Zemmourschen Universum ist Provokation angesagt – wie bei Trump gibt es ein gewisses Vergnügen daran, immer wieder aufs Neue Grenzen zu überschreiten und zu sehen, wie der Staub sich legt. (Vor der offiziellen Bekanntgabe seiner Kandidatur verbreitete er die Verschwörungstheorie des «Großen Austauschs», die eine demografische Übernahme Europas durch Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten behauptet, und forderte ein Verbot von Namen nicht-französischer Herkunft). Aber wer kann es ihm verdenken, dass er ein funktionierendes Rezept anwendet? Als zum Polemiker gewandelte TV-Persönlichkeit, die die Funktionsweise der Presse vielleicht besser versteht als jeder andere Kandidat, hat Zemmour seinen Konkurrent*innen effektiv die Show gestohlen. Vor diesem Hintergrund hat er beeindruckende Unterstützung bei Konservativen und RN-Anhängern gewonnen, die von Le Pens relativ gemäßigter Haltung enttäuscht sind.

Ein in der französischen Politik geläufiger Aphorismus kritisiert die Rechten, die sich zu weit auf das Gebiet des RN vorwagen. «Die Wählerschaft zieht das Original der Kopie vor», lautet der Satz, mit dem ursprünglich Jean-Marie Le Pen in den frühen 1990er Jahren die Versuche der rechten Volksparteien verurteilte, seine Kernthemen zu stehlen. Mehr als ein Jahrzehnt später, in einem politischen Universum, das immer weiter nach rechts driftet, wendet Zemmour diese Logik im Wesentlichen gegen den RN selbst. Warum sollte man für eine verwässerte Version der Rechtsextremen stimmen, wenn man für die Echten stimmen kann? Warum sollte man sich mit der Tochter zufriedengeben, wenn man den Vater haben kann?

Dennoch muss Zemmour erst noch beweisen, dass er mehr als nur eine kleine Basis von Konservativen für sich gewinnen kann. Anfang Dezember lag er in den Umfragen bei rund 13 Prozent und damit hinter Marine Le Pen und außerhalb der Schlagdistanz zu Macron. Sein Traum, ein «patriotisches Bürgertum» und die Arbeiterklasse zu vereinen, scheint noch in weiter Ferne zu liegen, zumindest für den Moment. 

Die bürgerliche Rechte

Die Neuformierung nach Macron hat die historische Rechtspartei Frankreichs, Les Républicains(LR), in Bedrängnis gebracht. Da ihre Wählerschaft von beiden Seiten – von der Mitte und der extremen Rechten – umworben wird, ist nicht klar, wohin die Reise bei der Präsidentschaftskandidatur der LR gehen wird. Anfang Dezember wurde diese Unsicherheit bei den parteiinternen Vorwahlen deutlich: Der rechtsradikale Eric Ciotti, ein Abgeordneter aus Nizza, der die «jüdisch-christlichen» Werte der Nation in der Verfassung verankern und ein «französisches Guantanamo» einrichten wollte, qualifizierte sich unerwartet für die zweite Runde – nur um dann gegen die relativ gemäßigte Valérie Pécresse, die derzeitige Präsidentin der Region Paris, eine schmetternde Niederlage einzufahren.

Als erfahrene Politikerin, die bereits im Parlament und im Kabinett des ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy saß, steht Pécresse vor einem schwierigen Drahtseilakt. Sie wird die angespannte Ehe zwischen den identitären und den gemäßigten Elementen der LR zu einer Zeit lenken müssen, in der beide Gruppen durch Alternativen gelockt werden. Pécresse ist zwar bei weitem nicht die überzeugendste Kandidatin, aber das unkonventionelle Wahlsystem Frankreichs könnte ihr zugutekommen. Sollte sie sich für die zweite Runde qualifizieren, wäre sie gegen eine Reihe potenzieller Konkurrent*innen – darunter auch Macron – gut aufgestellt. In diesem Fall könnte die niedrige Wahlbeteiligung der Linken in Verbindung mit dem glühenden Wunsch der rechten Hardliner, den Präsidenten aus dem Amt zu drängen, ihr zum Einzug in den Elysée-Palast verhelfen. Es ist ein schwieriger Pfad voller Hypothesen, aber er ist wohl aussichtsreicher als der von Zemmour oder Le Pen. (Nach ihrem jüngsten Sieg bei den Vorwahlen lag Pécresse in einer sensationellen Umfrage sogar 4 Prozentpunkte vor Macron).

Obwohl er seine Kandidatur erst noch erklären muss, ist Präsident Emmanuel Macron nach wie vor der eigentliche Favorit. Macron, der von seinen Gegnern aus dem gesamten politischen Spektrum als realitätsfern verspottet wird, hat den Vorteil, Amtsinhaber zu sein. In einer Zeit großer Unsicherheit – Klimakrise, Pandemie, zunehmende geopolitische Spannungen und ein Erstarken der Rechtsextremen – kann er kampferprobte Erfahrung und Stabilität einbringen. Er verfügt nicht nur über eine solide Anhängerbasis in der Mittelschicht und vermögenden Kreisen, sondern hat auch die Fähigkeit bewiesen, in der Stichwahl eine große Anhängerschaft gegen die Rechtsextremen zu mobilisieren.

Er kann zudem auf die starke Unterstützung der französischen Wirtschaftseliten zählen (auch wenn diese kein Problem damit hätten, ihre Loyalität gegebenenfalls auf Pécresse zu übertragen). Und während die linke Wählerschaft es zunehmend satthat, sich die Nase zuzuhalten und in der Stichwahl für das kleinere Übel zu stimmen, baut Macrons Team darauf, dass ein Hauch von Protofaschismus wahrscheinlich ausreichen wird, um sie wieder zu mobilisieren. Aber hier liegt eine offensichtliche Schwachstelle. Wenn Macron gegen Pécresse antritt, wird seine Wiederwahl sehr viel schwieriger. Dies führt auch zu dem tragikomischen Szenario, dass der Präsident bei der linken Wählerschaft um Unterstützung betteln muss, nachdem er sie während seiner gesamten fünfjährigen Amtszeit ignoriert hat.

Die gespaltene Linke 

Kurz gesagt: Linke Parteien sind in dieser Phase im Grunde nicht wettbewerbsfähig. Anfang Dezember zeigen die Umfragen immer wieder, dass kein*e einzige*r Kandidat*in der Linken zu den vier Spitzenkandidat*innen zählt, und das liegt nicht an einem Mangel an Optionen.

Die üblichen Verdächtigen liegen in den Umfragen bei etwa einem Prozent: Nathalie Arthaud von der trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière und Philippe Poutou, ein Automobilarbeiter, der die Neue Antikapitalistische Partei vertritt. Ebenfalls im Rennen ist Anasse Kazib, ein Eisenbahner von der Révolution Permanente, einer Splittergruppe der NPA. 

Zu den zu erwartenden Protestkandidat*innen gesellen sich noch einige weitere prominente Namen: Fabien Roussel führt eine Kampagne, deren Hauptziel es zu sein scheint, die Aktivist*innen in und um die Kommunistische Partei Frankreichs wiederzubeleben, eine gefallene Riesin, die immer noch Hunderte von lokalen Mandatsträger*innen hat, aber auf der nationalen Bühne um Bedeutung ringt. Nachdem die Partei zweimal hintereinander die Präsidentschaftskandidatur von Jean-Luc Mélenchon unterstützt hat, präsentiert sie in diesem Jahr ihre eigene Liste – und es gelingt ihr nicht, an Zugkraft zu gewinnen. Der ehemalige Wirtschaftsminister von François Hollande, Arnaud Montebourg, hat ebenfalls Mühe, in die Gänge zu kommen. Mit dem Versprechen einer großen patriotischen Remontada (seine Kampagne wählte unerklärlicherweise den ursprünglichen spanischen Begriff) steckt seine Kandidatur bei unter 2 Prozent fest.

Die ernstzunehmenderen antretenden Listen schneiden nicht viel besser ab. Die von der Sozialistischen Partei (PS) unterstützte Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat in den Umfragen nicht punkten können. Zum jetzigen Zeitpunkt kommt sie auf knapp 5 Prozent der Stimmen und liegt damit knapp unter dem katastrophalen Ergebnis des Kandidaten Benoît Hamon von 2017. Yannick Jadot von der Partei Europe Écologie-Les Verts (EELV) konkurriert um einen ähnlichen Wählerstamm. Er liegt vorerst vor Hidalgo, obwohl auch er im einstelligen Bereich bleibt. Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise schneidet in den Umfragen mit rund 10 Prozent etwas besser ab als die Beiden, liegt aber immer noch weit unter seinem Ergebnis von 2017 von fast 20 Prozent.

Das Problem mit der Einheit der Linken

Angesichts dieser traurigen Lage hat Anne Hidalgo die Linken zur Einheit aufgerufen und die Kandidat*innen zur Teilnahme an einer offenen Vorwahl ermutigt – eine Geste, die von Montebourg begrüßt, von Jadot, Roussel und Mélenchon aber bislang abgelehnt wird. Der Appell hat auch die Tür für die Überraschungskandidatur von Cristiane Taubira geöffnet, einer ehemaligen Justizministerin unter Hollande, die bei der fortschrittlichen Wählerschaft ein positives Image hat, aber bisher wenig darüber verlauten ließ, wie ihre Plattform aussehen würde. (Nachdem sie ihre Absicht, für das Präsidentenamt zu kandidieren, bekannt gegeben und ihre Unterstützung für die Einheit der Linken unterstrichen hat, kündigt Taubira an, dass sie Mitte Januar weitere Einzelheiten zu ihrer Kampagne bekannt geben will.) Eine kürzlich durchgeführte Umfrage hat jedenfalls ergeben, dass die Idee eines progressiven Bündnisses breite Unterstützung findet: Drei Viertel der sich selbst als links bezeichnenden Wähler*innen sprachen sich für eine offene Vorwahl aus.

Die Befürworter der linken Einheit sagen, dass in einer Zeit, in der die Parteien zu schwach sind, um allein konkurrenzfähig zu sein, und die nationale politische Debatte so weit nach rechts gerückt ist, kein Weg daran vorbeiführt. Kritiker halten dies für einen opportunistischen Trick der PS und ihrer Verbündeten – eine Einladung, die nur erfolgt sei, weil Hidalgo eingesehen habe, dass ihr eigener Wahlkampf zum Scheitern verurteilt ist – und sehen in der Einheit nicht den Königsweg für 2022.

Beide Seiten haben gute Argumente.

Die derzeitige Zahl der Kandidaturen macht es mathematisch nahezu unmöglich, dass ein*e Kandidat*in allein das Rennen um die Präsidentschaft bestreiten kann. Das Vorhandensein von zwei Kandidat*innen mit wirklichen ideologischen Differenzen wäre schon schwierig genug, aber die aktuelle Vielzahl von Listen stellt noch eine ganz andere Herausforderung dar – ein Szenario der gegenseitigen Zerstörung, das von so gut wie allen Beteiligten auch erkannt wird. Doch die Probleme gehen noch viel tiefer. Wie die jüngsten Umfragen und Wahlergebnisse gezeigt haben, mangelt es den linken Parteien außer bei einem Teil der Mitte-Links-Wählerschaft, die regelmäßig zur Urne geht, an Glaubwürdigkeit, während ihre historischen Verbindungen zur Wählerschaft der Arbeiterklasse weitgehend verloren gegangen sind. Das sind gravierende Schwachstellen, die nicht einfach dadurch übertüncht werden können, dass man die Stimmenanteile der einzelnen beteiligten Parteien zusammenzählt und auf das Beste hofft. Selbst wenn sie die schwierige Aufgabe meistern würde, die Parteien hinter sich zu vereinen, wäre Taubira mit diesen enormen Herausforderungen konfrontiert.

Jean-Luc Mélenchon ist nicht daran interessiert, Kompromisse in Bezug auf sein Programm oder seine Strategie einzugehen, und hält vorerst an seinem ursprünglichen Plan fest, indem er andere ermutigt, seine Kandidatur zu unterstützen. Das ist nicht nur von Egoismus getrieben, wie seine vielen Kritiker behaupten. Zwischen La France Insoumise, der PS und den Grünen bestehen echte programmatische Differenzen – in Bezug auf die Umverteilung des Wohlstands, die Europäische Union, Vorschläge zur Wiedereinführung eines parlamentarischen Systems in einer Sechsten Republik und den Umgang mit dem wachsenden Rassismus und der Diskriminierung von Muslim*innen. Darüber hinaus führen die Insoumis eine Kampagne, die auf eine einkommensschwache Wählerschaft und diejenigen abzielt, die eher nicht zu den Urnen gehen – ähnlich wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, nicht zu vergessen Mélenchon selbst im Jahr 2017. Das Image des 70-Jährigen hat sich seither verschlechtert, aber wie mir der Abgeordnete aus Marseille im Oktober über Skype mitteilte, glaubt er immer noch, dass ihn dieses Mal ein schmaler Pfad zum Sieg führen kann. Angesichts der Spaltung der rechtsextremen Wählerschaft durch die Kandidatur von Zemmour glaubt Mélenchons Team, dass eine niedrigere Hürde für die Qualifikation für die zweite Runde ihm eine Chance eröffnet.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Mélenchon dazugehört, ist die Einheit der Linken nicht völlig vom Tisch. Ein Bündnis zwischen den Grünen und den Sozialisten scheint irgendwann wahrscheinlich zu sein, entweder hinter dem*r Gewinner*in einer offenen Vorwahl – was der Platzhalterin Christiane Taubira die Möglichkeit geben würde, beide zusammenzuführen – oder in einer anderen Form im weiteren Verlauf des Wahlkampfs.

Schon vor Hidalgos öffentlichem Aufruf zur Einheit hatten die Parteien Interesse an einer Art Wahlbündnis bekundet, vorzugsweise für die Parlamentswahlen im Juni. Es war nur schwierig, den Deal zu besiegeln: Die PS-Spitze glaubte – fälschlicherweise –, dass Hidalgos Kampagne ihre Partei wieder zum dominierenden Gravitationszentrum der Linken machen würde, während viele führende Vertreter*innen der Grünen der Meinung waren, es sei an ihnen, ein linkes Wahlbündnis anzuführen. (Sie verweisen auf eine Reihe positiver Wahlergebnisse in den letzten Jahren, darunter die Europawahlen 2019 und die Kommunalwahlen 2020, bei denen sie unter anderem in Lyon, Straßburg und Bordeaux an die Spitze kamen.) Innerhalb der EELV wollen viele auch eine Wiederholung von 2017 vermeiden, als Jadots Unterstützung für Hamon der Partei keine wirklichen Vorteile brachte. Dies erklärt die eher verhaltene Reaktion einiger Grüner auf die neuerliche Debatte über die Einheit der Linken: Wenn die Sozialisten und ihre Verbündeten Bedenken haben, warum stellen sie sich nicht einfach hinter Jadot, gehen an die Arbeit und bauen noch heute ein Bündnis auf?

Derweil wird Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei wahrscheinlich schon bald unter Druck geraten. Wenn seine Kampagne nicht in Fahrt kommt, wird er sich zwischen den beiden sich herausbildenden Gravitationszentren – dem grün-sozialistischen Pol oder dem vertrauteren Lager von Les Insoumis – entscheiden müssen, wohlwissend, dass ein Deal mit dem einen oder anderen das Schicksal der PCF bei den Parlamentswahlen bestimmen könnte. Gleichzeitig werden Kampagnen für die Präsidentschaftswahlen teilweise vom französischen Staat erstattet, wenn sie mindestens 5 Prozent der Stimmen einbringen – ein Anreiz für Roussel und andere, das sich anbahnende Desaster einfach in Kauf zu nehmen.

Die Zeit läuft davon

Je länger sich der gegenwärtige Schlamassel hinzieht, desto größer wird der Druck auf die Parteien, sich zu einigen – und das gilt auch für Mélenchon. Schließlich will die Wählerschaft der Linken bei der Wahl ein Wörtchen mitreden. Sie ist größtenteils vom aktuellen politischen Klima angewidert und schert sich herzlich wenig darum, wie sich die Ergebnisse auf die Machtverhältnisse oder die Zukunft der Parteien auswirken werden.

Eine Kampagne, die sich nicht scheut, den Rechtsextremen die Stirn zu bieten und für ein grundlegendes wirtschaftliches Umverteilungsprogramm zu kämpfen, könnte eine Chance auf den Sieg haben. Aber angesichts der Mischung aus strukturellen Schwächen und konkurrierenden kurzfristigen Interessen ist nicht klar, ob die derzeitigen Parteien für die gewaltige Herausforderung, vor der sie stehen, gerüstet sind. Die letzten französischen Präsidentschaftswahlen waren immer wieder für Überraschungen gut, aber diesmal läuft die Zeit davon.