Nachricht | Geschichte - Afrika - Nordafrika «... meine Zukunftsvision mit all den progressiven Elementen»

Interview mit dem Wissenschaftler und Politiker Mohammed Harbi

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Autor

Andreas Bohne,

Mohammed Harbi Richard Dumas/Agence VU/laif

Mohammed Harbi ist der Spezialist für die Geschichte und die Politik Algeriens und gilt als einer der großen algerischen progressiven Intellektuellen. Er wurde 1933 in El-Harrouch / Algerien geboren. Während des Unabhängigkeitskrieges übernahm Harbi wichtige Aufgaben innerhalb der FLN und nahm an den Verhandlungen über das Abkommen von Evian teil. Als Berater des ersten algerischen Präsidenten Ahmed Ben Bella wurde er nach dem Putsch von Houari Boumedienne von 1965 bis 1968 inhaftiert. 1971 wurde er unter Hausarrest gestellt und floh 1973. Im französischen Exil arbeitete er als Universitätsprofessor, u.a. als Professor für Geschichte in Paris. Er ist Autor und Mitherausgeber von Büchern wie «Le FLN: mirage ou réalité? Des origines à la prise du pouvoir (1945–1962)» (1980) oder «La guerre d'Algérie. 1954–2004: la fin de l'amnésie» (2004) gemeinsam mit Benjamin Stora aus Anlass des 50. Jahrestages des Kriegsausbruchs in Algerien. Heute lebt von der algerischen Geheimpolizei, radikalen Islamisten und rechtsgerichteten französischen Siedlern bedroht zurückgezogen in Paris. Ein Gespräch über den Unabhängigkeitskrieg, die Entwicklung der FLN und die französische Erinnerungspolitik.

Ich möchte mit einer persönlichen Frage beginnen, wenn Sie gestatten: Wie lebt man im Exil in der Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht?

Ich muss sagen, dass ich nicht einen Augenblick daran dachte, dass ich mich im Land meines Gegners befand. Ich habe hier jahrelang als Student gelebt und dann im Untergrund, während dessen ich von meinen französischen Kommilitonen beschützt wurde. So gut, dass nur zwei von uns, Taieb Boulehrouf (Taieb Boulahrouf war ein Kämpfer der ersten  Stunde und mit Mohamed Harbi in der Führung der Fédération de France der FLN. Nach der Unabhängigkeit war er Botschafter in zahlreichen Ländern - AB).und ich, nicht verhaftet wurden. Als die FLN (Front de Libération Nationale, Nationale Befreiungsfront) beschlossen hatte, nach Deutschland zu gehen, war ich der Einzige, der sich dagegen aussprach, weil ich aus verschiedenen Gründen wollte, dass wir in Frankreich bleiben.

Sie haben sich schon früh für ein säkulares und sozialistisches Algerien eingesetzt und sind dadurch schnell in Konflikt mit Ihren eigenen Kameraden in der FLN geraten, was zu Ihrer Inhaftierung führte. Welche Vision hatten Sie von einem unabhängigen Algerien?

Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr kann man sagen, dass ich eine ausschließlich gemeinschaftliche Vision hatte. Aber am Vorabend der Wahl zur algerischen Versammlung trat ich der PPA-MTLD bei (Die Parti du Peuple Algérien (PPA) wurde 1937 von Messali Hadj gegründet. 1945 erfolgte die Umbenennung der PPA zu «Mouvement pour le triomphe des libértes démocratiques» (MTLD) - AB). Damit begann meine nationalistische Periode, die von der Führung Messali Hadjs dominiert wurde. Die Spaltung der PPA-MTLD sollte mit einer Debatte in der Studentenbewegung über die nationale Frage zusammenfallen. Zu diesem Zeitpunkt kristallisierte sich meine Zukunftsvision mit all den progressiven Elementen heraus, darunter die Kommunisten, die die Idee der Unabhängigkeit in einem säkularisierten Algerien verteidigten, einschließlich der Europäer, die mit dieser Idee einverstanden waren. Allerdings fehlte es nicht an Tiefschlägen. Wir baten Ferhat Abbas [Politiker, setzte sich für die Gleichstellung von Algerier*innen mit den Franzos*innen innerhalb des französischen Staatsverbands ein und war u.a. 1962 bis 1963 Präsident der algerischen Nationalversammlung – AB], der sich gerade in Paris aufhielt, um eine Entscheidung zwischen uns, den nationalistisch-islamischen Kräften in der MTLD und den progressiv-säkularen, die bereit waren, mit der KP zusammen zu arbeiten. In diesem Zusammenhang wurde die FLN gegründet und ich trennte mich von meinen nationalistischen Kameraden, aber da ich für den bewaffneten Kampf war, fand ich viele von ihnen innerhalb der FLN wieder.

Sie waren 1962 an der Aushandlung des Abkommens von Evian beteiligt. Dieses Abkommen markiert einen der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur algerischen Unabhängigkeit, ist aber aufgrund der Zugeständnisse an Frankreich, insbesondere der wirtschaftlichen Garantien, auch sehr umstritten. Wie bewerten Sie das Abkommen 60 Jahre danach? Welche Rolle spielten dabei die französischen Atomtests in der Sahara? Welche langfristigen negativen Folgen hat das Abkommen Ihrer Meinung nach für Algerien?

Angesichts der Situation der ALN (Armée de libération nationale, Nationale Befreiungsarmee – der militärische Flügel der FLN) vor Ort, der Meinungsverschiedenheiten der FLN-Führer (GPRA und Generalstab) und des Drucks von Tunesien und Marokko, diesen Krieg, der schon viel zu lange gedauert hatte, zu beenden, war diese Abkommen sehr willkommen. Was ich heute denke, dachte ich damals nicht, denn ich verstand sofort, dass die Macht der Exekutive und die finanziellen Abmachungen ein Weg waren, Algerien in eine halbe Unabhängigkeit zu führen.

Was die Sahara und die Atomtests betraf, hatten wir uns auf meiner Ebene durchaus Fragen gestellt; uns wurden jedoch nie die Elemente zur Verfügung gestellt, die es uns ermöglicht hätten, an einer echten Diskussion teilzunehmen. Für die FLN-Führung war klar, dass Frankreich in der Atomfrage alle Zugeständnisse gemacht werden mussten. Ich möchte dennoch klarstellen, dass ich zwar zur Regierungsdelegation gehörte, aber nicht am Verhandlungstisch saß, insbesondere aufgrund meines Status als Befehlsverweigerer und der Tatsache, dass nach mir in Frankreich gefahndet wurde.

In seinem wohl wichtigsten Werk "Die Verdammten dieser Erde" warnte Frantz Fanon bereits 1961, dass die FLN keine neue Ordnung errichten würde, sondern an die Stelle der Kolonialmacht treten könnte. Wie bewerten Sie diese Analyse?

Ich war mit Fanon nicht einverstanden, was seine Vorstellung von den treibenden Kräften der Revolution betraf, aber in diesem Punkt traf er den Nagel auf den Kopf. Er hatte von den Säuberungen der FLN in den Wilayas [Militärbezirke – AB] III und IV und den dort angewandten Methoden Kenntnis genommen. Die Gründer der FLN waren der Ansicht, dass die Demokratiefrage im Moment des Sieges angegangen werden könnte. In der Tat waren sie Kandidaten für die Nachfolge der Kolonialmacht.

Während Ihres Exils haben Sie einen zweiten Lebensweg eingeschlagen - von der Politik zur Forschung und zum Journalismus, ohne dabei unpolitisch zu werden. Ein erstes Ergebnis war das Buch "Aux origines du FLN" (1975), weitere Bücher folgten. Können Sie Ihre Ergebnisse kurz zusammenfassen?

Seit etwa zehn Jahren sind die von mir veröffentlichten Arbeiten - «Aux Origines du F.L.N.» (1975) oder «Le F.L.N.: Mirage et Realite» (1980 und 1985) - Meilensteine auf dem Weg zur Entwicklung einer Theorie der Eroberung und Erhaltung der politischen Macht in nicht entwickelten Gesellschaften. Auf der Ebene der politischen Theorie lassen sich die wichtigsten Ergebnisse dieser Forschungen in drei Hauptbereichen zusammenfassen:

Erstens die Notwendigkeit, in der Analyse zwischen den von den nationalen Befreiungsbewegungen verkündeten - oft modernistischen und sozialisierenden - Ideologien und den organisatorischen Strukturierungsformen (die traditionelle und archaische Solidaritäten reproduzieren, z. B. Parteien und Armeen) zu unterscheiden, die sich diese Bewegungen gegeben haben: Im Fall des Kampfes des algerischen Volkes für die Unabhängigkeit zeigt die Analyse die Diskrepanz zwischen der mobilisierenden Ideologie nationalistischer und einstimmiger Art und dem Clanismus, dem Segmentarismus und den radikalen Interessengegensätzen, wie sie die Nationale Befreiungsfront, die wichtigste und einzige Partei, die den revolutionären Prozess leitete, strukturierten.

Zweitens die Notwendigkeit, zwischen den tieferen Motivationen der Bevölkerungen innerhalb einer Mobilisierungssituation und dem Interessensystem der aktiven Führungsgruppen zu unterscheiden. Ich habe gezeigt, dass diese Unterscheidung zwischen tieferen Motivationen und Interessensystemen auf zwei entgegengesetzte Bezugsordnungen verweist: die der Wiedergewinnung des Selbst, also der Befreiung, die von den Bevölkerungen als Rettung aufgefasst wird, und die der Beherrschung der politischen Macht, die von den führenden Gruppierungen angestrebt wird. Dieser Ansatz verdeutlicht die Dualität des Prozesses der nationalen Befreiung: es gibt keine Übereinstimmung zwischen der organisatorischen Logik und der Logik der sozialen Bewegungen; es gibt vielmehr eine Art Kurve, deren Formen von Abweichungen und Annäherungen durch eine komplexe Reihe von Faktoren bestimmt werden.

Und drittens schließlich die Notwendigkeit, das Problem der Konstituierung einer öffentlichen Sphäre in nicht entwickelten Gesellschaften ausgehend von ihrer eigenen Geschichtlichkeit zu stellen. Westliche Erfahrung kann hier bestenfalls als Analogon, aber nicht als privilegierte Referenz dienen. In Wirklichkeit - die politische Geschichte der algerischen nationalen Befreiungsbewegung belegt dies - tendiert die politische Sphäre hier eher dazu, sich im relativ kleinen internen Raum der politisch-militärischen Apparate selbst zu konstituieren.

In einem kürzlich geführten Interview haben Sie die derzeitige Situation in Algerien als «immense kulturelle Regression» bezeichnet; können Sie Ihre Aussage präzisieren?

Die Idee der Wiederherstellung Algeriens im Volksnationalismus bedeutete die Rückkehr rückwärtsgewandter Praktiken. Es gab ein Misstrauen gegenüber der Moderne, das sich allmählich über die Frage der Identität und der Religion durchsetzte. Soziale Fragen (Agrarreform, Lohnarbeit, Emanzipation der Frauen) wurden über diese beiden Kategorien gestellt. In Wirklichkeit tragen die Modernisten eine gewisse Mitverantwortung für diese Entwicklung. Sie haben das Feld des Wandels unter dem Vorwand, Konflikte zu vermeiden, faktisch verlassen und es so den Islamisten und Obskuranten ermöglicht, in die Offensive zu gehen, und das bereits 1964. Nur dass 1964 einer ihrer Führer, Tidjani, beispielsweise argumentierte, dass die Frage des Schleiers keine islamische Frage sei. Darüber hinaus wäre es falsch, bei den Problemen, mit denen Algerien heute konfrontiert ist, die Umwälzungen zu vernachlässigen, die durch die massive Ruralisierung der Städte und das Scheitern der Industrialisierung ausgelöst wurden. In diesem Zusammenhang ist auch das Wiederaufleben von Praktiken aus einem anderen Zeitalter zu sehen, die alle sozialen Schichten betreffen, sei es Exorzismus oder Wunderheilmittel. 

Algerien war lange Zeit ein führendes Land in der nationalen Bewegung der Blockfreien. Gibt es heute noch drittweltliche Prinzipien in der algerischen Außenpolitik?

Man kann sagen, dass einige algerische Führer im Überschwang nach dem wichtigen politischen Sieg der Unabhängigkeit nicht zögerten, sich wie ein Fidel Castro in Lateinamerika oder ein Sékou Touré in Afrika als Vorbild aufzuspielen, wobei sie vielleicht die Existenz anderer großer Länder wie Indien und Vietnam übersehen haben. Heute hat Algerien sein internationales Publikum verloren, so groß ist seine Verstrickung. Von Solidarität kann keine Rede sein, wenn nur der Nationalismus die internationalen Beziehungen prägt. 

2004 haben Sie zusammen mit Benjamin Stora ein Sammelwerk mit dem Titel «La guerre d'Algérie 1954-2004: la fin de l'amnésie» (Der Algerienkrieg 1954-2004: das Ende der Amnesie) veröffentlicht. Nahm das Ende der Amnesie über den Algerienkrieg nicht die tatsächlichen Bedingungen vorweg?

In Wirklichkeit handelte es sich hierbei eher um eine Frage als um eine Aussage, und die Frage bleibt weiterhin offen. Der Zeitpunkt des Gedenkens darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dinge in diesem Punkt nach wie vor festgefahren sind. Ein Beweis dafür ist das Schicksal des Projekts von Charles Jauffret, eine dreibändige Publikation über den Algerienkrieg zu veröffentlichen. Dieses Projekt wurde nach dem Erscheinen des zweiten Bandes abgebrochen.

Die Meinung, dass Algerien bis zur Landung der französischen Armee ein «Niemandsland» war, hält sich hartnäckig. Präsident Emmanuel Macron sagte kürzlich, dass es vor der französischen Kolonialisierung 1830 keine algerische Nation gegeben habe. Was halten Sie von Macrons Erklärung, der in geringerem Maße - ich denke an die Rede über die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter an der Universität von Ouagadougou (Burkina Faso), die Beauftragung von Benjamin Stora mit einer Studie über die Erinnerung an die Kolonialisierung und den Algerienkrieg oder die aktuelle Anerkennung der Mitschuld am ruandischen Völkermord - Maßstäbe in der Erinnerungspolitik gesetzt hat? Was erwarten Sie von Macron?

Bereits 1955 hatte dieses Argument die Generalversammlung der Vereinten Nationen, die die Algerienfrage auf ihre Tagesordnung gesetzt hatte, nicht überzeugt. Wie jede Nation hat sich auch Algerien in mehreren Etappen gebildet. Unter den Problemen, mit denen es konfrontiert ist, ist das Problem der Vielfalt stark mit der Frage der Staatsbürgerschaft verbunden. Daran arbeiten die Algerier.

Abschließend möchte ich auf meine ursprüngliche Frage zurückkommen und das Exil erwähnen. Derzeit wird die algerische Diaspora als extrem politisiert und zentral in Bezug auf den Hirak angesehen. Das Regime hat erkannt, dass die Diaspora eine Gefahr darstellen könnte, weshalb es das Land zu Beginn der Pandemie über ein Jahr lang komplett abgeschottet hat. Was unterscheidet die algerische Diaspora von der tunesischen oder marokkanischen Diaspora und warum ist die algerische Diaspora so zentral für den Hirak?

Die Vorstellung, dass die Diaspora eine Gefahr darstellt, ist völlig inakzeptabel. Wenn die Algerier Freiheit hätten, würden sie ihre Probleme zu Hause und in einem legitimen Parlament lösen. In der Vergangenheit spielte diese Diaspora eine führende Rolle bei der Bewusstseinsbildung für die nationale Befreiung. Daher bleibt ihr Andenken für viele Algerierinnen und Algerier eine Referenz im Kampf für die Freiheit.