Für das Studienpaket des Projekts «Sozial-ökologische Transformation der deutschen Industrie», dass in diesem Dossier zu finden ist, lag der Redaktionsschlusses im März. Deswegen konnte kaum noch auf jene Zäsur eingegangen werden, die die russische Aggression gegen die Ukraine für die Klima- und Energiepolitik Deutschlands bedeutet. Hier der Versuch einer Einordung.
Zerrissene Politikansätze
Der grüne Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck steckt im Dilemma: Einerseits konnte sich seine Partei in der Koalition beim Ökostromausbau durchsetzen. Das aktuelle Osterpaket, welches die Novellen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) und das Wind-Energie-auf-See-Gesetzes (WindSeeG) einleitet, ist zweifellos ambitioniert. Andererseits sieht sich Habeck infolge des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine gezwungen, weltweit auf Einkaufstour zu gehen, um die hohe Abhängigkeit der Bundesrepublik vom russisches Erdgas zu verringern. Dies ist sinnvoll. Doch der Ersatz soll mangels schneller Alternativen vor allem durch verflüssigtes Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) geschehen. Insbesondere LNG aus den USA wird unter klima- und umweltschädlichen Bedingungen im Fracking-Verfahren gewonnen. Gegenüber Putins Trassengas ist es dreckiger.
Parallel will die Bundesregierung durch verstärkte Investitionen in erneuerbare Wärme und Gebäudeeffizienz den Verbrauch von Erdgas senken. Das wirkt allerding nur mittelfristig. Käme es zeitnah zur Einstellung russischer Gaslieferungen, ständen im nächsten Winter die Absenkung der Raumtemperaturen (inwiefern es sich durchsetzen lässt, sei dahingestellt) und die Abschaltung von besonders Gas-intensiven Produktionslinien bevor.
Während vor dem Krieg häufig von Erdgas als «Brücke» in die Erneuerbaren-Welt beschrieben wurde, konstatiert nun Habecks Staatssekretär Patrick Graichen: «Die Brücke ist eingestürzt». Vor diesem Hintergrund bietet die Wasserstoffwirtschaft ihre Dienste an: Strombetriebene Elektrolyseanlagen sollen hierzulande und im Ausland schneller aufgebaut werden, um mit dem produzierten Wasserstoff vermeintlich umweltfreundlich Erdgas zu ersetzen. Vermeintlich, weil frühe Wasserstoffproduktion zusätzliche Treibhausgase freisetzt, statt einspart.
Beim Erdöl wiederum werden offensichtlich nur die Bezugsquellen getauscht. Tempolimit? Fehlanzeige. Verbot von SUVs? Undenkbar. Selbst das 9-Euro-Montaticket der Bundesregierung für den ÖPNV ist zeitlich begrenzt.
Es geht in Berlin also vieles durcheinander momentan, teils kurzatmig von der aktuellen Konfrontation mit Moskau getrieben, teils langfristig politisch gesteuert – und zwar in beide Richtungen, pro und contra Klimaschutz.
Notwendige Leitplanken
Nicht nur für den Klimaschutz, auch für Haushalte und Wirtschaft könnte es gleichermaßen eng werden, sollten unter dem aktuellen Druck die Weichen falsch gestellt werden. Was muss also verhindert werden, wo bieten sich neue Chancen?
LNG und LNG-Terminals: Habecks weltweite Einkaufstour für Flüssiggas ist nachvollziehbar. Liefereinstellung bei Gas können abrupt erfolgen, sowohl von russischer Seite als auch von europäischer. Für die kommenden zwei Winter reichen zusätzliche Pipeline-gebundene Gaslieferung (etwa aus Norwegen) bei Weitem nicht aus, um gegebenenfalls Lieferlücken zu schließen. Das ist vor allem im Wärmebereich ein Problem: Mehr Tempo bei Gebäudesanierungen oder ein deutlicher Zubau von Wärmepumpen kommen erst mit Verzögerung zum Tragen. Die Absenkung von Raumtemperaturen um ein bis zwei Grad gilt als ein großer Hebel zur Minderung des Gasverbrauchs. Es bleibt aber unklar, wie das bei privaten Haushalten umzusetzen wäre.
Von staatlicher Seite würde die Reduzierung von Wärmelieferungen im Gebäudebereich nach dem Energiewirtschaftsgesetz und dem Notfallplan Gas der Bundesregierung ohnehin das letzte Mittel sein. Zuvor wären Industrie und andere Großverbraucher dran. Vorübergehende Abschaltungen von Industrieanagen mit besonders großem Gasverbrauch könnten die Folge sein – mit entsprechend harschen Wirkungen auf Beschäftigung und Preise.
Vorübergehend müssen LNG-Importe darum wohl in den Instrumentenkasten, so kritisch sie aus Sicht des Klimaschutzes (Fracking) und der Menschenrechte (etwa Katar) auch sein mögen. Weil sich in Deutschland keine LNG-Terminals befinden und die mit Pipelines erreichbaren europäischen inzwischen gut ausgebucht sind, könnten damit in Deutschland auch vorübergehende gecharterte schwimmende Terminals verbunden sein, so genannte FSRU. Die Abkürzung steht für «Floating Storage und Regasification Unit». Die Bundesregierung plant momentan vier bis sieben davon an den Küsten (Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven), von denen die ersten Ende des Jahres einsatzbereit sein sollen. Eine nachvollziehbare Erklärung, dass so viel FSRU gebraucht werden, bleibt die Bundesregierung bislang schuldig.
Unbedingt zu verhindern sind der Bau von festen LNG-Terminals. Sie würden erst in ein paar Jahren einsatzbereit sein und sich wirtschaftlich erst über 30 Jahre abschreiben. Doch nach den Klimaschutzvorgaben muss sich der deutsche Gasverbrauch in den nächsten Jahren deutlich verringern. Feste LNG-Terminals wären damit «stranded investments». Im schlechtesten Fall sogar ein Lock-in in eine neue fossilistische Phase. Experten weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich LNG-Terminals nicht einfach mal für die Anlandung von Wasserstoff umstellen lassen, wie es häufig behauptet wird. Im Übrigen gilt weiterhin: Ob sich für die kommenden zwei Winter ausreichend LNG-Gas am Weltmarkt auftreiben lässt, ist bislang genauso unsicher, wie die Mengen von Wasserstoffimporten, von denen manche Politiker und Wirtschaftskapitäne träumen.
Gaskraftwerke: Noch ist offen, inwieweit sich mit der neuen Erdgasstrategie tatsächlich auch der Umfang des Baus und des Einsatzes neuer Gaskraftwerken verringern wird (etwa durch alternative Flexibilitätsoptionen, sofern verfügbar), oder ob hier statt Erdgas anteilig LNG und - gegebenenfalls deutlich früher als geplant - Wasserstoff zum Einsatz kommen werden. Experten rechneten bislang im Zuge von Atom- und Kohleausstieg mit 23 bis 40 Gigawatt zusätzlichen Gaskraftwerken in den nächsten Jahren als Backup für Zeiten mit wenig Ökostrom. Sie hätten geringe Einsatzzeiten und sollten «H2-Ready» sein, also sich später auf Wasserstoff umrüsten lassen.
Generell gilt für die verbliebenen und ggf. noch zuzubauenden Gaskraftwerke: Diese dürfen nur wenige hundert Stunden im Jahr laufen, etwa bei Windflaute am Abend, und keinesfalls tausende Stunden in Grundlast. Für den Klimaschutz wäre Ersteres unproblematisch. Zum Problem würde es erst, wenn der Ausbau der Ökostromerzeugung und von Speichern langsamer vonstattenginge als geplant. Dann würde Erdgas länger einspringen müssen – mit entsprechenden Folgen für das Weltklima.
Ein zu früher Einsatz von Wasserstoff in Gaskraftwerken (etwa über Beimischung bis zu 15 Prozent, die in modernen Anlagen möglich ist) wäre das Gegenteil von Klimaschutz. Aufgrund der hohen Energieverluste bei der Elektrolyse spart Wasserstoff erst ab einem Ökostromanteil von mehr als 70 Prozent (Deutschland aktuell 42 Prozent) Treibausgase gegenüber der Nutzung von Erdgas ein. Vorher wäre er klimaschädlicher.
Erdöl: Hier liegt es auf der Hand. Der Verkehrsbereich hat nie geliefert und liefert noch immer nicht. Dessen CO2-Emissionen liegen auf dem Niveau Anfang der 90er Jahre – woran sich bislang auch unter der neuen Bundesregierung kaum etwas ändert. Wirksame Maßnahmen zur Verringerung des motorisierten Schwerlast- und Individualverkehrs auf der Straße, ein Tempolimit oder ein Verbot von tonnenschweren SUVs sind nicht in Sicht. An der Misere werden auch E-Autos wenig ändern, wenn sie lediglich das alte ressourcenfressende und menschenverachtende Verkehrssystem weiterführen sollen. Hier liegt dann auch die Antwort, die in der aktuellen Krise umso dringlicher wird: Restriktionen gegen Spritschlucker statt Treibstoffsubventionen, echte Verkehrswende in Richtung eines qualitativ guten und bezahlbarer ÖPNV. Mehr Bahn-, Bus-, Fahrrad- und Fußverkehr.
Kohleausstieg: Die Bundesregierung hat ihr Ziel, den Kohleausstieg bis 2030 anzustreben, noch nicht aufgegeben. Um einen Teil jener 13 Prozent Erdgas zu sparen, die im letzten Jahr noch Gaskraftwerke an der Stromerzeugung lieferten, wird aber folgendes geprüft: Inwiefern lassen sich alte Kohlemeiler, die sich momentan in der Kapazitäts- oder in der Netzreserve befinden, bzw. in diesem Jahr dorthin wechseln sollten, für ein oder zwei Jahre aktivieren. Nicht gut für den Klimaschutz, aber angesichts der Lage pragmatisch und akzeptabel. Das 2030-Ziel darf jedoch keinesfalls wackeln.
Atomausstieg: Eine Verlängerung der Laufzeiten der drei letzten Atomkraftwerke, die im Übrigen keinerlei Wärme auskoppeln, würde kaum etwas zur Entspannung beitragen. Auch hätten die auf den Ausstieg Ende 2022 eingestellten Betreiber Probleme, entsprechend angefertigte Brennstäbe zu organisieren. Entsprechende Forderungen sind Unsinn.
Unsinn auch deshalb, weil unter den Tisch fällt, dass Deutschland und Europa auch im Bereich der atomaren Brennstoffversorgung von Russland abhängig sind: Nach Angaben von EURATOM bezog die EU im Jahr 2020 20,2 Prozent des Urans aus Russland. Weitere 19,1 Prozent kamen von Russlands Verbündetem Kasachstan. Die drei noch laufenden deutschen Atomkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 werden nach Aussagen von PreussenElektra hauptsächlich mit Uran aus Russland und Kasachstan sowie in geringen Mengen aus Kanada betrieben. Das ist im aktuellen Uran-Atlas zu finden, bei dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung Mitherausgeberin ist. Wenn Europa die Abhängigkeit von Russland im Energiebereich wirklich beenden will, muss es auch im Atombereich seine Zusammenarbeit mit Russland einstellen.
Wasserstoff: Der Energiewirtschafts-Spitzenverband BDEW erklärt in Bezug auf die Ukraine-Krise in einem Sachstandsbericht, entscheidend sei, «dass zu restriktive Kriterien», dafür was grüner Wasserstoff sei und zu welchen Bedingungen er produziert werde, «einen schnellen Markthochlauf auszubremsen drohen und daher verhindert werden müssen.» (BDEW-Lagebricht, 28.2.2022). Nach der bundesdeutschen Wasserstoffstrategie soll bekanntlich der Löwenanteil des künftig benötigten Wasserstoffs aus dem Ausland kommen. Mit laschen Nachhaltigkeitskriterien ginge die Produktion von Wasserstoff im Globalen Süden für den deutschen Markt jedoch zu Lasten der dortigen Bevölkerung oder der Energiewende. Damit könnte neuer imperialer Zündstoff gelegt werden (siehe auch unsere neue Wasserstoff-Westafrika-Studie «Fair Green Hydrogen» in diesem Dossier).
Problematisch unter dem Eindruck der Ukraine-Krise wäre ebenfalls ein Einsatz von Wasserstoff im Heizungsbereich (hier über Brennstoffzellen) zur Ablösung von Gasheizungen. Auch das wäre ein Lock-In in eine gegenüber Wärmepumpen extrem ineffiziente und teure Technologie – und muss daher verhindert werden, siehe auch die Klimaschutz-Argumente oben gegen den zu frühen Einsatz von Wasserstoff in Gaskraftwerken, welche ebenfalls für den Gebäudebereich gelten.
Gerechtigkeit: Die Bundesregierung hat mit den beiden Entlastungspaketen vor allem auf die Effekte der CO2-Bepreisung im Bereich Wärme und Verkehr sowie auf die Wirkung der externen Verteuerung der Energieimporte reagiert, wie sie seit Herbst 2021 zu beobachten ist. Ein Großteil der Maßnahmen sind mit Blick auf einem kurzfristigen Horizont unterstützenswert. Allerdings gehen Rentner*innen weitgehend leer aus. Dauerhafte Kompensationen sind ohnehin nicht in Aussicht, sie werden lediglich «vorbereitet». Dagegen hat die energieintensive Wirtschaft sich eine 5 bis 6 Milliarden schweres Entlastung von den steigenden Energiepreisen gesichert. Diese wird wahrscheinlich Effizienzbemühungen in den Unternehmen abbremsen, und damit tendenziell die Nachfrage nach Gas und Öl genauso treiben wie die Brennstoffpreise. Indirekt füllt das Putins Kriegskasse.
Das von der Koalition beschlossene ÖPNV-Ticket in Höhe von neun Euro pro Monat ist an sich eine hervorragende Sache. Nur wird es lediglich für drei Monate eingeführt. Mit dem Beschluss, den Spritpreis befristet auf drei Monate zu senken (Benzin um 30 Cent je Liter und Diesel um 14 Cent pro Liter), werden auch SUV-Fahrer*innen mit hohem Einkommen entlastet, man könnte dieses Geld eigentlich auch verfeuern. Die großteils begrüßenswerte Offensive im Bereich der Wärmewende (Energiestandard KfW 55 für Neubau und eine «große Wärmepumpen-Offensive») geht einher mit einem weiterhin fehlenden und längst überfälligen Schutz der Mieterinnen und Mieter unsanierter Wohnungen. So ist die geplante Einführung einer «Teilwarmmiete» zur Kompensation der neuen CO2-Bepreisung eine schräge Lösung. Schließlich haben Mieter*innen kaum Einfluss auf den energetischen Zustand der Gebäude. Es ist kaum einzusehen, dass sie den CO2-Preis künftig zwar nicht mehr vollständig, aber immer noch teilweise zahlen sollen. Hinzukommt, dass es die juristischen und ökonomischen Machtverhältnisse weiterhin zulassen, dass etliche Vermieter*innen die notwendigen energetischen Sanierungen vielfach als Brandbeschleuniger für Verdrängung missbrauchen können.
Um die anstehenden Umbrüche nachhaltig und langfristig sozial abzusichern, fehlen der Bundesregierung eine grundsätzliche Konzeption und überzeugende Instrumente. Daran dürfte auch einen Anteil haben, dass die FDP Steuererhöhungen für Gutverdienende strikt ablehnt, und damit auch einen Prozess der spürbaren Umverteilung von Einkommen und Vermögen zu Gunsten gering verdienender Haushalte. Fehlende zusätzliche Steuereinnahmen verhindern aber nicht nur die langfristige Finanzierung von gezielten Kompensationsmaßnahmen für diese Gruppen. Die enorme Schere zwischen Arm und Reich ist auch einer der Hauptgründe dafür, dass relevante Bevölkerungsschichten sehr empfindlich gegenüber jeglichen zusätzlichen Belastungen sind.