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Stefan Liebich über die wachsende Linke im größten US-Bundesstaat

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Wohnungslose campieren auf dem Rathausplatz von San Francisco.
Wohnungslose campieren auf dem Rathausplatz von San Francisco. CC BY 2.0, Christopher Michel/flickr

Mitten in San Francisco, gegenüber dem prachtvollen Rathaus, gibt es einen umzäunten Platz, der mit einem Sichtschutz versehen ist. Auf den ersten Blick wirkt er wie eine Baustelle. Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass dort Menschen in Zelten leben. Männer und Frauen, die keine Wohnung haben, man trifft sie überall in der Stadt. Gerade war man noch unter Tourist*innen am sonnigen Union Square oder fuhr mit der berühmten Cable Car, und schon eine Straße weiter sieht man bittere Armut. Leute, die offenkundig keine feste Bleibe haben und betteln, die an einer Suchterkrankung leiden oder mentale Probleme haben. Alles ganz dicht beieinander.

Stefan Liebich war von 2009 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags für Die LINKE und zuvor Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Seit Januar 2022 ist er Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dieser Beitrag ist Teil seines Projekts «Progressive America».

Meine Reise durch das andere, das progressive Amerika führte mich auch an den Pazifik in die viertgrößte Stadt Kaliforniens. Seit den 1960er Jahren ist San Francisco fest in der Hand der Demokraten, Dwight D. Eisenhower war 1956 der letzte Republikaner, der hier bei der Präsidentschaftswahl gewinnen konnte. Cannabis ist legal und in lizensierten Geschäften problemlos zu erwerben, dagegen ist das Rauchen, auch von gewöhnlichen Zigaretten, nahezu überall verboten. Ich traf eine Menge spannender Leute aus linken Organisationen und Parteien, an der renommierten Universität in Berkeley, Menschen im Einsatz für Migrant*innen, Mieter*innen und die LGBTQ+-Community. Abends in der Bar an der Ecke lernte ich John kennen, einen pensionierten Elektriker aus New Jersey, der mir erzählte, wie schwer es ihm fiel zu akzeptieren, dass sein Sohn schwul sei, aber nun sei er hier, um ihn zu besuchen: «Es ist, wie es ist. Und er ist mein Sohn.»

Dieser Text handelt von den Gesprächen, die ich mit Linken und über Linke in den USA und deren wohl derzeit wichtigste Organisation, die Democratic Socialists of America (DSA), geführt habe. Am Beispiel ihrer Ortsgruppe (Chapter) wollte ich herausfinden, wo sie herkommen, was sie antreibt, was ihre Konflikte sind und was andere über sie denken.

US-Linke auf dem falschen Dampfer?

Für Letzteres traf ich mich an einem sonnigen Morgen mit Lee Fang. Aus der U-Bahn ausgestiegen, überquerte ich erst einmal einen Markt, auf dem Leute, mit denen es das Leben und der Kapitalismus nicht gut gemeint hatten, mit offenkundig gestohlenen Gütern handelten. Dann spazierte ich durch den Mission District, einen alternativ anmutenden, aber tatsächlich mitten in der Gentrifizierung steckenden Stadtteil San Franciscos.

Lee Fang und ich trafen uns vor einem kleinen Lokal in der Valencia Street. Er arbeitet als Journalist für The Intercept, eine Website, die 2014 zur Aufbereitung von Edward Snowdens Enthüllungen gegründet wurde und sich heute vielen Themen widmet. Fang sagte mir, er bezeichne sich selbst nicht als Linken, aber er sei für eine bezahlbare Gesundheitsversorgung, angemessene Jobs, einen würdigen Ruhestand, gutes Wohnen, funktionierende Infrastruktur und eine Regierung, die sich für diese Belange einsetzt. Er finde es nicht gut, wenn Menschen nach ihrer Herkunft, Ethnie, Religion oder politischen Meinung in Lager gespalten und gegeneinander ausgespielt würden. Der Kulturkampf der Rechten wie der Linken sei falsch, weil oberflächlich. Wir seien einander viel ähnlicher, als beide Seiten suggerierten. Wir atmeten schließlich die gleiche Luft und hätten die gleichen Grundbedürfnisse. Wir alle bräuchten dasselbe System öffentlicher Sicherheit, dieselbe Infrastruktur.

Ich fühlte mich provoziert und fragte nach: der Kulturkampf der Rechten und Linken? Wie könne man Bernie Sanders, den linken Senator aus Vermont, oder Alexandria Ocasio-Cortez, die demokratische Sozialistin aus New York City, in einem Atemzug nennen mit den Republikanern, die Wahlergebnisse und demokratische Regeln nicht mehr anerkennen und längst zur Trump-Sekte geworden sind? Aus seiner Sicht, so Lee Fang, gebe es auch auf der Linken Politiker*innen, die nicht mehr die Mehrheit der Wähler*innen ansprechen wollen, sondern eher eine kleine Minderheit. Zum Beispiel wenn sie die Finanzierung der Polizei infrage stellten oder diese ganz abschaffen wollten – «Defund the Police», «Abolish the Police». Das Problem aus seiner Sicht: Das «Big Business», das an niedrigen Unternehmenssteuern interessiert sei und wisse, wie unpopulär das ist, fördere deshalb einen Kulturkampf. Je mehr über Waffen, Schwangerschaftsabbruch und Identitätspolitik gestritten werde, desto mehr gerieten andere Themen aus dem Blick: etwa dass Betriebe gewerkschaftlich organisiert werden und Beschäftigte mehr Rechte bekommen. Fangs These ist, dass in der Folge auch auf der progressiven Seite zu wenig über diese Themen geredet werde. Auf meine Frage, wie es hier denn mit der DSA stehe, meinte Fang, auch diese Leute hätten sich – obwohl sie viel über Marxismus und Sozialismus redeten – vor allem darum gekümmert, der Polizei ihre Taser (Elektroschock-Waffen) wegzunehmen. Und beim in San Francisco so wichtigen Thema Wohnen setze sich die Organisation mehr gegen Neubauten ein («Not in my backyard») als dafür, Steuern bei den Immobilienbesitzer*innen zu erheben. Menschen, die in Autofabriken arbeiteten, hätten wegen Bill Clintons Freihandelsabkommen erst die Jobs verloren, ihre Rente und ihre Würde, und dann sagten ihnen Linke auch noch, sie seien Rassisten und rückwärtsgewandt und ihre Vorfahren Mörder. Heute sei den Progressiven eine schwarze Person im Vorstand eines Unternehmens wichtiger als ein Arbeitnehmervertreter, „und das nennen sie dann Gerechtigkeit“.

Aber Lee Fang adressiert seine Kritik an der politischen Linken Kaliforniens auch an die etablierten Demokraten. Die hätten hier eine deutliche Mehrheit, aber statt progressive Politik zu machen, untersagten sie das Rauchen in öffentlichen Parks und erlaubten dafür Marihuana. Auch dahinter steckt seiner Ansicht nach die verhängnisvolle Rolle des Geldes in der US-Politik. Er glaubt, viel Geld fließe beispielsweise für Transrechte oder gegen Asian Hate, damit es dann heißen kann, wir hätten ja so viel erreicht. Dabei gehe es den Geldgebern primär darum, höhere Löhne und bessere gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern.

Als wir auf Biden zu sprechen kamen, klang Fang resigniert. Es sei tragisch, Biden habe die progressivste Agenda gehabt, die er in den USA je erlebt habe. Und anders als Obama habe der neue Präsident den Krieg in Afghanistan wirklich beendet und es nicht nur versprochen. Aber dann habe er Sanktionen verhängt, die viele Menschen dort das Leben kosten würden. Im Kongress wolle er zwar Steuererleichterungen für Familien mit Kindern, einen umweltfreundlicheren Verkehr, eine bessere öffentliche Gesundheitsversorgung, aber er könne nicht liefern. Die US-Amerikaner*innen wollten jemanden im Weißen Haus, der Großes sage und Großes tue. Sie sähen nicht das System dahinter, das es komplizierter mache, nämlich den Kongress. Wäre die Mehrheit bei den letzten Wahlen deutlicher ausgefallen, käme es nun eben nicht auf die beiden rechten Demokrat*innen Joe Manchin und Kyrsten Sinema an, die im Senat alles blockieren könnten.

Und Fang glaubt, diese Mehrheit hätte größer sein können. Zum Ende der Trump-Zeit hätten die Demokraten laut Umfragen in etlichen Wahlkreisen vorne gelegen, aber dann doch verloren, obwohl sie mehr Geld in den Wahlkampf gesteckt hatten. Das Problem war aus Fangs Sicht, dass die Republikaner unter Verweis auf Parolen wie «Defund the Police» oder «Abolish the Police» nur sagen mussten: Die wollen die Polizei zerstören, und das wird die Kriminalität erhöhen. Von dieser Nachricht fühlten sich Menschen aller Einkommensgruppen persönlich betroffen, sie sei greifbarer gewesen als alle Verteilungsfragen. Dabei hätte der Child Tax Credit (eine steuerliche Entlastung für Familien mit Kindern) die Hälfte der betroffenen Familien aus der Armut geholt. Somit trügen für die gegenwärtige Lage auch die Linken Verantwortung, weil sie über die falschen Themen gesprochen hätten.

Mich hat das Gespräch sehr nachdenklich gemacht. Vieles von dem, was Lee Fang ausgeführt hatte, passte so gar nicht in meine politische Agenda. Andererseits war ich ja nicht als Politiker hier, sondern um zuzuhören und zu verstehen, wie die politische Linke in dieser Region tickt. Sollte sie wirklich so sehr auf dem falschen Dampfer sein?

Die Democratic Socialists of America

Am folgenden Abend traf ich mich mit Jennifer Snyder, einer Mitbegründerin der DSA in San Francisco. Wer vom Stadtzentrum zur berühmten Häuserzeile «Painted Ladies» spaziert, kommt in der Grove Street bei einem kleinen Weinlokal vorbei, bei dem man, wenn es nicht zu kühl ist, draußen leckere Tapas genießen kann. Dort erzählte sie mir, dass sie aus einer sehr politischen Familie stamme. Ihre Eltern seien bei der Gewerkschaft aktiv, daheim sei viel diskutiert worden. Als Präsident Bush den Irakkrieg vom Zaun brach, wurde Jennifer, damals gerade 18, politisch aktiv und auch gleich bei einem Protest verhaftet. Sie hatte vorher nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Da ihre Eltern sehr zu kämpfen hatten, um das Auskommen der Familie zu bestreiten, suchte sie sich später einen gut bezahlten Job in der Werbung. Sie könne gut schreiben, sagte sie. Aber das war es dann schließlich doch nicht, was sie mit ihrem Leben machen wollte. Selbst wenn es Werbung für die Solarindustrie war, arbeitete sie letztlich für den Kapitalismus, gegen den sie doch eigentlich war. Deshalb begann Jennifer Bernie Sanders zu unterstützen. Sie rief Leute an oder klopfte an ihre Tür und begann mit: «Hey, ich bin eure Nachbarin», um dann über Sanders’ Kampagne zu reden.

«Wir gründeten dann ein eigenes DSA-Chapter für San Francisco. Ich habe mich da reingekämpft, weil ich wusste, wie man Kampagnen macht. Insgesamt ist die DSA eher männlich, Typen mit Bart, Brille und Piercing. Und deshalb haben wir hier eine Gruppe nur für Frauen gegründet und uns gegenseitig unterstützt. Wir haben auch ein paar Regeln aufgestellt, damit Leute mit weniger Privilegien und mehr Diskriminierungserfahrung ihren gleichberechtigten Platz bekamen. Beispielsweise bei Redelisten.»

Zur Frage, ob es eher eine eigene Partei brauche oder die DSA innerhalb der Demokraten arbeiten sollten, meinte Jen: «Da kann man immer hin und her diskutieren. Es gibt für beides gute Argumente. Einerseits lässt sich in der Demokratischen Partei nicht wirklich gut Politik machen. Das sind Liberale, wie Hillary Clinton, und keine Sozialist*innen. Andererseits haben wir nun einmal ein Zweiparteiensystem. Gerade standen wir mit fucking Trump kurz vorm Faschismus, und nun haben wir mit Joe Biden einen Präsidenten, der nichts machen kann wegen Sinema und Manchin. Es ist so ärgerlich.» Jennifer Snyder selbst möchte aber nicht für ein Amt kandidieren. Sie wolle keine öffentliche Person sein. Sie sei das mal für kurze Zeit gewesen, «weil ich vor laufender Kamera die Demokraten angeschrien habe. Manchmal bin ich ein Hitzkopf.» Stattdessen unterstützt sie lieber Kampagnen und ist dabei sehr erfolgreich: Mit Dean Preston wurde erstmals ein demokratischer Sozialist in den elfköpfigen Verwaltungsrat San Franciscos gewählt, der zusammen mit dem Bürgermeister die Stadt regiert. «Dafür brauchte es 50.000 Stimmen. Das war eine große Sache.»

Jen arbeitete dann zunächst für ihn, hat jetzt aber eine eigene Firma für Kampagnen, Red Bridge Strategies. Damit unterstützt sie Volksentscheide in Kalifornien. Im Moment gehe es vor allem um bezahlbares Wohnen: «Wir wollen eine Vacancy Tax [eine Steuer, die auf leer stehenden Wohnraum gezahlt wird] einführen. Statt dass einige wenige Leute mit Immobilienbesitz in San Francisco reich werden, wollen wir, dass sie für Unterkünfte für die vielen Wohnungslosen hier zahlen.» «Tax the Rich», also die Reichen zu besteuern wie jedermann, das sei etwas, was viele hier unterstützten. «Sie wollen nicht, dass Milliardäre wie Jeff Bezos zum Mond fliegen, sie haben genug davon.»

Das klang doch sehr anders als Lee Fangs Beschreibung der DSA am Tag zuvor. Also hakte ich nach, was von seiner Kritik, dass die DSA zu wenig an den Verteilungsthemen arbeite, zu halten sei. Ja, sagte Jennifer, Identitätsfragen seien wichtig, «aber wir sind auch eine junge Organisation. Ich finde, jede Person sollte mit den Pronomen angeredet werden, die ihr wichtig sind. Aber wenn jemand außerhalb das nicht versteht, habe ich damit kein Problem. Klar können wir Buchclubs haben, die abgefahrene Sachen lesen. Aber wir müssen auch an die Durchschnittsamerikaner*innen denken, die wir an der Wahlurne erreichen wollen. Die müssen uns verstehen. Auf die muss unsere Kommunikation ausgerichtet sein.»

Brot-und-Butter-Themen

Am nächsten Abend war ich mit Shanti Singh verabredet, der Chefin von Tenants Together, einer Organisation, die für die Rechte von Mieter*innen eintritt. Dass sie ebenfalls DSA-Mitglied und mit Jennifer Snyder befreundet ist, hatte ich erst am Abend zuvor erfahren. Wir trafen uns in einer von Dänen betriebenen Bierbar im Zentrum der Stadt. Der Laden ist stolz auf seine 40 Biere vom Fass, von denen Shanti und ich im Verlauf des Abends einige ausprobierten.

«Ich bin eine Marxistin. Das sagen zwar viele, aber ich bin es tatsächlich. Aber ich war es nicht immer», begann Shanti. «Meine Eltern kommen aus Indien und sind schon deshalb Antiimperialist*innen. Sie sind aber nicht besonders politisch. Sie sind in den 1960er Jahren zur Welt gekommen und in der Zeit von Nixon und Kissinger aufgewachsen, die im Krieg zwischen Pakistan und Indien eine schlimme Rolle spielten. Ihr Blick auf die Sowjetunion war daher ein wenig anders. Sie hatten das Gefühl, die würde ihnen helfen. Indien war nicht auf der Seite der USA, war gar nicht paktgebunden. Ich bin in Pennsylvania im ‹Rust Belt› aufgewachsen, einer von Deindustrialisierung geprägten Gegend. Mein Vater ist Lehrer. Ich ging auf eine gute Schule und eine gute Universität. Meine Eltern haben immer eher liberale Demokraten gewählt, aber dann Bernie –wahrscheinlich weil ich für ihn gearbeitet habe. Und sie waren gegen den Irakkrieg. Ich war zunächst sehr für Obama und habe seine Kampagne aktiv unterstützt. Aber dann war ich sehr enttäuscht. Der Drohnenkrieg, Angriffe in Pakistan und Jemen und seine Hilfen für die Wall Street. Da hat es mir gereicht. Ich kannte mich damit aus, ich habe selber in der Finanzindustrie gearbeitet, den Kapitalismus von innen kennengelernt. Und so habe ich gemerkt, dass all die beschlossenen Regulierungen überhaupt nicht funktionierten.

Und als die Proteste von Black Lives Matter und für Standing Rock [eine Umweltbewegung, die sich gegen den Bau einer Ölpipeline durch das Territorium der Native Americans richtete] begannen, merkte ich, ich muss etwas anderes machen. Die Idee von ‹Defund the Police› überzeugte mich. Dieses System kann einfach nicht reformiert werden, dachte ich. Außerdem war ich im Harvey Milk LGBTQ+ Democratic Club [einer Organisation gegen die Diskriminierung von queeren Personen] aktiv. Und Ende 2016, Anfang 2017 wurde unser DSA-Chapter gebildet. Wir sind derzeit ungefähr 1.300 Mitglieder in San Francisco. Natürlich sind nicht immer alle aktiv. Aber bei unseren monatlichen Treffen tauchen schon mal 300 Leute auf. Im Rahmen von Bernies Kampagne kümmerte ich mich um die Verwaltung der Daten. Das ist meine Expertise aus einem früheren Job. Und es ist wichtig, bevor wir Anrufe starten oder an Wohnungstüren klingeln, zu wissen, wer dort wohnt.

Nach der Kampagne habe ich begonnen, für Tenants Together zu arbeiten. Wir unterstützen Mieter*innen gegenüber Hausbesitzer*innen. Wir treten für eine Regulierung der Mieten ein, für eine Mietpreisbremse. In Kalifornien werden viele Referenden abgehalten. Nicht alle sind gut, und auch das Big Business versucht seine Interessen auf diesem Weg durchzusetzen. Aber wir versuchen das auch. Manchmal sind wir dabei erfolgreich. Neulich haben wir aber auch mit nur einer Stimme ein Referendum verloren, in dem es darum ging, eine Mieter*innenorganisation für ganz Kalifornien durchzusetzen. Wir haben hier eine klare Mehrheit der Demokraten, aber die vertreten oft die Interessen der Immobilienbranche.»

Auch Shanti ist also offenbar mehr an den Brot-und-Butter-Themen interessiert. Wie schon Jennifer am Abend zuvor sprach sie von der Kampagne für eine Vacancy Tax. Beide empfahlen mir, an einer Aktion der DSA-Gruppe dafür am kommenden Sonntag teilzunehmen. Außerdem machte Shanti für mich einen Kontakt mit Jennifer Bolen klar. JenBo, wie sie zur Unterscheidung von Jennifer Snyder genannt wird, ist Mitglied im 16-köpfigen National Political Committee der DSA, also im Bundesvorstand der mit circa 100.000 Mitgliedern größten linken Organisation der USA.

Konkrete Kämpfe für sozialen Fortschritt

Ich war ganz froh, dass ich für mein drittes Treffen mit einem DSA-Mitglied in San Francisco einen Nachmittag im Café ausgewählt hatte. Zwei Abende mit Genossinnen in Bars waren erstmal genug. Allerdings bestand JenBo darauf, dass es bei meinem nächsten Besuch andersherum laufen müsse: Am Abend solle ich sie treffen, ihre beiden Genossinnen gerne am Nachmittag. Das Café im Ortsteil Lower Haight jedenfalls hielt für uns Live-Jazzmusik bereit, und die Besitzerin, Zarah aus Eritrea, die in Italien studiert hat, begrüßte mich gleich auf Deutsch.

Jennifer erzählte mir, dass sich ihre Eltern in Japan kennengelernt hätten. Ihr Vater war dort als US-Soldat stationiert, ihre Mutter Japanerin. «Beide waren Rock-’n’-Roller.» Sie waren nicht besonders politisch. «Als ich 18 war, wurde der Terroranschlag am 11. September 2001 verübt. Dann begannen die Kriege, und viele meiner Bekannten waren dabei. Einer starb im Irak. Ich hatte genug von Politik und hörte lieber Punk. Und dann kam Bernie, und die DSA startete erneut durch. Mit einer Freundin ging ich am Valentinstag zu einer Party der neu gegründeten East Bay DSA. Und da habe ich Leute kennengelernt, dann Bücher gelesen, bin zu weiteren Treffen gegangen und habe wieder Hoffnung geschöpft.

Was mich radikalisiert hat, war die Idee, wenn die Regierung nichts tut, dann werden wir sie ändern. Wir können die Macht demokratisieren, wir können Leute aus der Dunkelheit des Kapitalismus holen. Wir setzen uns für 15 Dollar Mindestlohn ein, dafür, dass es Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt, für eine Mietpreisbremse. Das macht Hoffnung! Aber ich bin auch frustriert: Was ist denn aus ‹Defund the Police› geworden? Inzwischen höre ich, es sei gut für die Schwarze Community, wenn wir mehr Schwarze Polizist*innen haben. Und im Kongress wird so viel blockiert, auch intern. Manchmal geht man zu DSA-Treffen, und es wird vor allem über die Geschäftsordnung gestritten. Aber manche Debatten sind auch wichtig. Beispielsweise über eine quotierte Redeliste. So half ich, den feministischen Arbeitskreis der DSA hier zu bilden, und wurde dessen Sprecherin und dann eine der Sprecherinnen der DSA in San Francisco.»

2019 hatte die DSA ihren ersten Bundesparteitag. Die Organisation ist schnell gewachsen, von 5.000 auf 40.000 in nur einem Jahr. Heute sind es ungefähr 100.000. «Anfangs hatten wir eine hauptamtliche Beschäftigte, heute sind es 30. Und es waren viel jüngere Mitglieder als in der alten DSA. Dieses frische Blut der Bernie-Leute hat die Organisation natürlich verändert. Da kamen die unterschiedlichsten Menschen. Anarchist*innen zum Beispiel, und da waren die alten Sozialist*innen. Ich saß mit Jen [Snyder] und anderen Freund*innen an der Bar, und wir überlegten, wie wir das zusammenbringen können. Wir wollten selbstbestimmte Landes- und lokale Verbände, aber eben auch eine bundesweite Struktur. Und so habe ich kandidiert und bin in den Parteivorstand gewählt worden.» Die Struktur der DSA ist so: Es gibt das 16-köpfige National Political Committee, das sich einmal im Quartal trifft, und dann ein Steering Committee mit fünf Mitgliedern, das zwischen den Beratungen des NPC Entscheidungen trifft und alle zwei Wochen berät.

«Mir fehlen ein bisschen die politischen Diskussionen in den Gremien. Vieles, was wir tun, ist administrativ, manchmal taktisch, aber wir reden zu wenig über die großen Linien. Außerdem sind wir zu wenig mit jenen verbunden, die für uns im Kongress sitzen. Die agieren sehr unabhängig, obwohl sie Mitglied der DSA sind. Ich habe zum Beispiel AOC [Alexandria Ocasio-Cortez] mal in der Zeit getroffen, bevor sie gewählt wurde, aber danach nie wieder. Und das gilt insgesamt. Ich bin seit drei Jahren im höchsten Gremium der DSA, und wir haben fünf Mitglieder im Kongress. Ich habe keines von ihnen getroffen, mit ihnen gesprochen, nicht einmal mit deren Mitarbeiter*innen. Wir haben einfach keine Struktur dafür gefunden. In der DSA denken viele, wenn unsere Mitglieder und Sozialist*innen im Kongress sind, werden sie automatisch immer das Richtige tun. Das ist wohl nicht möglich. Aber welche Konzessionen können wir machen? Und andersrum gefragt, wofür ist es denn dann gut, Sozialist*innen im Parlament zu haben, wenn sie nicht den antikapitalistischen Prinzipien folgen?

Ja, wir können einiges zum Besseren ändern, wenn wir in der Demokratischen Partei arbeiten. Aber das genügt mir nicht. Es geht nicht nur um die Stimmabgabe am Wahltag. Dieses System aus Demokratischer Partei und Republikanischer Partei ist wirklich desillusionierend. Ich sehe jedoch keinen Weg, wie wir es überwinden können. Deshalb unterstütze ich auch die Wahlkampfarbeit für unsere Kandidat*innen. Aber wir können dabei nicht stehen bleiben. Wenn wir nur auf kleine Reformen setzen würden, wären wir letztlich nicht besser als die Demokratische Partei.

Unsere Mitgliedszahlen steigen auch nicht mehr. Sie stagnieren und sinken langsam. Ich möchte jetzt nicht jemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Ich kann noch nicht sagen, ob wir das ‹Momentum› der Anfangszeit verloren haben. Es fehlt derzeit der verbindende Schwung einer Bernie-Sanders-Kampagne. Manchen Mitgliedern fällt es schwer zu sehen, wofür wir gerade kämpfen. Ich weiß natürlich, dass es immer Höhen und Tiefen gibt. Auch der zweijährige Lockdown hat seinen Preis gefordert. Viele haben Familienmitglieder oder Freund*innen an Covid verloren oder wurden arbeitslos. Außerdem ist da ein Krieg. Für mich ist die DSA nicht die ganze sozialistische Bewegung, sondern sie ist ein Teil davon. Versteh mich nicht falsch, die Organisation ist großartig, wir haben gute Leute, ich habe Freund*innen hier. Aber wir sind auch nicht perfekt. Du kannst nicht erwarten, dass du dich uns anschließt, und dann ist alles schön. Aber es gibt auch tolle Momente. Wie die gewerkschaftliche Organisierung bei Starbucks gerade.»

Am Sonntagnachmittag fuhr ich dann zum schönen Duboce Park zwischen den Stadtteilen Duboce Triangle und Lower Haight. Die DSA San Francisco hat hier zur Mobilisierung für die Vacancy Tax eingeladen. Mir bot sich ein idyllisches Bild. Familien feierten Kindergeburtstag mit Ballons und Kuchen, Hipster genossen die kalifornische Sonne, und an einer Ecke bauten junge Linke etwas auf, was ich einen Infostand nennen würde: einen langen Tisch, beladen mit Materialien.

Einer schnappte sich ein Megafon und erläuterte das Anliegen: Zu viele Menschen in San Francisco seien obdachlos, gleichzeitig stünden etliche Apartments leer. Das müsse anders werden, deshalb sollten jene, die ihre Wohnungen nicht nutzten, eine Steuer für den Leerstand zahlen. Die Vacancy Tax oder, die Bezeichnung ist noch populärer, Empty Home Tax. Das klingt deutlich eingängiger als «Zweckentfremdungsverbotsverordnung», dachte ich mir. Denn so versuchen wir in Berlin mit dem gleichen Thema umzugehen. Im Gespräch erzählt mir ein Aktivist – Tyler, roter Bart, Anfang 20 –, dass die Leute meist sehr aufgeschlossen auf das Anliegen reagierten und auch für das Referendum unterschrieben. «Die sehen ja, was hier in der Stadt los ist. Und finden auch, dass sich etwas ändern muss.»

Nach meiner Reise auf dem Weg zurück von der US-amerikanischen West- an die Ostküste dachte ich darüber nach, warum sich die kritische Sicht von Lee Fang auf die Linken so sehr von dem unterschied, was ich hier erlebt hatte. Der Kern der DSA-Aktivitäten ist genau das, von dem Fang beklagte, es finde zu wenig statt. Allerdings, in dem Punkt hat er recht, führt das Festhalten an «Defund» oder gar «Abolish the Police» dazu, dass die Organisation hinter ihren Möglichkeiten bleibt. Zu akzeptieren, dass manche Positionen mehr schaden als nützen, fällt der DSA schwer. Damit macht sie es ihren (vielen) Gegner*innen zu einfach. Zu viel Kraft wird zudem darauf verwendet, sich in sozialen Medien etwa über den Umgang mit Israel oder innerverbandliche Angelegenheiten zu streiten, sodass der (falsche) Eindruck entsteht, diese Themen seien ihr wichtiger als der Kampf für soziale Gerechtigkeit in den USA.

Gleichwohl ist es erfrischend zu sehen, dass der demokratische Sozialismus in Nordamerika für viele und besonders junge Leute kein Schimpfwort mehr ist, sondern ein Begriff, der Hoffnung macht.