Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Antisemitismus und Nahost global James Horrox: Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung, Heidelberg 2021.

Ein Stück gelebte Utopie. Der Verlag Graswurzelrevolution hat das Buch des britischen Politikwissenschaftlers James Horrox ins Deutsche übersetzt und eröffnet damit die Diskussion über ein wichtiges Sozialexperiment.

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Peter Nowak,

In den 1960er Jahren sorgte die Kibbuz-Bewegung in Israel bei Menschen in vielen Ländern der Welt für Begeisterung. Schließlich wurde in den Landkommunen ein kollektives Leben praktiziert, Privateigentum war massiv reduziert und auch die Kindererziehung wurde zur Gemeinschaftsaufgabe. «Von allen utopischen Sozialexperimenten ist die Kibbuz-Bewegung Israels zugleich ein Archetyp und eine einzigartige Ausnahme. Aus einer reizlosen Ansammlung von Lehmhütten am Ufer des Flusses Jordan nahm die naheliegende Idee einer kommunitären Gesellschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft in Palästina schnell Gestalt an und erblühte in einem Netzwerk egalitärer Gemeinschaften» (S.10), schreibt der britische Politikwissenschaftler James Horrox in seiner leidenschaftlichen Streitschrift, in der er seine Sympathie mit der Kibbuzbewegung stark betont. Er sieht ihre Einzigartigkeit gerade darin, dass sie nicht wie viele andere sozialutopische Projekte nach kurzer Zeit verschwanden, sondern über einige Jahrzehnte das soziale Leben Israels prägten. Horrox kommt sogar zu dem Schluss, dass die Kibbuzim «eine zentrale und entscheidende Rolle beim Gründungsprozess einer Nation und dem Neuordnungsprozess einer ganzen Bevölkerungsgruppe» spielten (S. 10).

Zudem unternimmt Horrox den Versuch, die Kibbuzim in eine anarchistische Traditionslinie zu stellen. Doch ist ein anarchistisches Projekt, welches beim Nationalbildungsprozess eine wichtige Rolle spielt, nicht ein Widerspruch? Dieser ist dem Autor bewusst und zieht sich auch durch das gesamte Buch, in dem Horrox die anarchistische Geschichte der Kibbuzim in den Mittelpunkt stellt.

In der Einleitung geht er auf die Sozialutopien von Peter Kropotkin und Gustav Landauer ein, zweier Anarchisten, deren Vorstellungen durchaus mit in die Vorstellungen der frühen Kibbuz-Bewohner*innen einflossen. Sie entwarfen utopische Vorstellungen von einem sozialistischen Dorf mit eigenen Werkstätten und Dorffabriken. Da die Schriften der beiden Anarchisten schon zu deren Lebzeiten verbreitet wurden, ist es sehr plausibel, dass die frühen Begründer*innen der Kibbuzim von ihnen beeinflusst waren. Bei manchen Formulierungen von Horrox bekommt man gar den Eindruck, dass die Kibbuz-Bewegung ihre Vorstellungen in die Praxis umgesetzt habe:

«Wenn Landauer glaubte, dass die individuelle Selbstverwirklichung als Schlüssel zum menschlichen Fortschritt diene und er gleichzeitig überzeugt davon war, dass dies zu jeder Zeit möglich war, existierte für ihn Utopia viel eher in einer immerwährenden Gegenwart anstatt in einer zukünftigen Entwicklung der menschlichen Entwicklung. Dieser Gedanke erwies sich für die Generation jüdischer Jugendlicher als äußerst anziehend, die dann die Kibbuz-Bewegung bilden sollten.» (S 19)

An dieser Stelle werden die klaren Verbindungen eher behauptet als argumentativ begründet. Wenn dann Horrox im Anschluss schreibt, dass «ein großer Teil der Sozialtheorie Landauers, die selbst wieder tief im Gedankengut Kropotkins verwurzelt war, schließlich in den Kibbuz in die Praxis umgesetzt werden» (S. 20), verfällt er in einen Fehler, den viele Libertäre und Anarchist*innen berechtigterweise oft marxistischen Historiker*innen vorhalten, die bestimmte soziale und politische Prozesse oft allzu kurzschlüssig aus dem Schriften von Marx und Engels, herleiten und damit komplexe historische Prozesse ausblenden.

Es ist ein Verdienst des Buches, dass Horrox eine differenzierte Geschichte der Kibbuzim schreibt, die eben nicht einfach eine Umsetzung der Schriften von zwei Anarchisten ist, von denen längst nicht alle frühen Kibbuz-Bewohner*innen überhaupt Notiz genommen haben. Sehr anschaulich beschreibt Horrox, dass die antisemitische Unterdrückung in den osteuropäischen Schtetln, den Wunsch nach einer ganz anderen Gesellschaft vor allen bei jüngeren Jüdinnen und Juden weckte. Sie wanderten in großer Zahl nach Palästina aus und hatten den Wusch, durch den Aufbau landwirtschaftlicher Siedlungen die Grundlage für Eretz Israel (das Land Israel) zu legen. Hier fiel ein Bündel von sozial- und lebensreformistischen Vorstellungen mit dem Wunsch, sich dem Antisemitismus zu entziehen, zusammen. Zudem ging es vielen der Kibbuz-Bewohner*innen von Anfang an um die Unterstützung einer nationalen Heimstatt für die israelische Bevölkerung, also den Aufbau des Staates Israel.

«Humanistische Schule des völkischen Nationalismus?»

Horrox beschreibt die Hoffnungen, aber auch die Widersprüche und Probleme, mit denen die Bewohner*innen der Kibbuzim-Bewegung konfrontiert waren. Bereits 1909 trennte sich eine Gruppe von der ersten Siedlungsbewegung, nachdem die Verwaltung einen Streik jüdischer Farmarbeiter*innen dort unterdrückt hatte. Sie gründeten «eine kooperative Gemeinschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete» (S. 34). Neben Anarchist*innen beteiligten sich Kommunist*innen und Sozialist*innen an der Etablierung von Siedlungen ohne Privateigentum. Allerdings gab es dort auch völkische Theoriefragmente, wie der von Horrox zitierte israelische Politikwissenschaftler Zeen Sternhell am Beispiel des Schriftstellers Aharon Davis Gordon, der in der frühen Kibbuz-Bewegung eine wichtige Rolle spielte, herausarbeitete. «Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Gordons Nationalismus mit seinem völkischen, ganzheitlichen und spirituellen Anstrich den grundlegenden Werten des materialistischen und marxistischen Sozialismus ins Gesicht schlug» (S. 46), stimmt Horrox Sternhells Einschätzung zu, um ihn dann in die Geschichte des Anarchismus einzugemeinden:

«Eine alternative Interpretation Gordons als diejenige, die seine Kritiker*innen anzubieten haben, würden argumentieren, dass Gordon in Wirklichkeit in eine linksradikale, demokratische und humanistische Schule des völkischen Nationalismus einzuordnen ist – in dieselbe Schule nämlich, die auch solcherart nationalistische Perspektiven vermittelte, wie sie Michael Bakunin und Gustav Landauer befürworteten» (S. 47).

Horrox verweist im Folgenden darauf, dass «die Überlappung von Romantizismus, völkischen Nationalismus, Antikapitalismus, einem säkularen Spiritualismus und einer Mystifizierung von Land als Quelle der Kreativität, die Gordons Denken prägte, […] besonders bei Landauer zentral [war]» (S. 47). Es bleibt die Frage, woraus Horrox eine humanistische Variante des völkischen Denkens destillieren will. Eine Einordnung von Menschen in völkische Kategorien ist nie humanistisch und emanzipatorisch. Gut beschreibt Horrox aber hier die Melange aus romantischem Antikapitalismus, der Ablehnung der modernen Großstädte und ihrer Industrie sowie den Mythos vom angeblich so befreienden Landleben, die vor mehr als 100 Jahren in Kreisen der Landkommunen- und Siedler*innenbewegung verbreitet war. Menschen, die mit diesen Ideologiefragmenten sozialisiert wurden, konnten später Teil der Kibbuz-Bewegung werden, in Deutschland gründeten manche völkisch-germanische Kommunen. Darauf hat bereits der Historiker George L. Mosse in seinem Standardwerk «Die völkische Revolution» hingewiesen.

Marxismus predigen – anarchistisch leben?

Es kam auf die historische Situation an, welche ideologischen Aspekte sich durchsetzten. Das zeigt Horrox gut an der weiteren Entwicklung der Kibbuz-Bewegung in Israel. Waren anfangs idealistische Kommunenanhänger*innen wesentlich beteiligt, setzten sich später – mit der Masseneinwanderung von Jüdinnen und Juden angesichts der Shoah – sozialistische und marxistische Vorstellungen in den Kibbuzim durch. Horrox zitiert zeitgenössische Beobachter*innen, die in den 1950er Jahren vom Paradox sprechen, dass sich die Kibbuzim als marxistisch verstanden, während die Bewohner*innen anarchistisch lebten. Allerdings verzettelt sich Horrox auch hier öfter in ideologischen Etikettierungen, wenn er in der Kibbuz-Bewegung messen will, wo die Bewegung Tolstoi, wo Landauer oder Kropotkin folgt. Im Kibbuz-Alltag dürften sie eine geringe Rolle gespielt haben.

Wichtiger wurden die Veränderungen, als «die Kibbuzbewegung von einem landesweiten sozialistischen Experiment innerhalb eines nichtstaatlichen Mandatsgebiets in den kollektivistischen Teil einer staatlich organisierten Befehlswirtschaft überführt wurde» (S. 131.) Mit der Durchsetzung kapitalistischer Verwertungsverhältnisse auch in der Landwirtschaft durch die rechtskonservative Likud-Bewegung geriet die Kibbuz-Bewegung in eine existentielle Krise. Diese Zäsur begann für Horrox mit dem Wahlsieg des rechten Likud-Bewegung 1977 und wurde dann in den 1980er Jahren für die Kibbuz-Bewegung auch ökonomisch bedrohlich. Doch die Utopie ist lebendig, wie Horrox im Kapitel 5 zeigte, wo er auf Versuche eingeht, eine neue Kibbuz-Bewegung in Israel aufzubauen. Angesichts des vollständig veränderten politischen Umfelds heute in Israel, sollte deren Einflussmöglichkeiten nicht überschätzt werden.

Es ist zu begrüßen, dass der Verlag Graswurzelrevolution das bereits 2009 in den USA erschienene Buch in deutscher Sprache herausgegeben hat. Wird doch mit der Kibbuzim-Bewegung an ein wichtiges soziales Experiment erinnert, das Menschen in aller Welt faszinierte. Wenn Horrox im Nachwort schreibt, dass es für Teile des akademischen sowie des aktivistischen Anarchismus mittlerweile als Verbrechen gilt, «einen Hauch des Komplizentums mit dem Projekt der nationalen Befreiung des Judentums anzudeuten» (S.192), gilt dies auch für weitere Teile der linken Bewegung. Höhepunkt einer solchen Ignoranz waren die strukturell antisemitischen Aufrufe zum «Boykott israelischer Waren, Strände und Kibbuzim», die Ende der 1980er Jahren auf den Häuserwänden der besetzten Hamburger Hafenstraße prangten. Andererseits bezogen sich auch große Teile der israelsolidarischen Linken in Deutschland eher positiv auf die verschiedenen israelischen Regierungen als auf die Kibbuz-Bewegung. Es ist zu hoffen, dass das Buch von Horrox dazu beitragen kann, die Geschichte der Kibbuz-Bewegung samt ihrem Scheitern gründlicher zu erforschen.
 


James Horrox: Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung, Heidelberg 2021: Verlag Graswurzelrevolution (259 S., 24,80 €).