Nachricht | Nordafrika Protest auf dem Spielfeld

Wie algerische Fußballstadien als Arenen für die politische Mobilisierung gegen den Status quo dienen

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Maher Mezahi,

Inneralgerisches Fußballspiel 2017
Fans des MC Alger beim Derby gegen USM Alger am 4. März 2017 in Algier, Algerien. Foto: IMAGO / ZUMA Press | xBillalxBensalemx

Fußball wird oft als «das Spiel der Welt» oder «das schöne Spiel» bezeichnet. Er ist mit Abstand die beliebteste Sportart der Welt, was auch für Nordafrika und insbesondere Algerien gilt.

Mit mehreren Millionen registrierten Spielern aller Altersgruppen und noch viel mehr Anhänger*innen ist der Fußball in Algerien als Zeitvertreib landesweit bekannt. Algerien verfügt über strukturierte und professionelle Männer-, Frauen- und Jugendligen, in denen das ganze Jahr über, vom Herbst bis zum Frühjahr, wöchentlich gespielt wird. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Stars der Nationalmannschaft zu den beliebtesten Persönlichkeiten des Landes gehören und ihre Gesichter überall auf Plakatwänden zu sehen sind.

Doch Fußball ist in Algerien nicht nur ein beliebter Zeitvertreib, sondern auch ein fester Bestandteil des politischen Gefüges.

Ein europäisches Spiel auf afrikanischem Boden

Historiker wie Dr. Peter Alegi führen die Entstehung des Fußballs auf dem afrikanischen Kontinent auf europäische Arbeiter zurück, die im 19. und 20. Jahrhundert ihren Weg in die Kolonien fanden. Das war auch in Algerien nicht anders, wo in den Hafenstädten Oran und Algier die ersten Fußballvereine und Sportverbände gegründet wurden. Die ältesten Vereine Algeriens, CDJ Oran und CAL Oran, wurden von Hafenarbeitern gegründet.

Maher Mezahi ist ein unabhängiger Fußballjournalist mit Sitz in Algier, dessen Arbeiten bei der BBC, The Athletic, The Telegraph, The Guardian, Al Jazeera English und New Frame erschienen sind.

Mit der Ausbreitung des Fußballs im ganzen Land konsolidierten sich die nordafrikanischen Sportverbände mit unterschiedlichen Identitäten und Interessen. So wurde Racing Universitaire d'Alger zum Klub der Akademiker (darunter Albert Camus), L'Italia de Tunis wurde von italienischen Einwanderern in Tunesien gegründet, während mehrere Siedlervereine im Maghreb den Namen Gallia trugen, nach der römischen Provinz, die heute als Frankreich bekannt ist. Der repräsentative Charakter dieser Sportverbände verband die Geschichte des Fußballs in Algerien untrennbar mit der Politik.

Im Jahr 1921 wurde der Mouloudia Club of Algiers gegründet. Eine apokryphe Anekdote besagt, dass der Name des Vereins während des «Mawlid En-Nabawi», einem muslimischen religiösen Feiertag, anlässlich des Geburtstages des Propheten Mohammed, festgelegt wurde. Die Ästhetik des Klubs war sehr repräsentativ: Er machte sich die islamischen Symbole Halbmond und Stern zu eigen und trug die Farben Grün und Rot – traditionell die Farben des Islams und der Revolution.

Nach der Gründung von Mouloudia kam es zu einer explosionsartigen Zunahme muslimischer Vereine, wobei einige Schätzungen besagen, dass 1923 etwa 20 Prozent der Sportverbände muslimische Vereine waren. Es kam immer wieder zu Zusammenstößen zwischen muslimischen Vereinen und Vereinen der Siedler, was die Kolonialmacht 1928 dazu veranlasste, ein Gesetz zu erlassen, das die örtlichen Behörden aufforderte, Spiele zwischen beiden Seiten zu verbieten.

Aufgrund der Unwirksamkeit der Anordnungen führte das koloniale Frankreich in den 1930er Jahren eine Quotenregelung ein, nach der 3-5 Spieler jeder Fußballmannschaft französischer Herkunft sein mussten, um sich für die Ligaspiele zu qualifizieren. Diese Maßnahmen wurden nur sporadisch umgesetzt und hielten sich nicht länger als ein Jahrzehnt.

Fußballer für ein freies Algerien

In den 1940er Jahren und am Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten sich die Grundlagen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. In diesem Zusammenhang wurde das Stadion tatsächlich zu einem Ort der freien politischen Meinungsäußerung.

So wurde 1945 über ein Spiel zwischen dem muslimischen Verein USM Temouchent und dem europäischen Verein Beni-Saf berichtet, in dem die muslimischen Anhänger während des Spiels «Min Jibalina» («Von unseren Bergen») sangen - ein revolutionäres Lied, das Anfang der 1940er Jahre komponiert und von algerischen Pfadfindern während des Massakers von Setif am 8. Mai 1945 gesungen wurde:

«Von unseren Bergen kamen die Rufe der Freien, die uns zur Unabhängigkeit riefen,

Ruft uns zur Unabhängigkeit, zur Unabhängigkeit unserer Nation.

Unsere Aufopferung für die Nation ist wichtiger als unser Leben,

Ich opfere mein Leben und meinen Besitz für dich.

Oh mein Volk, oh mein Volk, ich liebe niemanden mehr als dich,

Mein Herz hat die Welt vergessen und ist in deiner Liebe verloren.

Deine Liebe ist vegetativ, alles wächst in dir,

Möge ein Tag kommen, an dem das Leben überall blüht!

Wir werden jede Faser des Bodens mit unserem Leben verteidigen,

Wir sind die Jungen der Löwen, so lasst uns euch helfen, euren Feinden zu begegnen.

Euer Rang in der Geschichte leuchtet höher als eure höchsten Erhebungen,

Du hast herrliche Landschaften, die nicht aufhören, deine Schönheit zu verkünden.

Wir sind eine Mauer, die dich umschließt, wir sind strenge Berge,

Wir sind die Söhne Algeriens, ein Volk von Entschlossenheit und Standhaftigkeit.»

Nach dem Ausbruch des algerischen Unabhängigkeitskrieges im Jahr 1954 weigerten sich die einheimischen Vereine, Spiele gegen koloniale Vereine auszutragen. Im Jahr 1956, zwei Jahre nach Kriegsbeginn, verfügte die Nationale Befreiungsfront (FLN), dass die einheimischen Vereine aus der Liga austreten und die Teilnahme ganz verweigern sollten. Während sich die meisten Spieler und Vereine an diese Anordnung hielten, nahm ein Verein, der Mouloudia Club aus Algier, weiterhin an der Liga teil.

Als Reaktion darauf schickte die FLN Aufständische zu einem Derby zwischen Mouloudia und AS Saint-Eugene, einem der bekanntesten Vereine der Kolonialzeit. Zeitungsausschnitte berichten, dass Fans die algerische Flagge schwenkten, was zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der aufgebrachten Menge führte. Die Repressionen waren so stark, dass mehrere Algerier (Mohamed Maouche, Abdelhamid Zouba und Hocine Bouchache), die für beide Vereine spielten, sofort die algerische Liga verließen und ihre Karriere in Frankreich fortsetzten.

Einige Jahre später nutzte die FLN den Fußball erneut in ihrem Kampf für die algerische Unabhängigkeit. Mohamed Boumezrag, ein ehemaliger Spieler und Trainer und selbst ein militanter Nationalist, rekrutierte in Frankreich algerische Profispieler, um die erste algerische Nationalmannschaft aufzustellen. Im April 1958 verließen 13 algerische Fußballspieler, darunter Stars wie Rachid Mekhloufi und Mustapha Zitouni, heimlich ihre Vereine in Richtung Tunis, wo die algerische Nationalmannschaft später ihren Sitz haben sollte. Die FLN-Mannschaft tourte anschließend durch den Ostblock und die arabische Welt, sammelte Spenden für die Unabhängigkeitsbestrebungen und machte auf den Unabhängigkeitskampf in der Heimat aufmerksam.

Die Rückeroberung des Stadions

Nach der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 kehrte für einige Jahrzehnte Ruhe in den algerischen Stadien ein. In den späten 1970er Jahren wurden sie jedoch erneut zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen.

Während des Endspiels um den Algerien-Pokal 1977 zwischen JS Kabylie und NA Hussein Dey brachten Zehntausende von kabylischen Anhängern ihren Unmut über Präsident Houari Boumediene zum Ausdruck, der zu dieser Zeit eine landesweite Arabisierungspolitik vorantrieb, die nach Ansicht vieler ihre Berber- oder Amazigh-Identität ausschloss.

Mouloud Iboud, der Kapitän von JSK an diesem Tag, schilderte die Szene dieses bahnbrechenden Endspiels in einem Interview mit dem algerischen Fußballmagazin LeButeur am 27. April 2014:

«Ich glaube, jeder erinnert sich an die Welle von Menschen, die am Tag des Endspiels die Hauptstadt erreicht hatte. Neben der rein sportlichen Herausforderung – wir mussten dem JSK und der gesamten Kabylei den ersten Pokal in der Geschichte schenken – war das Endspiel von '77 auch eine Gelegenheit, die Sache der Amazigh zu verteidigen. Tausende von Anhänger, die in das Stadion des 5. Juli eindrangen, hörten nicht auf, Boumediene um die Anerkennung der Sache der Berber zu bitten, mit dem berühmten Slogan «Anwa Wigui? Imazighen!» («Wer sind wir? Imazighen!») was allen Spielern auf dem Platz eine Gänsehaut bescherte. Während des gesamten Spiels unterhielten sich die Fans mit dem Präsidenten, der auf der Ehrentribüne saß.»

Die Stadien kommentierten weiterhin das politische Auf und Ab der 1980er Jahre.

Im Oktober 1988 protestierten Tausende auf den Straßen von Algier gegen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, und die brutale Repression der algerischen Regierung forderte Hunderte von Toten. Die Folgen läuteten eine neue politische Ära ein und beendeten die Einparteienherrschaft im Lande. Bald darauf wurde in den Stadien der Hauptstadt «Bab El Oued chouhada» ([die in] Bab El Oued sind Märtyrer) gesungen, ein Gesang, der noch heute in den Stadien zu hören ist.

Lieder des Widerstands

Das Aufkommen des Internets trug in den frühen 2000er Jahren zur Belebung der Ultra-Bewegung bei und brachte leidenschaftliche nordafrikanische Fußballfans im gesamten Maghreb zusammen. Die Gruppen verfügten nun über Führungsgremien, bestimmte Sitzplätze in ihren Heimstadien, klar definierte Verhaltenskodizes, an die sie sich halten mussten, und einheitliche Kleidung, die sie auch vermarkten konnten.

Der Einfluss der europäischen Ultrakultur lässt sich an den Namen der neuen nordafrikanischen Gruppen ablesen, die häufig italienische oder englische Bezeichnungen verwenden, wie Ultras «Verde Leone» (Mouloudia), «Ultras Loca Ragazzi» (CS Constantine) oder «Ultras Fanatic Reds» (CR Belouizdad). Was die nordafrikanischen Ultras jedoch einzigartig macht, sind die Musikgruppen, die mit ihnen verbunden sind.

Diese Musikgruppen sind äußerst produktiv und veröffentlichen oft mehrere Alben pro Jahr. Ihre Lieder werden in den sozialen Medien veröffentlicht und an Spieltagen routinemäßig auswendig gelernt und auf den Rängen gesungen. Eine bekannte USM-Musikgruppe aus Algier ist «Ouled El Bahdja». Die Gruppe ist für ihre provokanten Texte bekannt, die oft Themen jenseits des Spielfelds ansprechen. Zu den Ultras von Mouloudia gehören die «Groupe Torino», die «Groupe Catania» und die «Groupe Palermo», die sich vor ihrer Auflösung den Ultras Verde Leone angeschlossen haben.

In den meisten Vereinsliedern geht es um die Liebe zum Verein, die glorreiche Geschichte der Mannschaft und manchmal auch um Passagen, in denen die Fans die Spieler auf dem Spielfeld motivieren, dem Ruf ihres Vereins gerecht zu werden. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass Fußballlieder die sozioökonomischen Bedingungen der typischen Fans (junge, arbeitslose Männer) oder die politische Korruption auf den höchsten Ebenen des Staates thematisieren.

Gegen Ende der vierten Amtszeit von Präsident Abdelaziz Bouteflika (2016-2019) nahm die Produktion von politischen Fußballliedern besonders stark zu. Bouteflika hatte 2013 einen Schlaganfall erlitten und war an den Rollstuhl gefesselt. Er hatte sich seit 2012 nicht mehr direkt an die Nation gewandt und war seit 2017 nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Als Bouteflikas öffentliche Auftritte seltener wurden, veröffentlichten die Ultras Dey Boys von NA Hussein Dey beispielsweise einen Song mit der Pointe: «Der Präsident sitzt im Rollstuhl, er ist eine Marionette, die sich an der Macht festhält» vor dem algerischen Pokalfinale 2016.

Ein weiteres populäres Fußballlied entstand 2018, nachdem im Hafen von Oran 701 Kilogramm Kokain beschlagnahmt worden waren. Die Schmuggelware wurde schließlich mit der Entourage von Ministern, Bürgermeistern, Gouverneuren und sogar dem Chef der nationalen Polizei, Abdelghani Hamel, in Verbindung gebracht. Bald darauf hieß es in dem Lied «Y'en a marre» von Moh Milano: «Der Staat ist wild, (importiert) Haschisch und Kokain».

Es schien also nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Gruppen auf mögliche Pläne für eine fünfte Amtszeit Bouteflikas reagieren würden, die Anfang Februar 2019 offiziell angekündigt wurde. Wenige Wochen später kam es zu spontanen landesweiten Protesten, die später als «Hirak» bezeichnet wurden und schließlich zum Rücktritt Bouteflikas führten.

Als sich der Hirak im März ausweitete, wurde «La Casa Del Mouradia» zu einer Hymne der Demonstranten. Das von Ouled El Bahdja komponierte Lied wurde nach der beliebten Netflix-Serie benannt, die einen Überfall auf die königliche Münze in Spanien schildert. Im Refrain werden die vier Amtszeiten Bouteflikas aus der Sicht eines Fußballfans seziert.

«In der ersten (Amtszeit) können wir sagen, dass sie uns mit "Versöhnung" betrogen haben,

In der zweiten (Amtszeit) wurde klar, dass es sich um La Casa Del Mouradia handelte,

In der dritten (Amtszeit) litt das Land unter den persönlichen Interessen,

In der vierten (Amtszeit) starb die Marionette und unser Problem besteht weiter.»

Protestierende jeden Alters und jeder sozialen Schicht lernten die Texte und sangen sie in großer Zahl. Auch andere Stadionlieder wurden von der Hirak in kleinerem Rahmen übernommen. USM El Harrachs «Chkoun Sbabna» («Wer ist der Grund für unsere Probleme») wurde ebenfalls auswendig gelernt und freitags gesungen:

«Wer ist der Grund (für unsere Probleme)?

Die Regierung, sie ist die Ursache,

Die Ursache für unser Elend,

Algerien hat uns zermürbt.»

Die COVID-19-Epidemie und die verstärkte Repression durch den umfangreichen Sicherheitsapparat haben der Hirak-Bewegung ein Ende gesetzt und die Fans davon abgehalten, die Spiele persönlich zu besuchen. Dennoch sind die Fußballfans in Algerien heute produktiver als je zuvor. Auch wenn sie nicht mehr zu Zehntausenden auf die Tribünen strömen, bringen die musikalischen Fangruppen ihre Meinung weiterhin online zum Ausdruck und inspirieren damit den Kampf ihrer Generation für eine gerechtere Zukunft.