Interview | Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak - Türkei «Die Türkei hat keinen Plan, wie sie die Gegend kontrollieren soll»

Rif Aleppo: Türkische Kontrolle und Selbstorganisation

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Rif-Aleppo ist eine ländlich geprägte, einst dünn besiedelte Gegend, die inzwischen 1,3 Millionen Menschen beherbergt, davon circa 800.000 Menschen, die aus allen Teilen Syriens vertrieben und gezielt umgesiedelt wurden. Rif-Aleppo ist demographisch vor allem durch eine Mehrheit an ethnischen Araber*innen, aber auch Kurd*innen, Türkmen*innen und Tscherkess*innen etc. geprägt. Viele der Städte, wie etwa Azaz oder Qabassin, haben eine gemischte Bevölkerung und zwischen den Städten Azaz und Al-Bab liegen dutzende mehrheitlich kurdisch-bewohnte Dörfer.

Politisch und administrativ ist die Gegend durch ein hybrides Model geprägt: Formal wird sie komplett von der Türkei kontrolliert, diese bedient sich aber Strukturen der syrischen Interimsregierung, welche von der Oppositionsgruppe «Nationale Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte» geformt wurde, inzwischen ihren Sitz in Rif-Aleppo hat, aber kaum Legitimität innerhalb der syrischen zivilgesellschaftlichen Kräften genießt.

Hayyan Al-Faisal ist Aktivist im türkisch besetzten Rif-Aleppo, seinen Namen haben wir zu seinem Schutz geändert. Er kommt ursprünglich aus Deir ez-Zor, wo er politisch aktiv war, bis er vor dem IS fliehen musste. Seit Anfang 2017 lebt er in Azaz, wo er mit etlichen anderen vertriebenen Aktivist*innen verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen aufgebaut hat. Seit 2018 stehen die Interviewer*innen mit ihm in Kontakt und diskutieren, wie sich die Akzeptanz der seit 2016 anhaltenden türkischen Besatzung wandelt und welche emanzipatorischen Bewegungen es gibt.

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

Abdallah Alkhatib ist ein palästinensisch-syrischer Menschenrechtsaktivist aus Yarmouk, Damaskus. Seit 2011 war er Teil der friedlichen Bewegung gegen das Assad-Regime. 2017 gründete er mit anderen Aktivist*innen den literarischen Blog «sard.network».

Ansar Jasim/Abdallah Alkhatib: Du arbeitest vor allem in Rif-Aleppo und wir werden jetzt vor allem über die Situation der seit 2016/ 2017 von der Türkei besetzten Gebiete sprechen. Du lehnst es ab, im besetzten Afrin zu arbeiten, warum?

Hayyan Al-Faisal: Ich bin Teil einer informellen Gruppe von lokalen Aktivist*innen, die die Arbeit in Afrin aus zwei Gründen ablehnen: Kurd*innen können derzeit nicht zivilgesellschaftlich in Afrin aktiv sein, sie würden Verhaftung, Entführung oder auch Ermordungen riskieren. Zudem muss es zumindest eine Entschuldigung durch die syrische Interimsregierung, die syrischen Militärfraktionen vor Ort der sogenannten Nationalen Armee geben, für das, was in Afrin passiert ist. Es muss eine Anerkennung geben, dass dort dieses Verbrechen der Besatzung stattgefunden hat, dann muss die Rückkehr der Menschen erlaubt werden. Als politisch aktive Menschen in Rif-Aleppo ist es für uns wichtig zu sagen: Das, was in Afrin ist, ist nicht normal und darf nicht normalisiert werden. Wir erhalten dafür sehr viel Kritik, weil in Afrin zivile Vertriebene aus anderen Landesteilen leben und ihre humanitäre Situation sehr schlecht ist. Aber es ist klar: Wer in Afrin in irgendeiner Weise arbeitet, kann nicht unabhängig arbeiten, die Türkei kontrolliert dort alles. Damit unterscheidet sich die Situation von den anderen Teilen in Rif- Aleppo wie etwa Azaz oder Al-Bab. Es ist ein riesiges Problem, dass es keine engeren Beziehungen zwischen kurdischen Aktivist*innen aus Afrin und den anderen Teilen Rif-Aleppos gibt. Dadurch kommt es zu der Situation, dass es zu wenig aktive Solidarität mit Kurd*innen und den Menschenrechtsverletzungen der Türkei gegen Kurd*innen gibt. Punktuell können wir das überwinden – wie mit der Kampagne, die sich gegen die Entführung von kurdischen Mädchen durch die Fraktionen in Afrin gerichtet hat – aber es ist eher eine schwache Solidaritätsbewegung. Diese Beziehungen aufzubauen, wäre unsere Verantwortung als Aktivist*innen. Aber wir haben kaum irgendeine Hebelwirkung, wenn es um Afrin geht. Die Checkpoints sind extrem restriktiv und unsere Handys werden durchsucht, wenn wir von Rif-Aleppo nach Afrin fahren. Wenn wir dann vor Ort in Vorfälle, wie die Besetzung von Häusern von kurdischen Familien durch die syrischen Fraktionen eingreifen und uns dagegen aussprechen, dann nützt das den Betroffenen gar nichts. Sobald wir weg sind, wird die Reaktion gegen die kurdische Familie noch viel härter ausfallen. Ich fühle mich unglaublich machtlos, wenn ich vor Ort bin und solange es keinen Nutzen für die Kurd*innen hat, vermeide ich es komplett.

Auch in den anderen Teilen von Rif-Aleppo gibt es viele Dinge, über die wir nicht reden können, aber generell gibt es mehr Raum für Widerstand: Vor einiger Zeit wurde eine kurdische Studentin – weil sie Kurdin ist – gezwungen, dass sie in der Universität ein Kopftuch trägt, als sie sich geweigert hat, wurde sie von der Universität geschmissen. Dazu muss man wissen, dass das auf den türkischen Einfluss hier zurückgeht, während zur gleichen Zeit die türkischen Beamtinnen hier oft unverschleiert sind. Das einzige, was wir nun tun können, ist diese Universität zu boykottieren und jegliche Zusammenarbeit zu untersagen. Einige der Lehrenden haben übrigens in Protest gekündigt. Solche Positionen können gefährliche Konsequenzen haben.

Im März war der 11. Jahrestag der syrischen Revolution. Auch in Rif- Aleppo wurde das gefeiert. Es gibt viele Aktivist*innen, die es kritisch sehen, die Revolutionsflagge hochzuhalten. Wie siehst du das?

Ich folge dem politischen Ansatz, dass «die Revolution eine Idee ist und eine Idee kann nicht sterben». Die Revolution als Praxis hat Zeiten, in denen sie nicht fähig ist, irgendwas zu tun. Wenn Revolution also lediglich aus Handeln bestünde, dann wäre die Revolution vorbei. Aber die Revolution als Idee, vielleicht als ideologischer Überbau, lässt uns dann wieder Praktiken schaffen, die revolutionär sind.

Viele der Organisationen, die strukturell aus dem Aufstand von 2011 hervorgegangen sind, halten Parolen der Revolution hoch, aber sie verfügen überhaupt nicht über ein politisches Verständnis von Revolution. Sie versuchen sich selbst zu reproduzieren im angeblichen Kampf gegen das syrische Regime. Damit rechtfertigen sie autokratische Handlungen, die sich gegen alle wenden. Als wir im letzten Jahr eine Dekade syrische Revolution gefeiert haben, wurde deutlich, dass diese Praxis zu einem Ritual geworden ist, dass mich an die Feiern zum 8. März der Baath-Partei[1] erinnert.

Personen, die diesen Organisationen widersprechen, werden von den Militärfraktionen in ihre inoffiziellen Gefängnisse gesteckt, und das wird dann als Teil der Revolution und der Verteidigung der Revolution gegen die Konterrevolution gerechtfertigt. Aufgrund der gesellschaftlichen Reichweite trauen die Fraktionen sich oft nicht, Aktivist*innen zu verhaften. Die leben dann oft mit der symbolischen Gewalt, dass es die konstante Bedrohung der Verhaftung gibt. Bei Zivilist*innen gibt es diese Hürde nicht und sie sind viel direkter Gewalt ausgesetzt.

Die Revolution, der ich angehöre, wendet sich gegen jegliche Formen der Unterdrückung. Die Idee der Revolution stützt sich auf das Recht auf Leben der Menschen durch soziale Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit, Organisationsfreiheit, die Freiheit, ihre Repräsentant*innen zu wählen, ihre religiösen und säkularen Vorstellungen auszudrücken.

Welche Beispiele revolutionärer Praxis gibt es aus deiner Sicht in Rif-Aleppo?

Die Selbstorganisation der Lehrer*innen-Bewegung in Rif- Aleppo hat mir viel Energie gegeben im letzten Jahr. Es gibt viel Gewalt gegen sie, aber auch gleichzeitig ein hohes Maß an Widerstand und Solidarität der lokalen Bevölkerung.

Wie ist diese Bewegung entstanden?

Die Lehrer*innen werden nicht vom Regime, sondern durch die Türkei bezahlt. Das türkische Bildungsministerium formuliert ihre Verträge und inkludierte einen Paragraphen, der besagt, dass sie sich nicht versammeln oder demonstrieren oder in zivilgesellschaftlichen Organisationen aktiv sein dürften. Deswegen haben sie begonnen, sich zu organisieren. Der durch die Türkei ernannte Lokale Rat hat die Bewegung als «unberechenbar» und als eine Bewegung verleumdet, die dem Regime und den USA anhängt. Denn wenn die Bewegung erfolgreich ist, dann stehen die Autoritäten vor dem Problem, dass sich dieses Beispiel ausbreiten könnte, dass die lokale Bevölkerung versteht, dass sie sich ihre Rechte einfach auf diese Art und Weise nehmen können.

Wie hat sich diese Bewegung entwickelt?

Ich will es gar nicht verbergen: Es gab, als die Bewegung 2018 begann, eine Art unausgesprochenen gesellschaftlichen Konsens vor allem in den nicht-kurdischen Teilen der Bevölkerung, die Türkei nicht zu kritisieren. Die Leute sahen, dass sie in einer relativen Stabilität lebten, während Zehntausende aus den anderen Teilen des Landes fliehen mussten. Somit gab es keinen Widerspruch, als viele der Lehrer*innen festgenommen wurden. Die Lehrer*innen wollten dann eine Gewerkschaft gründen. Das wurde durch die Türkei nicht nur abgelehnt, sondern jede*r, die*der das verlangt hat, hat ein Arbeitsverbot erhalten. Als es dann zu den extremen Preissteigerungen kam, eskalierte die Situation im letzten Jahr. Der Auslöser kam über die Kündigung eines syrischen Arztes – Uthman Hattawi – im Krankenhaus in Mari´, der sich einem türkischen Krankenpfleger widersetzt hatte, der ihn rassistisch behandelt hatte. Daraufhin entstand eine breite Solidaritätsbasis.

Die Polizei hat Drohstatements gegen die Lehrer*innen veröffentlicht. Das hat dazu geführt, dass die öffentliche Meinung, die davor eher geteilt war, sich mit den Lehrer*innen solidarisiert hat. Die Arbeiter*innen-Selbstorganisation der «fliegenden Händler*innen», die Frisör*innen und 90 Prozent der zivilgesellschaftlichen Organisationen haben sich solidarisch erklärt. Es wurde sehr schnell klar, wer selbstständig Entscheidungen trifft und wer von den lokalen Autoritäten kontrolliert wird. Gleichzeitig wurden Weisungen gegen Journalist*innen erlassen. All das hat das Fass in gewisser Weise zum Überlaufen gebracht. Die Lehrer*innen haben einen Forderungskatalog mit zehn Punkten erstellt, nur einer davon drehte sich um ihre Gehälter. Es ging im Wesentlichen um ihre Organisationsrechte, Gewerkschaftsgründungen, das Curriculum etc. Die Lehrer*innen haben monatelang protestiert und gestreikt.

So gründete sich dann die Gewerkschaft?

Genau, ich habe zwar viel Kritik, wie sie sich am Ende konstituiert hat, aber ich unterstützte sie voll und ganz. Es war ein total entscheidender Moment: Entweder gewinnen wir und gründen die Gewerkschaft und gewinnen dadurch mehr Freiheiten oder wir verlieren und hätten hier vielleicht gar nichts mehr machen können. Die einzelnen Unterabteilungen der Gewerkschaft sind nun über ganz Rif-Aleppo (ohne Afrin) verteilt und organisieren sich im überregionalen Zusammenschluss des «Rates der Gewerkschaft» (Majlis al-Naqaba). In diesem gibt es, soweit ich weiß, derzeit nur arabische Vertreter*innen.

An wen wird sich die Gewerkschaft wenden? An die Interimsregierung der syrischen Opposition?

Die Interimsregierung der syrischen Opposition hat ein Erziehungsministerium hier, aber das erkennen wir nicht an. In Rif-Aleppo gibt es ein hybrides Regierungsmodell, welches uns die Türkei auferlegt hat, bei dem einfach unklar ist, wer für was verantwortlich ist. Aber der Erfolg der Lehrer*innen hat dazu geführt, dass auf einmal alle diese Autoritäten sagen, «ich bin verantwortlich, und ich will die Sache beenden».

Wahlen und öffentliche Auszählung in zwei Zweigstellen der Lehrer-Gewerkschaft im Februar Foto: Anonym

Wie sieht das politische System aus, und was ist eure Alternative dazu?

Als Reaktionen auf den Volkszorn von 2011 hat das syrische Regime die Gesetzesverordnung 107 erlassen, welches eine Wende von der massiven Zentralisierung des Systems zu lokaler Administration und die Bildung von Lokalen Räten regeln sollte. Die Verordnung ist die totale Ausnahme, denn es ist klar, dass das System des Assad-Regimes nicht reformierbar ist und für das Regime ist das nur Tinte auf Papier. Für viele politische Kräfte innerhalb Syriens, und zwar in allen Gegenden, ist eine tatsächliche Umsetzung dieser Verordnung aber eine Referenz für unsere politischen Forderungen geworden. Wir interpretieren die Verordnung so, dass dadurch die Zentralität des politischen Systems aufgelöst wird und ein dezentrales System installiert werden kann. Es geht hier also um eine gewählte Autorität des Volkes, welche die Angelegenheiten des Staates auf lokaler Ebene und von unten regelt. So sollte es sein. Die Interimsregierung der Opposition hat 2013 dieses Gesetz noch einmal ent-baathifiziert – alle Formulierungen, die auf das Regime, seine Geheimdienstorgane oder die Baath-Partei verweisen, entfernt-aber im Allgemeinen zugestimmt, dass dies die zukünftige Funktionsweise des politischen Systems in Syrien sein soll.

Dann kam die Türkei und hat das System der «Wilayat» (Verwaltungsbezirke) mitgebracht. Sie haben also Folgendes gemacht: Sie haben zentrale große Lokale Räte gegründet, die die Gemeinden hier in Syrien gegenüber der Türkei repräsentieren. Der jeweilige Wali (Gouverneur) in der Türkei ist dann für die jeweilige Gemeinde hier zuständig. Manchmal überlagern sich nun aber die Strukturen und es ist für uns nicht klar, ob syrische oder türkische Gesetzgebung herrscht.

Es scheint, dass die Türkei viel Geld ausgibt für die Stabilität von Rif-Aleppo, die Lokalen Räte, die Straßen, die Schulen etc. Wie finanziert die Türkei das?

Die Türkei zahlt keinen Penny hier, sie profitiert wirtschaftlich massiv von der Kontrolle Rif-Aleppos. Es gibt drei Einkommensquellen: die Finanzierung aus Katar und durch internationale Organisationen, die Projekte in Syrien finanzieren. Vor der lokalen Bevölkerung tut die Türkei dann so, als wären es ihre Projekte.

Die dritte Quelle sind die Gebühren der Grenzübergänge. Bis die Türkei hier in die Gegend gekommen ist, gingen diese Einnahmen an die syrischen Fraktionen der Freien Syrischen Armee, die Teile der Gegend kontrollierten. Dann hat die Türkei die Einnahmen in jeweils drei Teile geteilt: ein Drittel für die militärischen Fraktionen, ein Drittel für die Interimsregierung der syrischen Opposition und ein Drittel für die türkisch ernannten Lokalen Räte. Letztere erhalten das Geld aber nicht direkt. Die Türkei legt fest, welche Summe sie bekommen. Mit dem Rest des Geldes werden dann Projekte wie der Bau von schlechten Straßen finanziert. Die Infrastruktur, die gebaut wird, ist überhaupt nicht nachhaltig. Viele Häuser und Krankenhäuser wurden einfach im Fertighausstil gebaut. Ähnliches gilt für die Straßen. Die werden nicht geteert, das ist so genanntes Interlook-Material, das nicht für Straßen, sondern für Fußgängerwege gedacht ist und in kürzester Zeit kaputtgeht.

Aber das schafft Arbeitsplätze.

Die Türkei bringt bei den meisten Projekten, die sie durchführt, ihre eigenen türkischen Arbeiter*innen und Beamt*innen mit. Am Anfang war die Unterstützung für die Türkei groß, aber dann hat die lokale Bevölkerung gesehen, was es heißt, wenn die Türkei ihre eigenen Arbeiter*innen holt, während die Leute hier keine Arbeit finden. Dann gibt es noch die extreme Ungleichheit bei gleicher Arbeit: Das Gehalt eines türkischen Beamten hier beträgt 8000 türkische Lira, das Gehalt einer*s Syrer*in hingegen 800 türkische Lira.

Wie sieht der Ansatz langfristiger türkischer Kontrolle aus?

Nach fünf Jahren türkischer Präsenz ist sehr deutlich geworden, dass die Türkei keinen Plan für mehr als zwei Monate hat. Sie weiß nicht, wie sie diese Gegend kontrollieren soll. Der Ansatz dieses Staates unterscheidet sich von Straße zu Straße, von Elektrizitätsgesellschaft zu Elektrizitätsgesellschaft. Das Einzige, wo es eine klare Linie gibt, ist die Unterdrückung der Selbstorganisation der Gesellschaft.

Es wird noch besser: Wir haben in Azaz und Rif-Azaz eine Zeitzone und in Mari´ eine andere – eine türkische und eine syrische. Wenn ich um acht Uhr früh aus Azaz nach Mari´ fahre, dann komme ich um 7 Uhr an. Es ist lächerlich! Auch was die Lokalen Räte angeht: Einige arbeiten nach syrischer Gesetzgebung, Gesetz Nummer 107, da dürfen sich dann auch Geflüchtete aus anderen Gegenden einbringen. Dann gehst du nach al-Bab oder Qabasseen und da sind Aktivitäten für Geflüchtete verboten Es gibt hier einfach keine klare Linie.

Aber die Türkei hat ja trotzdem an alle offiziellen Gebäude ihre Flagge gehängt, und auch auf den Ausweisen ist die Flagge der syrischen Revolution als auch die der Türkei zu sehen Weist das nicht darauf hin, dass die Türkei Rif-Aleppo in gewisser Weise annektieren will?

Der Türkei geht es vor allem um die kulturelle Ebene: die Moscheen im osmanischen Stil etwa oder die riesigen türkischen Kulturzentren. Für mich ist das eine «kulturelle Invasion». Die türkischen Flaggen überall, etwa an den Checkpoints etc. werden tatsächlich von vielen als Symbol der Besatzung wahrgenommen.

Das ist dann das Hauptwerkzeug türkischer Kontrolle in Rif-Aleppo?

Es ist das stärkste Werkzeug. Wir haben mehrere zentrale Lokale Räte. Keiner davon wird gewählt. Offiziell heißt es, dass die lokalen Organisationen und Gewerkschaften etc. diese bestimmen sollten. In der Realität aber werden sie vom türkischen Wali des jeweiligen Wilayat der Türkei ernannt. Die Personen im Amt sind denen gegenüber verantwortlich, die sie ernannt haben: also der Türkei. Wir müssen ihnen jetzt die Autorität aus den Händen reißen und den Menschen hier übergeben.

Im Dezember wurden in Turkmanbarikh und Tell Aar die Lokalen Räte gewählt. Stand nicht wegen der Kontrolle der Türkei sowieso schon fest, wie die Wahlen ausgehen?

Die Dezemberwahlen waren wichtig, weil sie das uns von der Türkei auferlegte administrative System gestürzt haben. Wir versuchen, uns im Kleinen die Strukturen anzueignen. Es gab Probleme, neue Personen für den Lokalen Rat zu ernennen, und gleichzeitig gab es auch den Wunsch bei dem alten Rat, dass diese Ernennungen aufhören würden. Und dann gab es intensive Mobilisierung aus der lokalen Zivilgesellschaft unter den Bürger*innen, dass Wahlen durchgeführt werden müssen. Wir werden damit weitermachen in noch mehr Städten. Die Hauptherausforderung ist nun, Alternativen zu schaffen, damit die Leute andere als die gegebenen Optionen sehen.

Wahlen zum Lokalen Rat in einer Schule in Rif Aleppo (Aleppo-Land) Foto: Anonym

Welche Rolle spielt Gewalt in deinem Alltag?

Es gibt die militärische Gewalt, die sich in die «innere» und die «äußere» Gewalt teilt: Ersteres sind Verhaftungen, Menschen, die unter Folter sterben, Menschen werden bedroht, andere verschwinden oder werden gezielt ermordet durch die Türkei und der ihr loyalen Fraktionen. Seit Neuestem werden Sprengsätze gezielt genutzt, um Streits zwischen lokalen Fraktionen zu regeln. Die Person wird so ermordet oder entstellt. Die «äußere» Gewalt geht von drei Seiten aus: dem syrischen Regime, SDF – oder PKK – und Daesh, also dem IS.

Was sind die Werkzeuge, die diese verschiedenen Seiten benutzen? Unterscheiden sie sich?

Die Gewalt, die das syrische Regime benutzt, zeigt sich in letzter Zeit vor allem als die «Gewalt der Bedrohung». Wir leben mit der Gefahr vor den Angriffen des Regimes, aber wir wissen nicht, wann es uns trifft. Die Gewalt von Daesh taucht vor allem über Sprengsätze, Selbstmordattentate und gezielte Ermordungen auf – wenn sie ein Droh-Statement verfassen, dann kann das hier das Leben für Tage stilllegen, weil die Menschen um das Ausmaß von Gewalt wissen: 2017 hat Daesh mit einer Selbstmord-Explosion 72 Personen vor dem Zentralgericht in Azaz ermordet. Meistens veröffentlichen sie danach ein Bekennerschreiben. Dann gibt es noch die Gewalt der PKK, die sich über willkürlichen Beschuss zeigt, wobei dieser oft aus Gegenden kommt, die gemeinsam vom syrischen Regime und YPG kontrolliert sind. Diese treffen zivile Ziele und nicht Militärstellungen. Dabei sterben jedes Mal Menschen und es werden Dutzende verletzt. Die PKK-Gewalt zeigt sich aber auch durch Autobomben, Sprengsätze, Beschuss durch Schafschützen oder gezielte Attacken. Vor Corona war es so, dass die Autos aus den SDF-kontrollierten Gebieten über den Grenzübergang bei Jarablus reingelassen wurden. Diese transportierten dann schon die Bomben. Ich mache hierfür sowohl die PKK, als auch die Akteure an den Grenzübergängen verantwortlich, die diese Autos passieren lassen. Dann parken die Autos in zivilen Gebieten und eine weitere Person löst die Bombe aus. Ich, und wir alle hier, sind davon persönlich betroffen. Vor unserem zivilgesellschaftlichen Zentrum explodierte eine Autobombe und zerstörte es komplett. Das National-Krankenhaus Azaz liegt nur 4 km von Tel Rif´at entfernt und wird somit regelmäßig beschossen.

Scharfschützen aus Tel Rif´at kontrollieren vor allem nachts die Wege zwischen Afrin und Azaz. Diese sind dann nicht befahrbar.

Aber für mich ist die schlimmste Form von Gewalt die der Sprengsätze. Ich sage immer, dass jedes Auto oder Motorrad mein Feind ist, bis es das Gegenteil beweist. Vor zwei Jahren sind diese Vorfälle wöchentlich passiert, inzwischen nur noch monatlich. Wenn so etwas passiert, dann bleibt alles für vier bis fünf Stunden still, es herrscht eine Art Depression. Dann kehrt das normale Leben zurück. Erst vor zwei Wochen stand die Stadt ganze zwei Tage lang still: Ein 19-Jähriger, der bereits vier seiner Geschwister verloren hatte, und das letzte Kind seiner Mutter war, ist durch Raketenbeschuss umgekommen. Er hatte an der Freien Universität Aleppo studiert und sich gerade verlobt. Weil Idlib zu unsicher war, war er nach Rif-Aleppo gekommen. Es gibt ein Video, das zeigt, wie er während des Beschusses seinen vermeintlich sicheren Ort verlässt, um sich woanders zu verstecken, und dann schlug genau dort die Rakete ein. Wir alle kennen genau diese Situation.

Nach jedem Vorfall bekomme ich Nachrichten auf mein Handy. Leute wollen wissen, wie es mir geht. Ich habe eigentlich keine Lust zu sagen: «Al hamdu illah, mir geht‘s gut.» Gleichzeitig muss ich reagieren, denn die Person ist ja um mich besorgt. Eigentlich geht es mir dann nie gut, ich bin nur nicht gestorben. Wir leben hier in einem Zustand von «Barzach»[2] – einem Zustand zwischen der Möglichkeit zu leben und der zu sterben.

Was ist eure Vision als Aktivist*innen für diese Gegend? Warum bleibt ihr trotz der anhaltenden Gewalt und der Angst, dass das Assad-Regime zurückkehrt?

Es muss eine lokale syrische Stimme geben, die nur die Syrer*innen vertritt, ohne ausländische Einmischung. In unserem Kontext sind das jene Menschen, die nicht von der Türkei abhängig sind und alle Menschen, die hier leben vertritt, das sind Kurd*innen, Tscherkess*innen, Turkmen*innen, Araber*innen etc. Ich glaube ehrlich nicht, dass wir in Syrien ein Problem miteinander haben. Es sind die vielen De-facto-Autoritäten, die davon profitieren, dass Menschen sich gegenseitig bekämpfen. Dagegen müssen wir handeln und Syrien durch ein politisches Repräsentationssystem von unten nach oben aufbauen. Auf der Werteebene meine ich damit, die Existenz einer lokalen Verwaltung, die auf dem Grundsatz von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit für alle aufbaut. Das kann über Lokale Räte geschehen, die in ihren Communities gewählt werden, die dann die 14 Provinzen Syriens vertreten und somit gemeinsam eine politische Vertretung bilden.

Im Hier und Jetzt gibt viele Räume, die wir einnehmen und ausweiten müssen. Wenn Menschen gehen, dann fehlen sie uns, um diese Räume einzunehmen. Das ist dann unsere Niederlage oder der Todesstoß. Unsere Visionen verändern sich. Mit dem Erfolg der Bewegung der Lehrer*innen ist alles anders geworden. Für mich gibt es ein Davor und ein Danach. Die Taktik des lokalen Regimes hat sich damit auch verändert. 2018, 2019 und 2020 wäre das nicht möglich gewesen und nur Träumerei, aber heute gehören diese Räume tatsächlich zu unserer Realität.


[1] Der Baath-Putsch von 1963 wird vom syrischen Regime als «Revolution des 8. März» gefeiert.

[2] Barzach (arab.: Barriere, Trennwand) bezeichnet im Islam die Barriere zwischen Diesseits und Jenseits, einen Zustand zwischen Tod und Auferstehung.