Die Bundesrepublik Deutschland war in den 1950er Jahren geprägt durch die «Transatlantische Partnerschaft», durch den «Ost-West-Konflikt», durch wirtschaftliches Wachstum und durch die ersten Früchte von Wohlstand. Sie war mit sich selbst beschäftigt, als am 1. November 1954 der algerische Befreiungskampf einsetzte. Das galt auch acht Jahre später noch, als am 18. März 1962 der Vertrag von Evian zwischen Charles de Gaulle und der FLN unterschrieben wurde und Algerien am 4. Juli 1962 seine Unabhängigkeit erlangte.
Dr. Klaus-Peter Treydte war langjähriger Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und leitete u.a. das FES-Büro in Algerien.
Die Deutsche Botschaft in Paris hatte in einem ausführlichen Bericht des damaligen Botschaftsrats Dr. Paul Frank vor einer ausweglosen Lage Frankreichs gewarnt: hervorgerufen durch die «verhängnisvolle Fiktion», dass es sich bei Algerien um französisches Staatsgebiet handele.[1] In einem anderen Bericht heißt es: «die gesamte muslimische Bevölkerung sei mit dem Aufstand solidarisch». Der algerische Unabhängigkeitskampf war deshalb eine außerordentliche Herausforderung für die deutsche Außenpolitik im Allgemeinen und für das deutsch-französische Verhältnis im Besonderen, weil Konrad Adenauer für die Bundesrepublik keine deutsch-französischen Irritationen wollte. Schließlich gab es noch eine französische Besatzungszone mit Truppenpräsenz und einen mehr oder weniger bekannten Geheimdienst im Südwesten der Bundesrepublik (Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg). Politisch war man mit der Kolonialmacht Frankreich in einem Bündnis «zukunftsorientierter Europäer» verbunden. Es stand jedoch auch noch die deutsch-französisch «einvernehmlich» zu lösende «Saarfrage», «Saarabien» wie auch Karl Mommer, der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete und Mitglied des SPD-Parteivorstands das Saargebiet nannte, an.[2]
Für die SPD waren die deutsch-französischen Beziehungen politisch «delikat», denn in Paris gab es eine Regierung mit Beteiligung der SFIO (Section Française de l’Internationale Ouvrière) mit Guy Mollet als Premierminister und François Mitterrand, damals Innenminister und spätere Präsident Frankreichs, zuständig für das «Département Algérie». Von der SPD-Spitze her, versuchten Erich Ollenhauer und sein Presssprecher Fritz Heine, die Algerien-Frage von der deutsch-französischen Konfliktebene herunterzuheben und die Sozialistische Internationale (SI) damit zu beauftragen. Eine Untersuchungskommission der SI, die sogenannte Sanness-Watson-Bary-Kommission, sollte die Gräuel und völkerrechtswidrigen Vorgehensweisen der französischen Kolonialmacht (Verwaltung und Armee) untersuchen, brachte aber in Inhalt und Wortlaut - aber eben auch durch Weglassungen - ein politisches Ergebnis zustande, mit dem die SFIO leben konnte. Der Bericht war aber für viele Sozialdemokraten in Deutschland und in Europa (insbesondere für Skandinavier*innen, Brit*innen) unbefriedigend und bedeutete einen «Verrat an den politischen Prinzipien des demokratischen Sozialismus». Neben dem zurückhaltend agierenden SPD-Parteivorstand gab es allerdings auch bei den SPD-Jugendorganisationen der Falken, Jusos und SDS für die Unabhängigkeit Afrikas und Asiens stärker Engagierte. Als innenpolitischen «Kipppunkt» könnte man die verlorene Bundestagswahl vom 15. September 1957 bezeichnen, bei der die Union (CDU/CSU) die absolute Mehrheit erreichte, die SPD aber bei 30 Prozent stagnierte. Von dem Punkt an artikulierten sich in der SPD Stimmen mit radikaleren Forderungen, darunter Willy Eichler (spiritus rector des Godesberger Programms), Fritz Erler, Carlo Schmid, Jockel Fuchs, Peter Blachstein oder Helmut Kalbitzer. Ein zweiter, außenpolitischer «Kipppunkt» war am 8. Februar 1958 der französische Luftangriff auf das tunesische Grenzdorf Sakiet Sidi Yussef, ein Angriff auf vermeintliche FLN-Freischärler, bei dem viele zivile tunesische Opfer zu beklagen waren. Darauf spekulierte der SPD-Pressedienst unter der Schlagzeile: «Bundeswehr nach Nordafrika?», ob die der Nato unterstellten Bundeswehr-Divisionen als eine Art Polizeihund im algerisch-tunesischen Grenzgebiet eingesetzt werden könnten?[3]
Aber es waren schon Deutsche in der französischen Armee: denn es gab in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger offen Rekrutierungsbüros für die französische Fremdenlegion. Hier meldeten sich junge deutsche Männer, die aus den unterschiedlichsten Gründen von Zuhause «wegwollten». Und so wurde auch der sogenannte „Rückholdienst“ von links-katholischen Organisationen und Protagonisten die erste Linie einer «Algerien-Solidarität».[4]
Ein zweiter Pol bildete sich in den Gewerkschaften der Bundesrepublik: Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland (teilweise mit politischem Exilhintergrund) organisierten sich in den Einzelgewerkschaften und im DGB. Aus ideologischer Ableitung über kapitalistische und/oder koloniale Ausbeutungsmechanismen gab es am Arbeitsplatz eine politische Solidaritätsebene, die sich auch auf Algerien erstreckte. Es ist bezeichnend, dass der DGB die ersten Kontakte zu den Gewerkschaften in der «3. Welt» knüpfte. Mehr noch: die algerische Gewerkschaft UGTA war eine der ersten Organisationen, die 1959 in den IBFG aufgenommen worden war.
Keine Gratwanderung zwischen Protest, Hilfe und Diplomatie
Für Hans–Jürgen Wischnewski[5] gab es keine abstrakte Gratwanderung als voluntaristische Option; es war erzwungene Realität: «Ein Ostpreuße wird in Niederbayern Sozialdemokrat». Arbeitsdienst mit Erfrierungen im Winter 1941/42, Rekrut bei den Kradschützen im Kaukasus 1942, Landmaschinenarbeiter in Bayern nach 1945, Student der Literaturwissenschaften, IG Metall-Gewerkschaftssekretär, Jungsozialistenvorsitzender und SPD-Vorsitzender in Köln. In der Person verknüpfen sich die Widersprüche und lösen sich im Sinne der Hegelschen Trias «These-Antithese-Synthese» in ihr auf. Es ist die Realität, die steuert.
Algerische Arbeiter im Exil standen in der Tür und brauchten Hilfe. Den Umstand zu verneinen, war für ihn keine Option. Wischnewski nahm sich der Algerien-Solidaritätsarbeit in Köln an, was zu seinem Markenzeichen wurde. Er mietete in Köln auf seinen Namen ein Büro als Anlaufstelle für die algerischen Flüchtlinge an; auf seinen Namen, damit das Büro über ihn als Bundestagsabgeordneten eine gewisse Immunität gewährleisten konnte. Die Miete zahlte der DGB. Im Sitzungsraum der Kölner SPD fand die erste Zusammenkunft zwischen dem damaligen Außenminister der Algerischen Provisorischen Exilregierung und Vertretern Algeriens aus anderen europäischen Hauptstädten statt. Es war eine praktische Solidaritätsarbeit des Überlebens und der Integration, die allerdings häufig unter dem Radarschirm einer aufgeregten Presseszene umgesetzt wurde. Und die SPD konnte sich gleichzeitig und zunehmend nicht der politischen Realität verschließen.
«Kofferträger»
«Kofferträger» waren die ersten Hinweise[6] auf eine Fülle von konspirativen Kuriertätigkeiten, zunächst zwischen Frankreich und Algerien und anschließend auch von und nach Deutschland. Unter ihnen befand sich die Frankfurter SDS-Soziologiestudentin Walmot Falkenberg, die 1960 einen Ausbruch von Inhaftierten in Frankreich organisierte. Das deutsche Zweigbüro der FLN war in einem Büro in Köln; nach der Flucht der französischen FLN aus Frankreich 1958 fanden die Kämpfer Unterschlupf in der tunesischen Botschaft, weil Tunesien bereits unabhängig und anerkannt war und die Botschaftsräume diplomatische Immunität genossen.
Die frühen Aktionen sind mit bestimmten Akteuren verbunden:
- Politische Öffentlichkeit und Handlungsraum: das ermöglichte auf Grund seiner Funktion als Bundestagsabgeordneter Hans-Jürgen Wischnewski.
- Waffenproduktion und –schmuggel: Der Ingenieur Konrad Frielinghaus organisierte in Rabat und Casablanca die Produktion von Maschinenpistolen und kleinen Granatwerfern und versteckte sie in Lagerhäusern von Orangenplantagen an der algerischen Grenze. Ab 1957/58 wollte Georg Puchert, ein Waffenschmuggler vor der marokkanischen Küste, den privaten Waffenhandel für die ALN neu organisieren, wurde aber durch ein vom französischen Geheimdienst («Deuxième Bureau») organisiertes Attentat in Frankfurt 1959 ermordet.
- Falschgeld: im Jahre 1960 sollte in einer Osnabrücker Falschgelddruckerei um Michel Raptis - mit zwei holländischen Lithographen und einem Gelegenheitsarbeiter Falschgeld gedruckt werden. Die Sache flog auf und der spätere nordrhein-westfälische Innenminister Dieter Posser aus der Rechtsanwaltskanzlei Gustav Heinemann übernahm auf Vermittlung Wischnewskis die Verteidigung der angeklagten Falschmünzer.
- «Freies Algerien» – eine Zeitschrift, die in einer Auflage von 3.000 bis 6.000 vom September 1958 bis April/Mai 1959 in 23 Ausgaben erschien. Herausgeber war der «Arbeitskreis der Freunde Algeriens» aus der Kölner SPD, «gemacht» von Georg Jungclas.
- Kinderheim in Tunis: Auf Initiative von Jungsozialisten, SPD, Gewerkschaften und engagierten Persönlichkeiten, technisch umgesetzt von der Arbeiterwohlfahrt, wurde in La Marsa, einem Vorort von Tunis, ein Heim für Waisenkinder von gefallenen ALN/FLN-Freiheitskämpfern eröffnet.
Historiker*innen beurteilen die deutsche Außenpolitik der damaligen Zeit als «Politik des Spagats», als eine Politik des «Sowohl-als-auch»[7], wobei Adenauer, den französischen Außenminister Pinay zitierend, alles auf den Ost-West-Konflikt hin formulierte: «Algerien ist keine Kolonialfrage, Algerien ist eine kommunistische Frage».[8] Hans-Jürgen Wischnewski gab einer anderen deutschen Außenpolitik Gestalt und Gesicht und führte das als erster Entwicklungsminister der ersten «Großen Koalition» fort. Sein damaliges Engagement für Algerien wird auch heute noch von Algerier*innen anerkannt[9]. Der algerische Befreiungskampf war (und blieb auch nach 1962) ein Bürgerkrieg auf mehreren Ebenen: Algerier gegen Franzosen, Franzosen gegen Franzosen in Algerien und in Frankreich, Algerier gegen Algerier, hier wie dort. Historisch endete er auch nicht mit der Unabhängigkeitserklärung 1962 und der in Frankreich dekretierten Generalamnestie 1964, sondern schwelt heute sowohl in Frankreich als auch in Algerien weiter, wovon der von Staatspräsident Macron dem Historiker Benjamin Stora in Auftrag gegebene «Rapport» zeugt.[10]
[1] Klaus-Jürgen Müller, Die Bundesrepublik Deutschland und der Algerienkrieg, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 38, Heft 4, 1990, S. 609-641, hier: S. 615.
[2] Zur Erinnerung: Das Saargebiet war nach dem Zweiten Weltkrieg an Frankreich gefallen und Frankreich eingegliedert (nicht unähnlich dem Status Algeriens) mit dem Franc Français als Währung. Nach langen deutsch-französischen Verhandlungen wurde zwischen Mendès-France und Adenauer in den Pariser Verträgen ein „Europäisches Statut“ für das Saargebiet ausgehandelt, das am 23. Oktober 1955 von der Bevölkerung zu 67,7% abgelehnt wurde. Diese Lösung hatte Adenauer favorisiert und war dabei auch an seinen eigenen Parteifreunden (der Saar-CDU) gescheitert. Siehe: Bruno Thoss, Die Lösung der Saarfrage 1954/55, in: Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte, 38. Jg. Heft 2, 1990, S. 225-288. Darauf starteten Neuverhandlungen mit dem im Luxemburger Vertrag festgehaltenen Ergebnis, dass das Saargebiet am 1. Januar 1957 als 10. Bundesland in die Bundesrepublik aufgenommen und am 6. Juli 1959 mit der Einführung der DM die wirtschaftliche Eingliederung abgeschlossen wurde.
[3] SPD-Pressedienst vom 2. 5. 1958.
[4] Si Mustapha alias Winfried Müller soll von Tetuan (Marokko) aus 4.000 Deutsche zur Desertation und zur Rückkehr nach Deutschland bewegt haben. Siehe Fritz Keller, Leben am Rande der Wahrscheinlichkeit, Mandelbaum-Verlag Wien 2017.
[5] Hans-Jürgen Wischnewski, Mit Leidenschaft und Augenmaß - In Mogadischu und anderswo – Politische Memoiren, C. Bertelsmann Verlag München 1989
[6] Claus Leggewie, Kofferträger, Das Algerien-Projekt der Linken im Adenauer-Deutschland, Rotbuch Verlag Berlin, 1984. Siehe auch Rachid Ouaïssa, Les carnets de Hartmut Elsenhans – La guerre d’Algérie par ses acteurs françaises, Casbah Editions Alger 2009. Es handelt sich um Transkriptionen von Tonbandaufzeichnungen, die Elsenhans als Doktorand von 1968 bis 72 in Paris machte.
[7] Klaus-Jürgen Müller, Die Bundesrepublik und der Algerienkrieg, a. a. O., S. 629, S. 641
[8] Konrad Adenauer, Teegespräche 1955 - 58, Bd. 3, (vom 13. August 1957), Siedler 1986, S. 226.
[9] www.Algerien-heute.de, Hommage à Hans-Jürgen Wischnewki, veröffentlicht am 26. Februar 2016, Abfrage am 29. 4. 2022.
[10] Benjamin Stora, Les Questions Mémorelles Portant sur la Colonisation et la Guerre d’Algérie, Rapport, Paris Januar 2021, 160 S.