Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Bildungspolitik - Südasien Auswege aus der Diskriminierung im indischen Hochschulsystem

Ein neues Stipendienprogramm soll den ungleichen Zugang zu Bildung auf dem Subkontinent bekämpfen

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Eine Angehörige der Dalit-Gemeinschaft ruft während einer Demonstration in Mumbai, Indien am 3. Januar 2018 Parolen.  Photo: picture alliance / REUTERS | SHAILESH ANDRADE

Am 17. Januar 2016 erhängte sich der Doktorand und Aktivist Rohith Vemula, der an einer der renommiertesten Universitäten Indiens promovierte. In seinem Abschiedsbrief prangerte der 26-Jährige das System an, das den «Wert eines Menschen auf seine bloße Identität» reduziere.

Rohith war ein Dalit, ein Angehöriger der untersten Kaste in Indien, und ein entschiedener Verfechter einer Politik, die sich gegen das Kastensystem und das hinduistische Mehrheitssystem richtet. Die rechte Universitätsverwaltung hatte mit Unterstützung der indischen Regierungspartei mit grausamen und ungerechten Mitteln dafür gesorgt, dass er seine Ausbildung nicht abschließen konnte – ein verheerender Umstand für diesen Studenten der ersten Generation. Schließlich hielt er die Situation nicht länger aus.

Sein tragischer Suizid bringt jedoch tiefer liegende Probleme ans Licht, etwa die extreme Ungleichheit im indischen Bildungssystem. Obgleich Bildung oft als Mittel zur Behebung sozialer Ungleichheiten angepriesen wird, haben der ungleiche Zugang zu Bildungseinrichtungen und die großen Qualitätsunterschiede zur Folge, dass Bildung in Indien soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten reproduziert. Die am stärksten benachteiligten Gruppen sind diejenigen, die aufgrund von Kaste, Klasse, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder anderen Merkmalen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Kindern und jungen Erwachsenen, die marginalisierten Gruppen angehören, wird das Recht auf Bildung häufig ganz verwehrt oder sie haben lediglich Zugang zum absoluten Minimum. Gelingt ihnen dennoch der Zugang zu einer besseren Einrichtung, sind sie wahrscheinlich einem hohen Maß von Diskriminierung ausgesetzt.

Vor diesem Hintergrund hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem Centre for Modern Indian Studies (CeMIS) der Universität Göttingen ein Stipendienprogramm für moderne Indienstudien initiiert. Bevor das Programm im Oktober startet, sprach Federica Drobnitzky mit Rupa Viswanath, CeMIS-Professorin für Religionen in Indien und Fellow am Lucy Cavendish College, University of Cambridge, und Karin Klenke, CeMIS-Koordinatorin für die Förderung von Forschung und der Gewinnung neuer talentierter Studierender, über die Stipendien, strukturelle Ungleichheit sowie den ungleichen Zugang zu Bildung in Indien und darüber, was sich innerhalb des indischen Bildungssystems dringend ändern muss.

Das CeMIS startet in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Stipendienprogramm für marginalisierte Gruppen in Indien. Worauf zielt das Programm ab?  

RV: In Indien hat es nie ein allgemein zugängliches Bildungswesen gegeben, und das vorherrschende Bildungssystem ist von extremer Ungleichheit geprägt. In den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich diese Ungleichheit mit der zunehmenden Privatisierung des Bildungswesens noch verschärft, worunter vor allem marginalisierte Menschen leiden. Neben der Elite gibt es in Indien auch viele Gruppierungen außerhalb des Mainstreams, die nur selten die Möglichkeit haben, ein Studium aufzunehmen.

Kinder von Nachkommen landloser Dalit-Familien, Kinder von Adivasi (Stammesvölkern), die in abgelegenen Gebieten leben, deren Land und Ressourcen bedroht sind und die kaum Zugang zu staatlichen Dienstleistungen haben, oder Kinder der Millionen von Gastarbeiter*innen, die um ihr Überleben kämpfen müssen, Angehörige der verfolgten religiösen Minderheiten Indiens, insbesondere Muslim*innen – sie alle leiden unter einer tief verwurzelten Ungleichheit, die nicht zuletzt auch ihre Bildungschancen betrifft und sie starker Diskriminierung aussetzt.

Im CeMIS beschäftigen wir uns mit Wirtschafts-, Klassen- und Kastenpolitik, mit Nationalismen und Mehrheitsverhältnissen, mit globalen aktivistischen Netzwerken, mit Ausbeutung und vielem mehr. Das heißt es gibt inhaltlich viele Überschneidungen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Viele indische Studierende aus marginalisierten Gemeinschaften haben uns erreicht, und in den letzten zehn Jahren konnten wir uns ein genaueres Bild der harten Bedingungen im Bildungssystem Indiens machen. Das Stipendienprogramm von CeMIS und der RLS soll genau diese Realität ändern. Mit der Finanzierung wollen wir Studierende aus Randgruppen befähigen, aus dem Kreislauf der Ungerechtigkeit, dem sie ausgesetzt sind, auszubrechen.

Wie sieht das Programm genau aus?

RV: Das Programm umfasst ein zweijähriges Stipendium für ein Masterstudium mit Aussicht auf Verlängerung und ein dreijähriges Stipendium für Doktorand*innen. Die Stipendien schließen einen monatlichen Lebenshaltungskostenzuschuss, Reisekosten sowie Sprachkurse ein.

Es zielt in erster Linie auf indische Studierende aus Randgruppen ab, die hervorragende akademische Leistungen erbringen. Insbesondere richtet es sich an Studierende aus Dalit- und Adivasi-Gemeinschaften, an Kinder von informell Beschäftigten, an religiöse Minderheiten und Akademiker*innen der ersten Generation.

Bei der Stipendienvergabe zählt für uns auch, ob sich Bewerber*innen in irgendeiner Form engagieren oder sich nachweislich mit sozialen oder politischen Bewegungen und Gesellschaftskritik in Indien auseinandersetzen. In diesem Sinne sind Studierende auch eingeladen, sich an den Aktivitäten der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu beteiligen.

Darüber hinaus ist CeMIS bestrebt, innerhalb eines institutionellen Rahmens ein Programm zu schaffen, das vor allem darauf abzielt, Menschen in unsere internationalen Netzwerke einzubinden. Das Wissenschaftssystem basiert weitgehend auf Netzwerken, zu denen marginalisierte Studierende leider meist keinen Zugang haben. Selbst wenn sie es an Eliteuniversitäten schaffen, können sie oft nicht auf soziale, langfristige Verbindungen bauen. Genau hier setzen die Arbeit von CeMIS und unsere Stipendien an. Nur in solchen Netzwerken können sich marginalisierte Studierende gegenseitig unterstützen, ihre Karriere aktiv vorantreiben und den Sprung in die akademische Elite schaffen.

Das Stipendienprogramm von CeMIS und der RLS ist also das erste internationale Programm überhaupt, das speziell für Dalit- und Adivasi-Gruppen eingerichtet wurde? 

RV: Ja, das ist es auf jeden Fall. Das Besondere an dem Programm ist, dass es sich nicht nur an Dalits und Adivasi richtet, sondern auch an Lernende der ersten Generation und an stark marginalisierte Menschen oder Mitglieder religiöser Minderheiten.

Dalits gehören in ganz Indien zu den am stärksten unterdrückten Kasten, die seit jeher unentgeltliche Arbeit in der Agrarwirtschaft leisten und denen bis heute grundlegende soziale Rechte wie der Zugang zu angemessener Beschäftigung, Nahrung, Wasser und Grundschulbildung weitgehend verwehrt werden. Nur ein winziger Prozentsatz hat Zugang zu höherer Bildung, und dies auch nur mit enormen Anstrengungen. Auch die Adivasi, Stammesgruppen in Indien, sind von sozialer Ausgrenzung und bitterer Armut betroffen. Und was die Muslim*innen in Indien betrifft, so leiden sie unter Ausgrenzung und schwerer Gewalt – vorangetrieben durch ein Regime der hinduistischen Mehrheit, das offen Hass schürt.

Tatsächlich gibt es in Indien selbst nur sehr wenige Institutionen, die Stipendien anbieten, die mit unseren vergleichbar sind. Ansonsten ist mir aber auch keine andere internationale Organisation bekannt, die begabte Menschen aus marginalisierten Communitys in Indien fördert.

KK: Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass mit dem Zugang zu Bildung für Menschen aus marginalisierten Gruppen insgesamt auch Änderungen in den Bildungseinrichtungen in Indien selbst erzielt werden sollen. Es geht nicht nur um den Zugang zu Bildung, sondern auch darum, dass immer mehr marginalisierte Menschen Professor*innen und Dozent*innen an indischen Universitäten werden, was langfristig zu einem Wandel in der Gesellschaft und zur Entstehung einer kritischen Masse beiträgt.

Inwiefern werden junge Menschen aus marginalisierten Gruppen beim Zugang zur Hochschulbildung in Indien diskriminiert?

KK: Es gibt viele unausgesprochene Regeln für Studierende aus Randgruppen und im Gegensatz dazu exklusive Räume für die Elite. Marginalisierte Studierende haben mir berichtet, dass ihre Kommiliton*innen sie offen wegen ihrer Englischkenntnisse auslachen.

Privilegierte Studierende bedenken oft nicht, dass ihre guten Sprachkenntnisse nicht zuletzt auf ihr soziales und kulturelles Kapital zurückgehen, auf ihre Eltern, ihren Zugang zu gutem Englischunterricht und generell ihre Möglichkeiten. All das geht weit über den beruflichen Kontext hinaus und trägt dazu bei, von Kommiliton*innen, aber auch von Professor*innen diskriminiert zu werden.

RV: Vorurteile gegenüber Angehörigen bestimmter Kasten werden in Indien offen geäußert und sind weithin akzeptiert. Speziell an Eliteuniversitäten kann dies in Form von weit verbreiteten Stereotypen über Studierende aus niedrigeren Kasten und Klassen zum Ausdruck kommen, die als weniger intelligent und fähig dargestellt werden. Das führt zu sozialer Ausgrenzung und geringer Beachtung durch Lehrkräfte.

Darüber hinaus hat der Aufstieg des Rechtspopulismus durch den Sieg der hindunationalistischen Partei in den letzten zehn bis 15 Jahren die Situation für marginalisierte Studierende stark verschlechtert, insbesondere für diejenigen, die es wagen, die grassierende Ungerechtigkeit anzuprangern. Rechte Studierendengruppen sind heute an den Hochschulen sehr aktiv und versuchen, Stimmen von Andersdenkenden mithilfe von Gewalt und Schikanen zum Schweigen zu bringen. Dabei erhalten sie volle Unterstützung durch die Polizei und der Universitätsverwaltung, die sich auf die Seite des herrschenden Regimes stellen.

Zurück zur Frage der Lehrkräfte: Es gibt sicherlich wunderbare, einfühlsame, an sozialer Gerechtigkeit interessierte Lehrende an indischen Hochschulen, aber sie sind in der Minderheit und werden nicht institutionell unterstützt. Die meisten Dozent*innen wissen nicht, wie marginalisierte Studierende leben und vor welchen Herausforderungen sie stehen, und sie zeigen wenig Empathie. Meist weigern sich Professor*innen und Dozent*innen, Studierende aus marginalisierten Gruppen zu betreuen, und arbeiten lieber mit der Elite. Obgleich diese Diskriminierung offen zutage tritt, wird sie von der Allgemeinheit geduldet.

Für viele dieser Studierenden bringt diese Ungerechtigkeit verheerende psychologisch Folgen mit sich. Bis zum vergangenen Jahr gab es staatlich geförderte Stipendien wie die National Overseas SC/ST Fellowships, die einigen wenigen glücklichen Dalits und Adivasi den Zugang zu einer internationalen Ausbildung ermöglichten. Doch die Bestimmungen wurden von der derzeitigen Regierung geändert. Jetzt erhalten diese Student*innen kein solches Stipendium mehr, wenn sie im Ausland Sozial- oder Geisteswissenschaften mit dem thematischen Schwerpunkt Indien studieren möchten. Die indische Regierung hat erkannt, dass sie zwar über Möglichkeiten verfügt, abweichende Meinungen in Indien zum Schweigen bringen und den Zugang zu Bildung zu kontrollieren, dass es aber viel schwieriger ist, Kritik an der indischen Regierung im Ausland zu unterdrücken. Deshalb will sie den Zugang zu dieser Art von Bildung unterbinden.

Das bedeutet, dass Dalits nicht nur mit dem ungleichen Zugang zu Bildung konfrontiert sind, sondern ihnen gleichzeitig eine gleichberechtigte politische Teilhabe verwehrt wird …

RV: Ja, das stimmt. Das indische Regime verfolgt eine Art Hypernationalismus und ist unglaublich besorgt, dass die im Land grassierenden Missstände ans Tageslicht kommen könnten. Unser Team bei CeMIS wusste von dieser geplanten Gesetzesänderung. Wir haben einen Dalit-Studenten betreut, der ein solches Stipendium erhalten hatte und der eine brillante Masterarbeit darüber schrieb, wie der postkoloniale indische Staat daran scheiterte, Einkommensmöglichkeiten in der Landwirtschaft für Dalits zu sichern. Eine in der Verwaltung tätige Person fragte ihn gezielt, bevor sie ihm widerwillig und mit Verspätung das ihm zustehende Geld aushändigte, warum er diesen Studiengang unbedingt im Ausland studieren wolle.

Kritische Akademiker*innen und Aktivist*innen sind heute in alarmierendem Ausmaß von brutaler Verfolgung und Inhaftierung bedroht. Jegliche Kritik an der Regierung wird als terroristische Aktivität gebrandmarkt, und viele Intellektuelle und Menschenrechtsaktivist*innen wurden ohne Gerichtsverfahren unter Berufung auf drakonische Terrorismusgesetze inhaftiert. Ihnen wurde vorgeworfen, mit den Naxalit*innen in Verbindung zu stehen, einer maoistisch inspirierten bewaffneten Aufstandsbewegung, die vom Staat als terroristische Organisation eingestuft wird.

Im Grunde genommen werden nun alle, die in Indien eine andere Meinung vertreten, mit Maoist*innen gleichgesetzt, so dass sie nach den Terrorismusbekämpfungsgesetz verfolgt werden können. Mindestens eine Person ist im Gefängnis gestorben. Viele Akademiker*innen in Indien leben in einer Zeit voller Angst und Ungewissheit und schweigen lieber.

Es gibt keine Gesetze, um einen Terrorismusverdacht abzuwehren. Wir sollten diese massive politische Zensur eigentlich zum Anlass nehmen, so etwas wie ein Stipendienprogramm für bedrohte Akademiker*innen in Indien einzuführen.

Wie haben Sie angesichts der Geschichten marginalisierter Studierender und ihrer individuellen Herausforderungen Entscheidungen im Auswahlverfahren für das Stipendienprogramm getroffen?

KK: Es war relativ einfach, eine Auswahl unter den 51 vollständigen Bewerbungen für ein Masterstudium und den 50 Bewerbungen für eine Promotion zusammenzustellen. Die Gespräche mit Bewerber*innen, die in die engere Wahl kamen, und ihre persönlichen Biografien waren wirklich sehr bewegend. Nachdem wir so viel über ihre Geschichte und ihre Schwierigkeiten erfahren hatten, fiel uns die endgültige Entscheidung darüber sehr schwer, an wen wir letztendlich einen Platz vergeben würden.

RV: Wir alle wissen, dass die Menschen in Indien arm sind. Wenn wir allerdings Geschichten von Menschen hören, die nur allein für den Zugang zu so grundlegenden Dingen wie Bildung oder Stipendien extrem hart arbeiten, macht es einen oft sprachlos. Eine Frau, an die wir schließlich ein Stipendium für ein Masterstudium vergaben, stand jeden Morgen um drei Uhr auf, um zu lernen, denn das war die einzige Tageszeit, an der ihr das in ihrem Haus mit nur einem Zimmer möglich war. Geschichten wie diese unterstreichen, wie viel schwerer es marginalisierte Studierende haben, um überhaupt so weit zu kommen, dass sie sich für ein Stipendium wie dieses bewerben können, und wie viele Menschen Unterstützung brauchen, um Zugang zu Bildung zu bekommen.

Wir treffen uns sowohl mit erfolgreichen Bewerber*innen als auch mit denen, die es nicht geschafft haben. Wir stellen ihnen aktuelles Informationsmaterial und neue Kontakte zur Verfügung. Einer unserer Bewerber*innen für ein Masterstudium, der das Stipendium letztlich nicht bekommen hat, wird trotzdem ans CeMIS kommen und durch eine studentische Hilfskraft unterstützt werden. Das macht mich wirklich glücklich.

Es besteht allgemein Einigkeit darüber, dass Stipendien ein Mittel gegen Ungleichheit sind. Aber kann sich der ungleiche Zugang zu Bildung auch in internationalen Stipendienprogrammen widerspiegeln?

RV: Es gibt natürlich verschiedene Arten von Stipendien. In Indien erhalten viele Studierende an Eliteuniversitäten internationale Stipendien und haben die Möglichkeit, in der ganzen Welt zu studieren. Aber sie stellen sicherlich nur eine sehr kleine Gruppe dar, in der marginalisierte Menschen oder solche mit schwierigen Bedingungen keinen Platz finden.

Die Hauptursache für Ungleichheit in Bezug auf diese Art von Stipendien sind die miserablen Bedingungen in der Grund- und Sekundarschulbildung in Indien, die wir bereits angesprochen haben. Viele marginalisierte Menschen werden noch nicht einmal in die Lage versetzt, die Voraussetzungen für einen Master- oder Promotions-Studiengang am CeMIS zu erfüllen. Dagegen können wir konkret nicht viel tun, außer zu hoffen, dass einige derjenigen, die wir ausbilden, sich politisch für einen gleichen Zugang zu Bildung in Indien engagieren werden.

Inwieweit kann ein internationales Stipendienprogramm wie das Ihre der strukturellen Ungleichheit im Land entgegenwirken?

RV: Stipendien für marginalisierte Menschen aus Indien, wie wir sie anbieten, wirken vielen Arten von Ungleichheit entgegen, mit denen Menschen von Geburt an konfrontiert sind. Anstatt nur denjenigen Vorteile zu verschaffen, die ohnehin privilegiert sind, wie es bei den meisten Stipendien der Fall ist, ermöglicht dieses Stipendium Inder*innen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen, in den Westen zu kommen, was ihnen bereits einen bestimmten Status und Privilegien verschafft. Marginalisierte Studierende am CeMIS haben zum Beispiel auch deswegen eine Professorenstelle in Indien bekommen, weil sie ihren Abschluss außerhalb von Indien gemacht haben und deshalb einen gewissen Status genießen.

Besteht nicht die Gefahr, dass wir zur Abwanderung von Fachkräften beitragen, wenn wir uns weiterhin auf akademische Spitzenleistungen konzentrieren?

KK: Ich stehe dem Konzept des Braindrain sehr zwiespältig gegenüber. Es fällt mir schwer, Menschen nur als Staatsangehörige zu betrachten, die verpflichtet sind, zur Entwicklung ihres Staates beizutragen, der sie brutal unterdrückt. Warum sollten sie das tun? Wenn sie den Wunsch haben, auszuwandern und stattdessen von Europa aus kritische Arbeit zum Thema Indien zu leisten, was ist daran falsch?

Das wäre ja so, als ob jemand in Deutschland, der aus einer benachteiligten Region kommt, verpflichtet wäre, in genau diese Region zurückzugehen und dort zu arbeiten. Mir ist die globale Ungleichheit und der Vorteil großer Wirtschaftsmächte hinsichtlich der Anwerbung von Fachkräften bewusst, aber wer kann es Angehörigen der Kaste der Dalits oder linken Aktivist*innen verübeln, wenn sie nicht unter diesen Bedingungen in Indien leben möchten?

Letztlich hoffen wir natürlich, dass diese Menschen die indischen Universitäten langfristig verändern und von innen heraus revolutionieren werden. Aber warum sollten sie ihre Karriere, ihr Wohlergehen, ihr ganzes Leben opfern, um Indien zu einem besseren Land zu machen?

RV: Angesichts der besonderen Situation in Indien bietet ein Studium im Ausland heute eine seltene Gelegenheit, zum Thema Indien kritisch und im Rahmen eines konkreten Forschungsauftrags zu debattieren und zu diskutieren, ohne Repressalien fürchten zu müssen. Das ist meiner Meinung nach ein viel relevanteres Thema als die Abwanderung von Fachkräften, die ohnehin eine Kritik ist, die normalerweise nicht auf die von uns untersuchten Themen angewendet wird. Die Zahl der indischen Elitestudent*innen, die im Ausland Naturwissenschaften, Medizin, Wirtschaft usw. studieren, ist weitaus größer als die Zahl der Menschen, die ins Ausland gehen, um ein Studium der Sozial- und Geisteswissenschaften aufzunehmen.

Abgesehen von den Stipendien – was muss sich im indischen Bildungssystem konkret ändern, um der sozialen Ungerechtigkeit und dem ungleichen Zugang zu Bildung in Indien weiter entgegenzuwirken?

KK: Es wäre wahrscheinlich vereinfacht zu sagen, dass sich mit einer Änderung des Bildungssystems direkt das Klassen- und Kastensystem abschaffen ließe. Die Ursachen für die ungerechten sozialen Verhältnisse in Indien sind komplex und können wahrscheinlich nicht allein durch eine Änderung des Bildungssystems angegangen werden. Ein guter Anfang wäre auf jeden Fall, allen Menschen Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung zu gewähren. In einem zweiten Schritt müsste der Diskriminierung von Angehörigen niedriger Kasten in Bildungseinrichtungen ein Ende gesetzt werden.

RV: Selbst im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern gibt der indische Staat nur sehr wenig für Bildung aus. Bereits seit Erlangung der Unabhängigkeit investiert das Land nicht in der Breite und vernachlässigt somit die arme Bevölkerung. Seitdem hat keine Regierung jemals in Erwägung gezogen, Bildung für alle bereitzustellen. Dies ist eine furchtbare Ungerechtigkeit, wie auch Anand Teltumbde, ein brillanter Intellektueller und Aktivist, der den Dalit angehört und auf unbestimmte Zeit inhaftiert ist, eindringlich beschrieben hat.

Daher sind vor allem Investitionen und der Zugang zu angemessener Bildung für alle erforderlich. In der heutigen Zeit muss allen Menschen Zugang zu Bildungsangeboten in englischer Sprache gewährt werden, anstatt Bildung – wie es derzeit der Fall ist – als Instrument zum Ausschluss der weniger Privilegierten zu nutzen. Bildung ist und bleibt ein – wenn auch unsicherer – Ausweg aus der sozialen Ungleichheit, die in Indien vorherrscht.

Übersetzt von André Hansen für Gegensatz Translation Collective.