Hintergrund | Kommunikation / Öffentlichkeit - China Wie Chines*innen über Sozialismus sprechen

Seit Jahrzehnten debattieren Chines*innen über das Wesen, die Entwicklung und die Zukunft ihres politischen Systems

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Jan Turowski,

Eine Wache hört dem abschließenden Arbeitsbericht des damaligen Generalsekretärs und chinesischen Präsidenten Hu Jintao zu beim 18. Nationalkongresses der Kommunistischen Partei Chinas in der Großen Halle des Volkes in Peking, November 2012. CC BY-NC-ND 2.0, Foto: Flickr/Remko Tanis

Seit Deng Xiaoping Ende der 1970er Jahre die Reform- und Öffnungspolitik einleitete, hat sich China dramatisch verändert. Es handelt sich um eine historisch einzigartige Wachstumsperiode, die durch die Expansion von Märkten, den Zufluss von ausländischem Kapital, Technologie und Expertise, durch massive Urbanisierung und Industrialisierung, Wirtschaftslenkung und Investitionen in die Infrastruktur angetrieben wird. Das Wirtschaftswachstum hat das städtische China in nur einer Generation zu einer Mittelklassegesellschaft gemacht und im ländlichen China Hunderte Millionen aus der Armut befreit.

Jan Turowski leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Peking. Gemeinsam mit Yang Ping gibt er die Reihe LinkerChinaDiskurs beim VSA-Verlag heraus, von dem der erste Band, Sozialismusdebatte chinesischer Prägung, 2021 erschienen ist.

Während dieser gesamten Transformation hat die Staatsführung immer wieder betont, auf einem sozialistischen Entwicklungspfad zu sein. Sie hat die Wirtschaft als «sozialistische Marktwirtschaft» definiert und erklärt, sich bis zum Jahr 2050 in ein umfassend sozialistisches Land entwickeln zu wollen. Gleichwohl wird Sozialismus in China und insbesondere auch in der Kommunistischen Partei (KPCh) weniger als Zustand, sondern vielmehr als strategisch zielgerichteter Entwicklungsprozess verstanden.

Angesichts der Vielzahl von sozial-ökonomischen Herausforderungen und Zwängen der alltäglichen Politikgestaltung und -implementierung ist die chinesische Sozialismusdebatte im Grunde eine Hintergrundmelodie, die den praktischen Politikbetrieb mal lauter, meist leise begleitet. Es ist eine theoretische Debatte, die im ständigen Wechselspiel mit den realpraktischen Entwicklungen und Interessenkonflikten steht, sich entsprechend verändert, experimentiert, sich anpasst und dennoch den Politikprozess richtungsweisend strukturiert. Nicht zuletzt hat sie eine normative, gleichwohl abstrakte Zielvorgabe und einen komplexen Katalog von Begriffen und historischen Referenzen bereitgestellt.

Im Westen hingegen ist die Debatte, ob China sozialistisch ist oder nicht, oft eher unproduktiv auf binäre Kategorien ausgerichtet: Sozialismus oder nicht? Angesichts der immensen Geschwindigkeit des Wandels ist es allerdings äußerst schwierig, das chinesische Modell selbst in dem historisch kurzen Zeitraum der letzten vierzig Jahre auf einen Moment hin zu fixieren. Dadurch geraten nicht nur die Grautöne aus dem Blick – der Debatte geht auch eine Reflexion über Entwicklungsoptionen verloren, die in dem chinesischen System immer noch angelegt sind oder sich überhaupt erst aus der Transformation der letzten Jahrzehnte ergeben haben.

Wenn man sich für einen Sozialismus im 21. Jahrhundert interessiert, dann wird man das Geschehen in China ernst nehmen müssen. Denn dessen zukünftige Wirtschaftsdominanz wird entweder den globalen Kapitalismus prägen, auf den Sozialist*innen weltweit reagieren müssen,oder die Zukunft des Sozialismus wird durch Chinas programmatische Transformation hin zu einer sozialistischen Wirtschaft bestimmt. So oder so: Die Auswirkungen auf die Welt, die sich durch Chinas Aufstieg ergeben, sind zu massiv, als dass man sie ignorieren könnte.

In der westlichen Chinadebatte finden sich immer auch ein paar chinesische Stimmen, die die westliche Expertise und Interpretation ergänzen und bestätigen. Doch Aspekte, wie Chinas Gesellschaft über sich selbst diskutiert, wie die intellektuelle Diskurslandschaft strukturiert ist, welche Fragstellungen und Interessen sich für chinesische Akteure ergeben und um welche Ideen gestritten wird, finden in der breiteren Diskussion in Europa oder Nordamerika kaum Beachtung. Mehr noch: In der westlichen Sozialismusdebatte finden sich so gut wie keine chinesischen Akteure und Positionen. Im Rest der Welt hingegen hat der westliche Sozialismus-Diskurs seine exklusive Definitions- und Bewertungsfunktion längst verloren und kann – nicht zuletzt wegen der politischen Schwäche westlicher sozialistischer Parteien und Organisationen – der Welt nicht mehr allein erklären, was Sozialismus ist und was nicht.

Die Sozialismus-Debatte nach Mao

Auch in China wird darüber diskutiert, ob es ein sozialistisches Land ist, ob es sich weiterhin auf einem sozialistischen Entwicklungspfad befindet oder gar, ob das Ziel des Sozialismus noch zeitgemäß ist. Dass die chinesische Verfassung China als einen sozialistischen Staat bestimmt, ist dabei eher Ausgangs- als Endpunkt der Debatte.

Obschon chinesische Intellektuelle in den 1980er Jahren immer noch unter dem Schock der Kulturrevolution standen, begannen sich langsam neue Publikationslandschaften, politische Orientierungen und intellektuelle Strömungen auszuprägen. In dieser Zeit flammten heftige Debatten zwischen Liberalen, Kulturkonservativen und Autoritaristen wieder auf – beispielsweise in Anschluss an die Fernsehdokumentation «Heshang», die äußerst kritisch den Niedergang der traditionellen chinesischen Kultur behandelt..

Sie erinnern in mancherlei Hinsicht an die Diskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während öffentliche Debatten einerseits immer noch äußerst repressiv reguliert sind, entwickelten sich in kleinen Universitätszirkeln durchaus freie Diskussionen, die wohl nicht zuletzt deshalb toleriert werden, weil die Führung der KPCh sich nach den ideologischen Erschütterungen der Kulturrevolution ihrerseits auf der Suche nach einem brauchbaren Identitätsnarrativ befand. Die Gesellschaftsstruktur war immer noch sehr einfach: Die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem Land und auch die meisten Städter*innen standen unter Transformationsstress und waren mit den neuen Möglichkeiten und Zwängen befasst, sodass diese Debatten fast ausschließlich in winzigen Zirkeln von Intellektuellen und Parteikadern stattfanden.

Die erste Hälfte der 1990er Jahre war – nach der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz – durch eine erneute Schockstarre geprägt. Doch die dann fortschreitenden Reformen, die die Gesellschaft und ihre Institutionen verändern und zunehmend ausdifferenzieren, schufen neue Freiheiten und stellten neue Fragen. In den Mainstream-Medien war es in der zweiten Hälfte der 1990er zwar immer noch schwierig, offene Kritik an der Politik zu üben, doch in jenen Jahren entstanden im akademischen Umfeld einige wichtige und prägende Zeitschriften wie beispielsweise «Lesen» (Dushu), «Grenzen» (Tianya) oder «Strategie und Management» (Zhanlüe Yuguanli). Sie setzten sich mit theoretischen wie praktischen Fragen kritisch auseinander und wurden zu Plattformen unterschiedlicher Denkschulen und politischer Strömungen mit erheblichem Einfluss. Darüber hinaus wurden sie zu Theorieforen des Postmodernismus, der Modernisierungstheorie, Semiologie, Weltsystem-Theorie oder auch des Postkolonialismus, ebenso wie sie Räume für kritische politische Diskussionen über den chinesischen Reformweg bereitstellten.

Anfang der 2000er Jahre kamen neue, kommerziell orientierte Magazine und Zeitschriften hinzu, die die Bandbreite nochmals vergrößerten. Das «Südliche Wochenblatt» (Nanfang Zhoumo) beispielweise entwickelte sich zu einer wichtigen liberalen Wochenzeitung und geriet immer wieder in Konflikt mit den Behörden. Sozialstrukturell bildete sich in den Städten langsam eine neue Mittelschicht, mit neuen Fragestellungen, Erwartungen und neuen Diskussions- und Lesebedürfnissen. Im Zuge der Bildungsexplosion hatte sich die Zahl der Studierenden, die sich jedes Jahr an Hochschulen neu einschreiben, von 1990 bis 2020 mehr als verzehnfacht. Die Zahl der Hochschuleinrichtungen hat sich mehr als verdoppelt. Auch wenn es Widersprüche und Probleme gibt, bringt die Expansion neue Möglichkeiten mit sich. Millionen Studierende, die die ersten ihrer Familie waren, die studieren konnten, veränderten die universitären Institutionen.

Über die Rezeption westlicher, vor allem liberaler Denker*innen entwickelte eine junge Generation chinesischer Intellektueller ein zunehmend diversifiziertes Verständnis des Westens und Chinas. Viele wurden zu Befürworter*innen von «Marktfreiheit» und zu Gegner*innen des «alten Systems». Viele junge Lehrer*innen, die neu eingestellt wurden, verfügen über neuen Entwicklungsraum, und viele gut ausgebildete Hochschulabsolvent*innen strömen in neue Medien, öffentliche Wohlfahrtsinstitutionen, ausländische und private Unternehmen. All dies veränderte den diskursiven Resonanzraum radikal.

Zwei Diskursstränge rahmen die Debatten jener Jahre: die Erzählung des systemischen Zusammenbruchs und die Erzählung des westlichen Entwicklungsstandards. Die im Westen kursierenden Prognosen, dass Chinas Wirtschaft und/oder politisches System alsbald kollabieren und wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen werde, waren auch in der chinesischen Debatte allgegenwärtig. Im linken und im nationalistischen Diskurs fanden sich zwar Forderungen, dass man das Land unabhängig von «westlicher Erfahrung» beurteilen und reflektieren müsse. Zugleich wurde aber China als ein Land nachholender Entwicklung gesehen, das nicht nur zum Westen aufschließen, sondern – früher oder später – wie der Westen werden müsse.

Neue Entwicklungen, neue Akteur*innen

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fehlte dieser Debatte jedoch noch die öffentliche Aufmerksamkeit. Das Jahr 2008 stellte dafür eine wichtige Zäsur dar. Zum einen zeigten «dreißig Jahre Reform und Öffnung» offensichtliche Erfolge und schienen die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges zu beweisen. Die erfolgreich durchgeführte Olympiade tat ihr Übriges. Entgegen so mancher Einschätzungen im Westen war die chinesische Führung bei ihren Entscheidungen über den Entwicklungspfad bis dahin alles andere als selbstsicher und selbstbewusst. Die Reform- und Öffnungspolitik war in der Tat eher ein vorsichtiges Tasten nach Steinen beim Überqueren des Flusses.

Zum anderen zeigte die Finanz- und Wirtschaftskrise im Westen die Schwäche des liberal-kapitalistischen Modells auf. Der Westen funktionierte als praktische und normative Vorlage nicht mehr. Diese beiden Ereignisse veränderten nachhaltig die chinesische Sozialmentalität sowohl der Eliten als auch in der Bevölkerung – und entsprechend auch die geführten Auseinandersetzungen. Die Erzählung vom nahenden Zusammenbruch verschwand fast gänzlich aus dem Diskurs, und nach 2008 waren immer mehr Chines*innen davon überzeugt, dass «Chinas Aufstieg» mehr als nur eine abstrakte Erwartung war – es handelte sich um einen sich bestätigenden Trend. Die Debatte verlagerte sich merklich, und je mehr über ein «China-Modell» oder «Chinas Entwicklungspfad» diskutiert wurde, desto stärker verblasste die einheitliche und westlich zentrierte historische Erzählung einer prototypischen Modernisierung.

Während in den Jahren zuvor der offizielle Partei-Diskurs und die öffentliche Debatte nebeneinander existierten und sich oft schlicht ignorierten (solange sie sich nicht frontal angriffen), wurden in den Jahren nach 2008 die Schnittmengen größer. Begriffe und Konzepte des jeweils anderen Diskurses wurden aufgegriffen und beeinflussten sich gegenseitig. Vor diesem Hintergrund sortierten sich zugleich die Diskursakteure neu: Im Partei-Diskurs fanden vermehrt unterschiedliche Positionen Platz; innerhalb der jeweiligen Strömungen multiplizierten nachwachsende Generationen Ansichten und Forderungen. Öffentliche Policy-Debatten wurden weniger ideologisch, sondern zunehmend technokratisch geführt.

Die Liberalen, die lange für eine rasche Privatisierung, Deregulierung und Reformen der Eigentumsrechte und Rechtsstaatlichkeit plädiert hatten, verloren massiv an Einfluss. Die neoliberale Strömung zog sich in den 2010er Jahren zurück und wurde nun allenfalls von «technokratische Beamt*innen» mit «professionellen» oder «realistischen» Forderungen vertreten. Vor allem konnte ihre Erzählung über wirtschaftliche und politische Reformen die junge Generation nicht mehr begeistern. Während deren Eltern noch den Mangel, die Armut und das Chaos der Mao-Jahre erlebt hatten und sich viel von den Marktreformen erhofften, wurde sie in die Marktwirtschaft und Konsumgesellschaft hineingeboren und hatte die negativen Auswirkungen der Reformen direkt erlebt. Während die Elterngeneration also eine mögliche kapitalistische Zukunft verklärte, verklärten die jungen Leute ihrerseits eine sozialistische Vergangenheit, die sie selbst nicht mehr erlebt hatten.

Die neue Linke («neu» in Abgrenzung zu den maoistischen Konservativen) kritisierte die Exzesse der Privatisierung, das rein marktwirtschaftliche Denken und die reduktionistische Wachstumslogik der Reformpolitik. Die linken Wissenschaftler*innen wiesen darauf hin, dass für die rasche Entwicklung der chinesischen Wirtschaft vor allem Wanderarbeitnehmer*innen, Arbeitnehmer*innen staatlicher Unternehmen und Landwirt*innen einen sehr hohen Preis zahlten. Die «Reformdividende» der ersten dreißig Jahre müsse nun an die «Massen» ausgezahlt werden. Eine schlichte Rückkehr zu der Vor-Reformzeit war nicht möglich, sodass die neue Linke forderte, dass sich ein sozialistisches Modell vor dem Hintergrund der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts neu erfinden müsse.

Die traditionellen «Wiederbelebungstheoretiker*innen» räumten schließlich ein, dass zwar die marktorientierten Reformen die Wirtschaft mit hoher Geschwindigkeit entwickelt hätten, diese Entwicklung aber sozial-kulturell destruktiv und nicht nachhaltig sei. Ein besonderer Vorteil Chinas bestehe aber darin, dass es sich auf den Konfuzianismus und andere traditionelle ideologische Ressourcen stützen könne. So könne die Geschwindigkeit des Kapitalismus durch «kulturelle Bremsen» verringert werden.

Eine wachsende Diskurslandschaft

In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts war das chinesische Diskursfeld noch stabil unterteilt: Hier der offizielle Politik- und Parteidiskurs, dort der akademisch-kulturelle mit seinen Plattformen unterschiedlicher politischer Strömungen. Mit dem rasanten Anwachsen des Internets wurde das Diskursfeld in den 2010er Jahren jedoch komplexer und unübersichtlicher. Die Regierung verfügte über keine Erfahrungen, wie sie mit der «öffentlichen Meinung im Internet» umgehen sollte, aber auch akademische Zirkel samt ihren angestammten Publikationen hatten angesichts der direkten und ungefilterten Kommunikation Schwierigkeiten, ihre Rolle zu finden. Sie verloren ihre exklusive – auch elitäre – Mittlerfunktion zwischen Regierung und Öffentlichkeit.

Im Internet wurden nun offensichtliche soziale Widersprüche, nicht gezahlte Löhne, Umweltskandale oder Korruption direkt artikuliert. Das Internet führte zu einem massiven Zustrom neuer Diskursteilnehmer*innen.

Erstens beteiligte sich eine neue, nämlich die zweite Generation von Wanderarbeiter*innen. Diese wollte im Gegensatz zu ihren Eltern nicht aufs Land zurückkehren, sondern sich in den Städten niederlassen, stand aber vor dem Dilemma «hoher Immobilienpreise» und «niedrigem Einkommen». Diese zweite Generation hatte meist weiterführende Schulen besucht, wusste das Internet zu nutzen und verfügte über eine ganze Bandbreite von Ausdrucksmitteln. Gerade vor dem Hintergrund der Diskussion um neue Arbeitnehmerrechte (die 2014 gesetzlich implementiert wurden) hatte es diese Wanderarbeiter*innen-Generation durchaus vermocht, im Internet Identität und Gemeinschaft und damit letztlich Diskursmacht zu bilden. Unter anderem war ihr dies über einige selbstironische, satirische und kritische Kommunikationskonzepte – wie beispielweise »Menschen, die Ziegel tragen«, «Verlierer», «die zweite Generation der Armen» usw. – gelungen.

Zweitens kam es aufgrund der raschen Verstädterung, zunehmender sozialer Ungleichheit, rigoroser Stadtplanung und Umweltschutzproblemen immer wieder zu Protestbewegungen und Konflikten zwischen landlosen Bäuerinnen und Bauern und der neuen Bürger*innenklasse, die auch im Internet ausgefochten wurden.

Drittens kam es aufgrund der zunehmenden sozialen Mobilität und dem rasanten Anwachsen der städtischen Mittelschicht, neuer Beschäftigungsformen und neuer Lebensstile zu einem verstärkten Austausch globaler Ideen, der neue Themen wie Feminismus oder die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und damit verbundene soziale Protestpraktiken in die chinesische Debatte einführte. Das Internet schuf die notwendige Voraussetzung für die diversifizierte Konzept- und Gruppenidentifikation.

Im Jahr 2011 wurde das 3G-Mobilfunknetz zuerst in den Städten und bald auch in ländlichen Gebieten ausgebaut. Zugleich förderten relativ preiswerte inländische Smartphones deren Popularisierung und China trat ein in das «Zeitalter des mobilen Internets». Smartphones ersetzten nicht nur Computer und wurden zum Werkzeug zur Informationserfassung, sondern integrierten auch eine Reihe intelligenter Anwendungssoftware und -systeme, wurden Teil des Lebensstils der Menschen und formten sogar deren Gewohnheiten.

Über die Expansion und Entwicklung neuer Medien seit 2011 beschleunigte sich der Einfluss der «öffentlichen Meinung im Internet» in der chinesischen Gesellschaft, während die relative Bedeutung traditioneller Medien weiter abnahm. Vor allem die Popularität von Mikroblogs veränderte den Stil der öffentlichen Debatte. Dieser neue Kommunikationsmodus schuf einen völlig neuen Typus von Meinungsführer*innen und öffentlichen Intellektuellen, wie beispielweise Yao Chen, Han Han oder Mao Yushi. Da Textinformationen im Mikroblog einer Begrenzung auf 140 chinesischen Schriftzeichen unterliegen, sind die Inhalte meist persönlich und emotional. In der Phase, in der die chinesische Gesellschaft immer komplexer und differenzierter wurde, brach sich die Unzufriedenheit in Mikroblogs auf allen Ebenen Bahn.

Die App WeChat begann 2015, Mikroblogs zu ersetzen, und wurde zur einflussreichsten Social-Media-Plattform. Über WeChat wurde die mittlere Altersgruppe – vor allem die Wanderarbeiter*innen und die Bauern, die alle in der frühen Phase der Entwicklung des mobilen Internets noch zurückgeblieben waren – in das Zeitalter des mobilen Internets geholt. Die öffentliche Meinung im Internet, die ursprünglich von der städtischen Mittelschicht dominiert war, wurde vielfältiger.

Und es gab Unterschiede und sogar Konflikte zwischen den Themen und Forderungen der jeweiligen Gruppen. Doch im Gegensatz zu der Frühphase des Internets verstand es die Staatsführung nun besser, die digitale Debatte in ihrem Sinne einzubetten und zu kontrollieren. Auf der Nationalen Konferenz zu Propaganda und ideologischer Arbeit 2013 forderte die neue Staats- und Parteiführung, «die Arbeit der öffentlichen Meinung im Internet als oberste Priorität der Propaganda und der ideologischen Arbeit zu betrachten». Dies geschah einerseits durch eine zunehmende Regulierung und massive Überwachung, andererseits indem Partei und Staat ihrerseits die sozialen Medien geschickt für ihre Zwecke nutzten.

Die Vernetzung der offiziellen Mainstream-Medien wurde massiv gefördert. Traditionelle Mainstream-Medien wie die «Volkszeitung» (Renmin Ribao) und die Xinhua-Nachrichtenagentur waren auf den neuen Medienplattformen stets präsent. Darüber hinaus hat die Zentralregierung Mechanismen zur Rechenschaftspflicht lokaler Parteien- und Regierungsorganisationen auf allen Ebenen sowie die Einrichtung von «Büros zur Verwaltung der öffentlichen Meinung im Internet» eingeführt. Damit sollte offensichtlich verhindert werden, dass Konfliktthemen tagelang unkontrolliert im Internet ausgetragen werden und schließlich hochkochen.

Rückfall und Rezession

Im Vergleich zu den frühen 2000er Jahren ist die öffentliche Debatte der letzten Jahre weit weniger anregend, kontrovers, inspirierend oder gar visionär. Diese Entwicklung ist sicherlich auf verstärkte Überwachung und Zensur, Druck auf Akteur*innen und Organisationen und eine entsprechende Selbstzensur zurückzuführen. Aber auch andere Faktoren spielen eine wichtige Rolle.

Angesichts neuer Medien gelang es vor allem den traditionellen Zeitungen und Zeitschriften nicht, ihre Leserschaft und ihre Abonnent*innen zu halten oder neue Leser*innen zu gewinnen. Dies führte zu einer massiven Reduzierung der Abonnement-, Werbe- und Vertriebserlöse, was diese Medien in ihrer Existenz bedrohte. Um dieser Herausforderung zu begegnen, versuchten traditionelle Printmedien, sich digital neu zu erfinden, eigene Smartphone-Anwendungen zu entwickeln und in mobile Internetplattformen wie Micro-Blog oder WeChat einzusteigen. Doch in diesen technischen Formaten können sie ihre ursprüngliche komplexe Diskursfunktion nicht mehr erfüllen.

Die politische Kontroverse und der ideologische Suchprozess in den 2000er Jahren profitierte auch von der enormen Expansion des Universitätssystems. Eine Vielzahl von neuen Instituten und Fakultäten wurde gegründet und viele neue Universitätsstellen geschaffen, die die Nachfrage nach neuen Themen und Ideen massiv steigerte. 2011 war der Höhepunkt dieser Expansion erreicht, es kam zu einer strukturellen Saturierung, die für die nachfolgende Generation junger Wissenschaftler*innen einen harten Wettbewerb um die verbleibenden Stellen und enormen Druck auf Lehre und wissenschaftliche Forschung bedeutete. Externe Forschungsstipendien und -preise und absurder Veröffentlichungszwang führten zu Disziplinspezialisierung, quantitativer Empirisierung und Mathematisierung auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Das ließ für normative Theorien oder grundsätzliche Problemreflexion schlicht keinen Raum und keine Zeit mehr.

Die chinesische Kulturindustrie ist in den letzten zwanzig Jahren enorm gewachsen und wird zunehmend Stichwortgeber für die nationale Themensetzung. So ist etwa zu beobachten, dass das chinesische Publikum immer weniger Interesse an Produkten der amerikanischen Kulturindustrie hat. Und schließlich ist die Gesellschaft heterogen geworden: Die Lebensstile und vor allem die Interessen von Jung und Alt, Hoch- und Niedrigbezahlten, privatwirtschaftlich und öffentlich Beschäftigten haben sich ausdifferenziert.

Doch die Positionen sind nicht so klar und kohärent, wie es zuvor bei den unterschiedlichen Intellektuellendiskursen und Strömungsplattformen der Fall war. Die Vertreter*innen haben unterschiedliche Orientierungen zu verschiedenen Themen, zeigen manchmal ausgeprägte realistische und utilitaristische Handlungsorientierungen und konzentrieren sich eher auf konkrete Themen wie Bildungsgleichheit, Lebensmittelsicherheit, Sozialordnung, Finanzmarkt, Umweltschutz usw.

Die Debatte geht weiter

Diese öffentlichen Debatten und Auseinandersetzungen sind überwölbt von und zugleich eingebettet in den offiziellen Politik-Diskurs der KPCh und die chinesische politische Kommunikation, also den Prozess, in dem die politische Führung, die Medien und die Bevölkerung politische Informationen sowie Mitteilungen austauschen und interpretieren, die einen Bezug zum politischen Prozess und zur Regierungsgewalt aufweisen. Die politische Kommunikation eines Landes ist immer von den institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen des Regierungssystems, der politischen Kultur und der Geschichte geprägt.

Diese erzeugt ihrerseits Normalitätsvorstellungen, politische Sinn- und Deutungsangebote und eine gewisse innere argumentative Kohärenz. Die Interessen, Orientierungen und Interaktionsmuster der politischen Akteure und deren jeweilige Zugänge zu Kommunikationsressourcen und -prozessen prägen auch in China ein länderspezifisches Erscheinungsbild politischer Kommunikation. Sie bestimmen die Interaktion von Medien und Politik und formen die politische Sprache. Diese wiederum wirkt im Vergleich zu der westlichen überaus formalisiert, nahezu starr und wenig ansprechend. Sie sind durch feststehende und unveränderliche Politik-Begriffe und Formeln, lange Aufzählungen, Chiffren und Slogans charakterisiert. Wenn für westliche politische Kommunikation prototypisch flammende Wahlkampfreden und hitzige Fernsehdebatten stehen, dann ist Chinas politische Kommunikation durch lange Reden, Rechenschaftsberichte und Verlautbarungen gekennzeichnet, die im Westen meist als leere Propagandaformeln wahrgenommen werden.

Doch wenn man die Formeln ernst nimmt, dann ist Chinas politische Kommunikation durchaus dynamisch und innerhalb ihrer Rahmenbedingungen überaus rational. Sie ist in ihren Begrifflichkeiten, ihrer Politiklegitimierung und den Gestaltungsdebatten sehr oft intellektuell anregend gestaltet. (Gleichwohl sind natürlich auch in China, wie im Westen, reichlich politische «Sonntagsreden» mit inhaltsleeren Floskeln zu finden.) Die politische Kommunikationsstruktur Chinas ist von mehreren Achsen durchzogen, die die Kommunikation und das Verhalten der Akteur*innen determinieren. Zugleich stellt sie häufig – was politikwissenschaftlichem Allgemeinwissen offensichtlich widerspricht – einen gesellschaftlichen Rahmen bereit und treibt den Gesamtdiskurs dynamisch voran. Für die hier vorgenommene Betrachtung seien zwei dieser Achsen erwähnt.

Erstens beinhaltet der offizielle Parteidiskurs der KPCh sehr lange Zeiträume, Gestaltungsvisionen und Entwicklungsstufen, die weit in die Zukunft hineinreichen. In diesem Diskurs sind die unmittelbaren Politikprobleme des Hier und Heute immer auch mit den zu erreichenden Zielen in der Zukunft verknüpft. Während in westlichen Politikdebatten «Zukunft» als politische Kategorie meist auf kurze Zeiträume reduziert bleibt und Zielhorizonte als Lösung gegenwärtiger Probleme fungieren, bezieht sich die chinesische Auseinandersetzung stets auf einen Entwicklungszeitraum von hundert Jahren.

Dieser Diskurs ist bestimmt durch lange Zeitvorgaben («Zwei-Stufen-Strategie», «Fünf in Eins»-Modernisierung, «moderat wohlhabende Gesellschaft» bis 2020, «gemeinsamer Wohlstand» bis 2030, «modernes sozialistisches Land» bis 2049 usw.) und quantitative Entwicklungsstufen (hinsichtlich Industrialisierungs-, Armuts- oder Urbanisierungsquote, Einkommensentwicklung usw.). Diese wiederum bestehen aus kürzeren Planungsintervallen, Programmen und Kampagnen (Fünfjahrespläne, «Made in China 2025», «Belt and Road Initiative» usw.).

Zweitens finden sich im chinesischen System spezifische kommunikative Verständigungs- und Aushandlungsprozesse. In den auf Langfristigkeit ausgerichteten Diskurs werden immer neue, kurzfristige Begriffe und Slogans eingeführt: «harmonische Gesellschaft», «China-Traum» oder «friedliche Entwicklung»; anfänglich ziemlich abstrakt und beinahe inhaltsleer. Wenn solche politischen Begriffe eingeführt werden, beabsichtigt die chinesische Regierung für gewöhnlich, so wenig konkrete Informationen wie möglich über die tatsächliche Bedeutung der Slogans und Bezeichnungen zu liefern. Diese Vagheit schafft jedoch häufig Raum für lebhafte Debatten in der Wissenschaft, in den Medien oder auch in der Öffentlichkeit.

Die meisten Konzepte bieten zunächst nur Ausgangspunkte und Zielvisionen: Es sind noch keine umfassenden und durchdachten politischen Programme. Tatsächlich hängt es von Expert*innen und politischen Entscheidungsträger*innen ab, die konkreten Ideen für die Umsetzung zu entwickeln und den Inhalt weiter zu konkretisieren. Insofern werden Thinktanks, Forschungsinstitute und verschiedene Regierungszweige auf allen Ebenen sowie Provinzregierungen ermutigt, internationale Workshops und Konferenzen überall im Land abzuhalten. Das Ziel ist, die Debatte anzuregen und zu verfeinern. Die langen Zeithorizonte und entsprechenden Begriffe des Parteidiskurses sowie die spezifischen kommunikativen Rückkopplungen prägen auch die zivilgesellschaftlichen Diskussionen.

Diese verlaufen ebenfalls auf spezifisch chinesische Art und Weise. Begriffe und Formeln, Ziele und Fragestellung der KPCh werden darin aufgenommen, verworfen oder weitergesponnen. Obwohl es in China keine Öffentlichkeit im habermaschen Sinne geben mag, entstand durch die letzten Jahrzehnte der Reform und Öffnung eine spezifische, chinesische Zivilgesellschaft (gongmin shehui) die in dem von der Partei abgesteckten am öffentlichen Diskurs teilnimmt und ein Stück weit mitprägt.

Es ist wenig sinnvoll, dabei Zivilgesellschaft und Partei und Staat antagonistisch gegenüberzustellen. Die Zivilgesellschaft ist in Parteistrukturen anzutreffen, und die KPCh wiederum ist in vielen zivilgesellschaftlichen Bereichen präsent. Auch ist es nicht hilfreich, den zivilgesellschaftlichen Diskurs vom offiziellen KPCh-Diskurs zu trennen. Letzterer dient den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen durchaus als ideologisch-begrifflicher und politischer, gleichwohl höchst kontrollierter Referenzraum. Der offiziell staatliche und der zivilgesellschaftliche Diskurs sind nicht dasselbe, aber sie sind auch nicht völlig gegensätzlich. Ihre größte Ähnlichkeit besteht darin, dass sie unabgeschlossen und von ständigen Veränderungen und Brüchen bestimmt sind.

Die chinesische Regierung behauptet, sie sei auf dem besten Weg, bis 2049 eine vollständig sozialistische Gesellschaft zu werden. Was das bedeutet, müsse noch konfiguriert werden. Es sei noch «zu früh, zu beantworten», wie diese sozialistische Gesellschaft und eine sozialistische Ökonomie tatsächlich aussehen werden, um Zhou Enlai zu paraphrasieren, der in den 1970er Jahren auf die Frage nach der historischen Bedeutung der Französischen Revolution für die Entwicklung Chinas antwortete, es sei noch zu früh, dies zu beurteilen. Bis dahin wird die öffentliche Debatte über den chinesischen Weg zum Sozialismus weitergehen – und zwar nirgendwo so sehr wie in China selbst.