Nachricht | Arbeit / Gewerkschaften - Golfstaaten - WM Katar 2022 Katar: Vom Regen in die Traufe

Die strukturelle Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen beginnt bereits in ihren Heimatländern

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Ausländische Arbeitskräfte in Katar
Ausländische Arbeitskräfte werden oft mit falschen Versprechungen nach Katar gelockt (Arbeitsmigranten auf einer Baustelle in Doha). CC BY 4.0, Mobashto via Wikimedia

Es ist ein beschwerlicher und leidgeplagter Weg aus dem Chaos in das vermeintliche Glück: Jedes Jahr wandern hunderttausende Arbeitsmigrant*innen aus krisengeschüttelten Ländern wie Pakistan, Nepal oder Bangladesch in die wohlhabenden Golfmonarchien wie Katar aus, um der Armut in ihrer Heimat zu entfliehen. Von den 2,8 Mio. Einwohner*innen Katars verfügen etwa 2,2 Millionen nicht über die katarische Staatsangehörigkeit. Somit beträgt der Anteil an Migrant*innen 78,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die meisten Arbeitsmigrant*innen stammten 2018 aus Indien (etwa 660.000), Nepal (341.000), den Philippinen (185.000), Ägypten (166.000), Bangladesch (163.000) und Pakistan (135.000). In den letzten Jahren hat sich durch die Anwerbung solcher Arbeitskräfte das Bevölkerungswachstum Katars deutlich erhöht: Zwischen 1996 und 2019 wuchs die Bevölkerung um 18 Prozent. In Katar angekommen, wird ihre Hoffnung auf ein besseres Leben jedoch oftmals zu einem Albtraum: Dort leiden die Arbeitsmigrant*innen unter zu langen Arbeitszeiten, unhygienischen und beengten Unterbringungen, rechtlicher Unsicherheit und hoher Abhängigkeit von ihren Arbeitgeber*innen, die im sogenannten Kafala-System (Bürgschaftssystem) über die vollständige Verfügungsgewalt über die Migrant*innen verfügen und ihnen zum Beispiel die Reisepässe abnehmen können. Es kam zu kontrovers diskutierten Todesfällen auf den WM-Baustellen und grassierenden Lohnausfällen, die während der Corona-Pandemie noch zugenommen haben. Vor allem weibliche Hausangestellte werden immer wieder Opfer von willkürlicher Gewalt und genossen lange Zeit keinen ausreichenden rechtlichen Schutz. Weiterhin werden ausländische Arbeitskräfte in der katarischen Gesellschaft als Außenseiter, Bedrohung der kulturellen Einheit oder Symbol der Überfremdung stigmatisiert und zum Beispiel während der Pandemie als Überträger*innen des Virus diffamiert. In den letzten Jahren wurden diese Missstände zum wesentlichen Thema der internationalen Kritik an der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft nach Katar.

Sebastian Sons arbeitet als Researcher beim Center for Applied Research in Partnership with the Orient (CARPO). Sons ist Islamwissenschaftler und promovierte zur pakistanischen Arbeitsmigration nach Saudi-Arabien. 2016 erschien sein politisches Sachbuch «Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien – Ein Problematischer Verbündeter». Im September veröffentlicht er das Buch «Menschenrechte sind nicht käuflich. Wie die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss». Er bereist seit über zehn Jahren zu Forschungszwecken die arabischen Golfstaaten und beschäftigt sich insbesondere mit deren Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Sportpolitik sowie Migration in die Golfmonarchien.

Als Reaktion auf den internationalen Druck hat die katarische Regierung seit 2017 zwar einige rechtliche Veränderungen eingeführt, um die Situation der Arbeitsmigrant*innen zu verbessern. Dazu gehören unter anderem umfangreichere Beschwerdemechanismen und Kontrollinspektionen auf den WM-Baustellen, ein Mindestlohn sowie strengere Regeln in Bezug auf den Hitzeschutz und die Arbeitszeiten. Der International Labour Organization (ILO) wurde außerdem gestattet, 2018 ein Büro in Doha zu eröffnen – ein Novum in den arabischen Golfstaaten. Dennoch kritisieren viele Menschenrechtsorganisationen die unzureichende Umsetzung und den fehlenden politischen Willen der katarischen Regierung. Noch immer profitieren zu viele Akteur*innen von den im Kafala-System angelegten Ungleichgewichten. So erwerben katarische Staatsangehörige das Recht, mehr Arbeitsmigrant*innen als für den eigenen Bedarf benötigt rekrutieren zu dürfen. Diese zusätzlichen Arbeitskräfte transferieren sie an andere Arbeitgeber*innen gegen eine lukrative Vermittlungsgebühr.

Außerdem beginnt die Misere der Arbeitsmigrant*innen bereits vor ihrer Ausreise, was oftmals in der Debatte um die WM vernachlässigt wird: Zu Hause leiden sie zumeist unter Armut und Arbeitslosigkeit, können ihre Familien nicht ernähren und haben keine berufliche Perspektive. Daher sehen sie in der Auswanderung nach Katar, Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ihre einzige Chance, der Hoffnungslosigkeit zu entfliehen. Zwar ist vielen von ihnen bereits vor ihrer Abreise bewusst, welche Hürden und Schwierigkeiten sie in der neuen Heimat erwarten, doch das Ausmaß der Ausbeutung bleibt den meisten verborgen. So geraten viele von ihnen in die Fänge von kriminellen Rekrutierungsagenturen, denen sie hohe Gebühren zahlen müssen, um überhaupt eine Chance zu erhalten, in Katar einen Arbeitsplatz zu finden. Rekrutierungsagenten vermitteln den Arbeitsmigrant*innen ihre zukünftigen Chefs in Katar. Noch in ihrer Heimat unterschreiben sie bei windigen Vermittlern Verträge, in denen falsche Angaben zu Löhnen oder Urlaubszeiten gemacht werden. Da viele Migrant*innen nicht oder kaum lesen und schreiben können, werden die Löhne nicht wie versprochen in US-Dollar, sondern in ihren Heimatwährungen angegeben, sodass sie nach Ankunft nur einen Bruchteil ihres zugesagten Lohnes erhalten. Außerdem verschulden sie sich massiv: Die Rekrutierungsgebühren betragen im Fall von Katar 700 bis 2.600 EUR und können bei anderen Golfstaaten – wie z. B. Saudi-Arabien – auf bis zu 5.200 USD steigen – exorbitante Summen für die armen Migrant*innen. Mehr als zwei Drittel müssen sich daher bei Verwandten oder Bekannten verschulden, ein Drittel veräußert das wenige Eigentum oder nimmt Kredite mit hohen Zinsen bei lokalen Geldleihern auf. Neben der Abhängigkeit von den Rekrutierungsagenturen und ihren Bürg*innen stehen sie also auch bei ihren Angehörigen in der Pflicht: Viele schämen sich für ihre Situation und wollen ihre daheimgebliebenen Verwandten weder in Sorge versetzen noch sie enttäuschen und vermitteln darum oftmals ein geschöntes Bild ihrer Lebensumstände in Katar. Weiterhin werden viele zukünftige Migrant*innen von Bekannten ausgenutzt, indem diese behaupten, ihnen den Weg nach Katar ebnen zu können und ihnen horrende Summen abknüpfen, ohne ihre Versprechungen einzuhalten. Mit «Go now, pay later» hat sich eine Praxis etabliert, in der die Agentur die Kosten für die zu vermittelnden Migrant*innen im Vorfeld übernimmt, diese aber von den ersten Gehältern abzieht, was zwar die Auswanderung erleichtert, die Verschuldung allerdings erhöht. Die Misere der Arbeitsmigrant*innen beginnt also schon vor ihrer Ankunft in Katar. Dort angekommen, müssen sie in der Regel in den ersten zwei bis drei Jahren bis zu einem Drittel ihres geringen Lohns zur Schuldentilgung aufbringen, was zu einer enormen finanziellen und mentalen Belastung führt. Dies hindert die Migrant*innen daran, sich über Missstände zu beschweren, da sie die Ausweisung fürchten – ein Teufelskreis, den auch die bisherigen Reformen nicht durchbrochen haben.

Hinzu kommt, dass die wenigsten Heimatregierungen der Ausbeutung ihrer Landsleute entgegentreten. Sie fürchten, Probleme mit wichtigen Aufnahmeländern wie Katar zu bekommen, was in einer Ausweisungswelle von Migrant*innen enden könnte. Als Folge verlören die Heimatstaaten überlebenswichtige Rücküberweisungen: Insgesamt betrug das Volumen der Rücküberweisungen aus den VAE im Jahr 2020 43,2 Milliarden USD, aus Saudi-Arabien 34,6 Milliarden USD und aus Kuwait und aus Katar je 10,7 Milliarden USD. Jede*r Zehnte aller Migrant*innen weltweit arbeitet in den Golfstaaten, sodass der Migrationskorridor zwischen den Entsenderegionen in Asien und Afrika in die Golfregion zu den wichtigsten der Welt gehört. Der Anteil der Rücküberweisungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt in Nepal 27,2 Prozent, in den Philippinen 9,9 Prozent, in Pakistan 7 Prozent und in Bangladesch 5,4 Prozent. So werden im Fall von Bangladesch 85 Prozent der täglichen Ausgaben aus Rücküberweisungen bestritten. 60 Prozent aller Familien sind vollständig von den Geldtransfers aus dem Ausland angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Dies zeigt, wie existenziell die Rücküberweisungen für die Regierungen der Entsendeländer geworden sind, die mit ihnen den finanziellen und wirtschaftlichen Kollaps vermeiden wollen. Und dies zeigt auch, dass die Reformen innerhalb Katars nur die Spitze des Eisbergs darstellen, um das globale Migrationssystem der modernen Sklaverei zu durchbrechen.

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