Nachricht | Geschichte Howard Zinn (1922-2010): The People’s Historian

Zum Leben und Werk einer der einflussreichsten Stimmen des (amerikanischen) Sozialismus

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Autor

Peter Cole,

Howard Zinn im Pathfinder Book Store, Los Angeles, August 2000. CC BY-SA 4.0, Slobodandimitrov, via Wikimedia Commons

Nur wenige US-amerikanische Historiker waren so einflussreich wie Howard Zinn, der am 24. August vor 100 Jahren geboren wurde. Während allerdings Millionen von progressiven und sogar liberalen Amerikaner*innen seine Arbeit kennen und bewundern, wurde und wird er von der Wissenschaft weitgehend ignoriert. Zweifellos wäre Zinn selbst begeistert, dass seine Bücher immer noch als wertvoll für das Verständnis der amerikanischen Vergangenheit gehandelt werden, und er würde über die so genannten «echten» Historiker*innen lachen, die ihn nicht beachten - schließlich werden ihre Bücher im Vergleich nur von einem winzigen Bruchteil der Bevölkerung wahrgenommen.

Als produktiver Schriftsteller ist Zinn vor allem mit seinem meisterhaften Werk A People's History of the United States: 1492-Present bekannt geworden. Das 1980 erstmals veröffentlichte Buch wurde mehr als eine Million Mal verkauft. Bis heute wird es verlegt. 1997 hatte A People's History durch den Film Good Will Hunting Einzug in die US-amerikanische Populärkultur gefunden, als der Schauspieler Matt Damon Zinns Buch einem Aufschneider zur Lektüre empfahl. Es inspirierte zahlreiche weiterführende Projekte, darunter Voices of a People's History of the United States (2004), A Young People's History of the United States (2007) und A People's History of American Empire: A Graphic Adaptation (2008) von Mike Konopacki und Paul Buhle.

Indem er das Leben der einfachen Leute in das Zentrum seiner Geschichte der Vereinigten Staaten stellte, praktizierte Zinn das, was heute als «Geschichte von unten» firmiert. Bereits in den 1960er Jahren hatte er zu einer Gruppe von Historikern gehört, die die in der Zeit des Kalten Krieges vorherrschende Consensus Schoolund ihre Vorstellung über die Amerikaner als eines einzigen, geeinten Volkes in Frage stellten mit ihrer Behauptung, dass die US-amerikanische Gesellschaft seit ihren Anfängen tief durch Klassen-, Geschlechter-, Rassen- und andere Konflikte gespalten sei. Doch Zinn war kein «Kind» der 1960er-Jahre, sondern entstammte der so genannten «Greatest Generation» von Amerikanern, die noch die Great Depression und den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten. Zinn war seiner Zeit immer voraus. Und das ist er auch heute noch.

Eine Karriere im Kampf

Howard Zinn wurde am 24. August 1922 in Brooklyn, New York, als Sohn jüdischer Einwanderer geboren. Seine Eltern hatten sich bei der Arbeit in einer Fabrik kennengelernt. In den 1930er-Jahren luden kommunistische Freunde ihn zu einer politischen Kundgebung ein, wo er Zeuge von Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten wurde – eine Erfahrung, die den Teenager zutiefst prägte.

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Europa beendete Zinn die High School. 1940 begann er zunächst, auf einer Werft zu arbeiten, wo er sich gewerkschaftlich organisierte. Schließlich schloss er sich als überzeugter Antifaschist der US Air Force an. Seine Einheit war an zahlreichen Bombenangriffen in Europa beteiligt, darunter gegen Ende des Krieges auch am Einsatz von Napalm in Frankreich, wie er später in The Politics of History (1970) berichtete. Bis zuletzt sollte Zinn die Legitimität von Kriegen hinterfragen und ihn die komplizierte Ethik des Soldatendaseins beschäftigen.

Wie acht Millionen weitere Militärveteranen profitierte auch Zinn von der G.I. Bill  mit der er sein 1951 abgeschlossenes Grundstudium an der New York University finanzierte. An der Columbia University erwarb er einen Master und wurde in Geschichte promoviert.

Zinn unterrichtete am Spelman College, einer prominenten, ausschließlich von Frauen besuchten – und ursprünglich nur für Schwarze vorgesehenen Einrichtung in Atlanta, Georgia. Von 1956 bis 1963 leitete er dort die Fakultät für Geschichte und Politikwissenschaft. Er engagierte sich aktiv gegen die Rassentrennung. Für viele im 1960 gegründeten, kleinen, aber einflußreichen Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) war er Mentor. Zu den von Zinn Inspirierten gehörten Alice Walker, die legendäre Autorin von Die Farbe Lila, und Marian Wright Edelman, die Gründerin des Children's Defense Fund. 1963 wurde Zinn entlassen; offiziell wegen ungehorsamen Verhaltens, tatsächlich jedoch angesichts der Radikalisierung seiner Studenten. Später schrieb er, mehr von ihnen gelernt zu haben, als sie von ihm.

Zinn war einer der prominentesten und frühesten Gegner des US-Krieges in Vietnam. Sein Buch Vietnam: The Logic of Withdrawal verfasste er 1967 zu einer Zeit, als die meisten Amerikaner trotz wachsender Opposition den Krieg noch immer unterstützten und seine Gegner als «Verräter» denunzierten. 1968 reiste er mit mehreren radikalen katholischen Priestern nach Nordvietnam und erreichte die Freilassung von drei amerikanischen Kriegsgefangenen.

Zinn arbeitete zusammen mit Noam Chomsky an der Herausgabe der Pentagon Papers (1971). Daniel Ellsberg, ein Regierungsberater, der zum «Whistleblower» wurde, hatte eine große Anzahl geheimer Regierungsdokumente über die Geschichte des US-Engagements in Südostasien kopiert und an die New York Times weitergegeben. Das Ergebnis waren die Pentagon Papers, und Zinns und Chomskys Version wurde weithin gelesen.

Von 1964 bis 1988 arbeitete Zinn im Fachbereich Politikwissenschaften an der Universität Boston. Wie vorauszusehen war, hatte er eine wechselvolle Karriere, nicht zuletzt, weil er auf seinem eigenen Campus für Gewerkschaften warb und ständig Autoritäten in Frage stellte.

Zinns bleibendes Vermächtnis

Obwohl Zinn mehr als 30 Bücher geschrieben hat, war A People's History of the United States sein einflussreichstes Werk. Als Neuinterpretation der US-Geschichte konzentrierte sich das Buch bewusst auf die Stimmen und das Leben der vielen Völker, die traditionell im Unterricht zu diesem Thema ignoriert wurden. Er erkannte an, dass die Rechte der Arbeiterklasse, der Frauen, der Indigenen, der Afroamerikaner*innen und anderer unterdrückter Gruppen historisch gesehen systematisch verweigert worden waren, und nur durch kollektive Kämpfe verwirklicht werden konnten.

Er begann sein Buch mit der Darstellung des Völkermords an den Ureinwohner*innen in einem Kapitel mit dem Titel «Columbus, die Indianer und der menschliche Fortschritt». Zinn stellte fest, dass Kolumbus und andere Europäer aufgrund des «Glaubens der Eingeborenen an das Teilen» mit «Gastfreundschaft» behandelt wurden, ihnen aber mit Habgier, Arroganz und Vorurteilen begegnet wurde. Das Ergebnis war der Völkermord an den Arawak, Kariben, Taino und Hunderten anderen indigenen Völkern in ganz Amerika.

Zinn kritisiert auch die Außenbeziehungen der USA in dem Kapitel «Das Imperium und das Volk», in dem es um den blutigen, fünfjährigen Krieg geht, den das US-Militär führte, um den Philippinen die Unabhängigkeit zu verweigern (1898-1902). Dieser wohl am wenigsten bekannte Krieg in der Geschichte der USA forderte etwa 5 000 amerikanische und mehr als 100 000 philippinische Tote. In «The Impossible Victory» (Der unmögliche Sieg) hat er die Rechtfertigungen für den US-Krieg in Vietnam entkräftet: Das Massaker von Mỹ Lai, das Flächenbombardement Vietnams und Kambodschas und andere Gräueltaten werden genannt.

In zahllosen Kapiteln stellt er den Kapitalismus vor Gericht, angefangen bei der Goldgier der spanischen Kolonisatoren, der Plünderung von Land und Ressourcen durch europäische Kolonisten und der Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung. Nie gab er seine Ansicht auf, dass der «demokratische Sozialismus» notwendig und gut sei.

Zinn heiratete Roslyn Shechter im Jahr 1944. Sie blieben bis zu ihrem Tod im Jahr 2008 zusammen. Sie hatten eine Tochter, Myla, und einen Sohn, Jeff. Howard Zinn verstarb am 27. Januar 2010 im Alter von 87 Jahren.

Im Jahr 2008 wurde das Zinn Education Project (ZEP) ins Leben gerufen. Auf seiner Website heißt es: «Das Zinn Education Project fördert und unterstützt die Vermittlung der Geschichte des Volkes in den Klassenzimmern des ganzen Landes, unter anderem durch die Bereitstellung von Unterrichtsplänen für Lehrer. Das ZEP steht an vorderster Front im Kampf gegen diejenigen, die die hässlichen Wahrheiten der amerikanischen Vergangenheit leugnen wollen».

Heute gibt es unzählige Bestrebungen, den Unterricht über historische Fakten an US-Schulen zu verbieten, weil sie einigen Amerikaner*innen Unbehagen bereiten. Glücklicherweise gibt uns Howard Zinns lebenslange aktivistische Wissenschaft die Mittel an die Hand, um auf solche Leugnungen und Verzerrungen zu reagieren und für eine gerechtere Welt zu kämpfen. Alles Gute zum Geburtstag, Dr. Zinn, und presente!

Auswahl von Literatur von Howard Zinn auf Deutsch:

  • Eine Geschichte des amerikanischen Volkes, neun Bände, Berlin 2006
  • Schweigen heißt Lügen: Autobiografie, Hamburg 2010
  • Eine Geschichte des amerikanischen Volkes, Hamburg 2013 (der neugegründete März Verlag hat eine Übersetzung angekündigt)


Peter Cole ist Professor für Geschichte an der Western Illinois University und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gesellschaft, Arbeit und Entwicklung an der University of the Witwatersrand, Südafrika. Er ist der Autor von Dockworker Power: Race and Activism in Durban and the San Francisco Bay Area (2018), ausgezeichnet mit dem Philip Taft Labor History Book Prize, und von Wobblies on the Waterfront: Interracial Unionism in Progressive-Era Philadelphia (2007). Er ist Mitherausgeber von Wobblies of the World: A Global History of the IWW (2017) und gab Ben Fletcher: The Life & Times of a Black Wobbly (2007; 2. Auflage, 2021) heraus. Er ist der Gründer und Co-Direktor des Chicago Race Riot of 1919 Commemoration Project.