Nachricht | Cono Sur - Andenregion Rechte schüren Zweifel

In Chile läuft der Wahlkampf um eine neue Verfassung

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Endspurt im Wahlkampf für die neue Verfassung.
Endspurt im Wahlkampf. «Apruebazo», Großveranstaltung für die Annahme des Verfassungstextes,  in Santiago de Chile Foto: Lucas Benavente

«Wenn ich dafür gestimmt habe und jetzt nicht mehr dafür bin, bin ich dann inkonsequent?», fragt eine junge Frau im Wahlwerbespot für das chilenische Referendum am 4. September. Der Spot spricht sich für die Ablehnung des neuen Verfassungstextes aus, über den im Referendum abgestimmt wird. Der Ruf nach einer neuen Verfassung war aus der Revolte im Oktober 2019 hervorgegangen, als Millionen Chilen*innen gegen die soziale Ungleichheit im Land protestierten. Ein Jahr später stimmten knapp 80 Prozent der Wähler*innen dafür, die aktuelle Verfassung aus Zeiten der Diktatur Augusto Pinochets durch eine neue zu ersetzen. Im Mai 2021 wählten die Chilen*innen einen Verfassungskonvent, in dem linke Parteien und parteiunabhängige Vertreter*innen aus sozialen Bewegungen die Mehrheit der Sitze erhielten.

Die Unentschlossenen entscheiden

Seitdem hat das Lager der Befürworter*innen erheblich an Stimmen verloren. In allen Umfragen liegen bislang die Gegner*innen der neuen Verfassung vorne. Bei der Abstimmung, die verpflichtend ist, wird das Lager der Unentschlossenen ausschlaggebend sein. Bei rund 16 Prozent verortet das Meinungsforschungsinstitut Cadem derzeit die Zahl der Zweifelnden. Die Tendenz ist steigend. Grund hierfür sind vor allem widersprüchliche Informationen über die in der neuen Verfassung verankerten Rechte. Weiterhin gelang es einer bereits lange im Voraus organisierten Ablehnungskampagne, die strukturellen Defizite des Verfassungskonvents auszunutzen.

Das Verfassungskonvent hat in den letzten 12 Monaten eine Reihe an Artikeln mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet, die das Potential haben, Chile grundlegend zu verändern. So charakterisiert der neue Entwurf Chile als «Sozialstaat» und stärkt dessen Kompetenzen im Gesundheits- und Rentensystem, der Bildung und der Schaffung von Wohnraum – all dies sind Bereiche, in der die aktuelle Verfassung vor allem privatwirtschaftliche Interessen absichert. Auch reproduktive Rechte, darunter das Recht auf Abtreibung, sind verankert. Eine weitere bedeutende Veränderung ist, dass Wasser zum Gemeingut erklärt wird, das nicht privatisiert werden darf. Die aktuelle Verfassung hingegen schützt ausdrücklich den Privatbesitz an Wasser, ein Modell, das besonders die wasserintensive Industrie begünstigt. In dem unter Dürre und Wassermangel leidenden Land ist ein solcher Artikel ein Meilenstein.

Dennoch geht er im derzeitigen Wahlkampf unter. Stattdessen drehen sich die Debatten um die Artikel zur Plurinationalität, die Räume für indigene Selbstverwaltung und Repräsentation stärken sollen – ein Reizthema für viele Chilen*innen im Süden des Landes. Dort verbreitet die Ablehnungskampagne gezielt, dass indigene Gemeinden durch die neue Verfassung gegenüber dem Rest der Bevölkerung privilegiert würden. Auch in anderen Bereichen nutzt die Kampagne den Interpretationsspielraum von Normen aus und schürt Ängste. Die Falschinformation, die Verfassung schaffe das Wohneigentum ab, wurde wiederholt von rechten Konventsmitgliedern verbreitet, zuletzt durch Flugblätter die dem offiziellen Material des Konvents ähneln. Viel debattiert wird außerdem die Fehlinformation, dass Privatpatient*innen durch die neue Verfassung in das öffentliche Gesundheitssystem gezwungen würden. Die Ankündigung, dass sich dadurch die Warteschlangen in öffentlichen Krankenhäusern zusätzlich verlängern, trifft besonders bei älteren Menschen einkommensschwacher Familien auf offene Ohren. Sie sind es, die momentan einen Großteil der Unentschiedenen ausmachen.

Nicolás Contreras Bravo studiert an der Katholischen Universität Chiles Polizeigeschichte und transnationale Sicherheitsregime.

Kiva Drexel schreibt für die Zeitschrift Lateinamerikanachrichten und war von Februar bis Juli 2022 Prozessbeobachterin in der verfassungsrechtlichen Beobachtungsstelle für Geschlechterfragen der Universität von Chile.

Die Regierungskoalition unter dem linksprogressiven Präsidenten Gabriel Boric unterstützt die neue Verfassung. Mitte Juli wurde der Regierung Intervention in den Wahlkampf für das Referendum vorgeworfen, nachdem sie den massenhaften Druck des neuen Textes in Auftrag gab, seither hält sie sich bedeckt. Die Mehrheit der Christdemokratischen Partei Chiles hat sich Anfang Juli für die Befürwortung der neuen Verfassung entschieden. Unter dem Slogan «Apruebo para reformar» («Annehmen, um zu reformieren») versuchen Mitte-Links-Parteien der an der Regierung beteiligten Koalition Socialismo Democrático (Demokratischer Sozialismus), unentschiedene Wähler*innen zu überzeugen. Das ist ein diskursives Zugeständnis an die politische Rechte, die den Verfassungsentwurf als mangelhaft darstellt. «Unser Einsatz für die neue Verfassung richtet sich nicht nach politischem Kalkül», so Manuela Royo, Ex-Konventsabgeordnete und Sprecherin der parteiunabhängigen Kampagne «Die neue Verfassung annehmen» gegenüber El Desconcierto. «Wir stehen für einen positiven sozialen Wandel ein, durch welchen den Bürgern mehr Entscheidungsmacht zugesprochen wird.» Die Kampagne versammelt landesweit mehr als einhundert Basisorganisationen, darunter die Bewegung für den Schutz des Wassers, der Erde und der Umwelt (MODATIMA), die Royo in ihrer Kandidatur für das Verfassungskonvent unterstützte.

Die Rechte gibt sich gemäßigt

Die Parteien der politischen Rechten werben unter dem Slogan «Rechazo por una Mejor» («Ablehnen für eine bessere [Verfassung]»). Es sind dieselben Parteien, die sich bereits beim ersten Referendum 2020 gegen eine neue Verfassung aussprachen. Heute versuchen sie zu zeigen, dass man nicht rechts sein muss, um das Projekt abzulehnen. Extremrechte Positionen, wie die des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast, versucht man dabei zu verbergen. Auch der ehemalige Präsident Sebastián Piñera hat sich bislang nicht zur neuen Verfassung geäußert. Die Ablehnungskampagne wird von einigen Christdemokrat*innen und Teilen des konservativen Flügels der Ex-Concertación (Mitte-Links-Koalition, die nach der Diktatur 30 Jahre regierte) unterstützt, die vom ökonomischen Aufschwung Chiles profitiert haben. An der neuen Verfassung kritisieren sie u.a. die vorgesehene Quote für indigene Kandidat*innen sowie die Umwandlung des Senats in eine «Kammer der Regionen», was den Verlust der Senatssitze einiger Christdemokrat*innen bedeuten würde. Unter dem Titel «Una que nos una» («Eine die uns vereint») warben sie bereits während des Konvents für die Ausarbeitung eines neuen Textes.

Mittlerweile gehen sämtliche Prognosen von einem knappen Ergebnis bei der Wahl am 4. September aus. Der Mapuche-Anwalt Salvador Millaleo führt das auf den Legitimitätsverlust zurück, den der Verfassungskonvent in den letzten Monaten erlitten hat. «Der Fehler bestand darin, zu glauben, dass der Wandel bereits stattgefunden habe. Dabei war dieser erst im Gange», so der Soziologe. «Einige Konventsabgeordnete hielten ein politisches Klima, das durch die Revolte und die Pandemie geprägt war, für einen endgültigen kulturellen Wandel.»

Konventsdebatten wurden in den Medien aufgebauscht. Es kamen überproportional viele Abgeordnete zu Wort, die den Prozess als sektiererisch darstellten. So erhielt die Umweltkommission, auf die die Verankerung von Wasser als natürliches Gemeingut zurückgeht, wiederholt Kritik aus den eigenen Reihen. Der Ökonom Bernando Fontaine fühlte sich bei Debatten übergangen und bezeichnete den Artikel, der die Natur als Rechtssubjekt verankert, als «ideologischen Exzess». Heute leitet Fontaine die Ablehnungskampagne, an die bis Mitte Juli 98 Prozent der registrierten Spendeneingänge ging. Unter den Spender*innen finden sich Großunternehmer wie Patricio Crespo, der zurzeit Wasserrechte für die Bewässerung von 13.800 Kubikmetern pro Jahr besitzt

Gerüchte dominieren die Debatte

«Wenn man nur die Debatten und nicht die Ergebnisse sieht, kann man gewisse Bedenken teilen», meint Juan Martin, ehemaliger Leiter der Umweltkommission. Die Tatsache, dass in der Bevölkerung Unwissen über die verabschiedeten Artikel herrscht, führt der Umweltaktivist auch auf ein Versäumnis der Regierung zurück.  «Als wir beim nationalen Fernsehsender anfragten, kam die Antwort: ‹Alles was wir euch anbieten können, ist ein Banner auf der Website.› Das ist eine Blamage für einen republikanischen Prozess wie diesen.» Somit folgten viele Chilen*innen dem Prozess über die SocialMedia-Profile der einzelnen Abgeordneten, eine einheitliche Kommunikationsstrategie gab es nicht. «Wir sahen die Falschinformationen kommen», so der 26-jährige Juan Martin. «Aber wir hatten einfach keine Zeit, uns mit der Presse zu streiten.»

Gerüchte, die Normen würden die Einheit des chilenischen Staates gefährden und die Bevölkerung indigener Justiz unterstellen, halten sich bis heute hartnäckig. «Im Süden herrscht mittlerweile ein absolut indigenen-feindliches Klima», berichtet Millaleo. «Dabei setzt die politische Rechte die Diskussion um Rechte von Indigenen mit den Forderungen der radikalisiertesten Mapuche-Organisationen gleich.» Die Regierungskoalition hat nun auf die allgemeine Verunsicherung reagiert und eine Übereinkunft über konkrete Reformvorhaben publiziert. Darin hält sie unter anderem fest, wie sie die Normen zur Plurinationalität auszulegen gedenkt, sofern die Verfassung angenommen wird.

Ein alternativer Reformprozess wäre kompliziert

Sollte die neue Verfassung am 4. September abgelehnt werden, wäre die Legitimität der Regierung massiv geschwächt. Präsidentschaftssekretär Giorgio Jackson hat bereits angedeutet, dass Teile des Regierungsprogramms auf der Annahme des Projekts beruhen. Die Ankündigung von Präsident Boric, bei Ablehnung einen neuen Verfassungsprozess anzustoßen, müsste von einer Mehrheit im rechtsdominierten Parlament durchgewunken werden. Sollte der Entwurf abgelehnt werden, wäre ein weiterer Reformprozess über den Parlamentsweg das wahrscheinlichste Szenario. Seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 1980 ist die heutige Verfassung bereits 59 mal reformiert worden. Mittlerweile wurde auf Druck der Opposition, das Parlamentsquorum für Verfassungsänderungen von einer Zwei-Drittel auf eine Vier-Siebtel-Mehrheit gesenkt. Garantien, dass sich die Reformvorhaben an den Themen des Verfassungskonvents orientieren, gäbe es keine. Im Gegenteil würde die Ablehnung einer plurinationalen und sozialstaatlich orientierten Verfassung ein demokratisches Argument gegen tiefgreifenden Wandel liefern – nicht nur für die chilenische Rechte.

Ein knapper Sieg der Befürworter*innen gäbe dem Diskurs um die Reformbedürftigkeit des Textes Aufwind. Auch für diese Reformen wäre die Regierung auf Stimmen der Christdemokratie und einigen aus der gemäßigten Rechten angewiesen. Ein knappes Ergebnis könnten diese dazu nutzen, tiefgreifende Reformen am Verfassungstext zu verlangen. Die Annahme des Verfassungsentwurfs mit einer Mehrheit von über 55 Prozent gäbe der Regierung Rückenwind, die Gesetzgebung in Kernbereichen noch während Borics Amtszeit bis 2026 voranzutreiben.

Eins steht bereits heute fest: Sowohl bei Ablehnung als auch bei Annahme der neuen Verfassung wird es darauf ankommen, dass die sozialen Bewegungen den Druck aufrechterhalten – insbesondere wenn es um die Konkretisierung und Auslegung der Verfassungsinhalte durch den Kongress geht. Doch auch im derzeitigen Wahlkampf sind soziale Bewegungen das Zünglein an der Waage.

 «Es gibt einen Widerspruch zwischen dem, was die Umfragen und die Massenmedien berichten, und dem, was wir tagtäglich in vor Ort erleben.», so Manuela Royo gegenüber El Desconcierto. «Wir wissen, dass wir viel informieren müssen, aber dabei bauen wir auf Voraussetzungen, die sich aus jahrelanger Organisierungserfahrung ergeben. Nun können wir auf eine Zukunft zu verweisen und jenem Chile ein Ende setzen, das von so vielen Missständen geprägt ist.» Auch die regierungsnahe Kampagne setzt auf Akteure aus der Zivilgesellschaft. Beide Kampagnen koordinieren sich nun, um jene Menschen auf der Straße und an der Haustür aufzusuchen, die wenig oder Widersprüchliches von der neuen Verfassung gehört haben. Ihre Informationsarbeit wird den Ausschlag geben, ob sich auch Zweifelnde zur Zustimmung entscheiden.