Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Cono Sur - Andenregion «Feministische Forderungen haben nun Verfassungsrang»

Alondra Carrillo vom chilenischen Kollektiv «Coordinadora Feminista 8M» zum Potential des verfassungsgebenden Prozesses

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«Históricas». Von historischer Bedeutung: Weltfrauentag 2020 in Santiago de Chile
«Históricas». Von historischer Bedeutung: Weltfrauentag 2020 in Santiago de Chile
  Foto: Paola Mendoza acción de Brigada Laura Rodig CF8M

Am 4. September entscheiden die Chilen*innen, ob sie den Entwurf einer neuen Verfassung annehmen wollen. Das Referendum ist ein Meilenstein auf dem Weg aus der politischen Krise, in der sich das Land seit Oktober 2019 befindet. Beginnt damit für Chile eine neue Etappe mit einer Verfassung, die unter demokratischen Bedingungen entstanden ist?

Die feministische Bewegung hat eine herausragende Rolle während dieser politischen Krise gespielt. Der feministische Generalstreik, der vom Kollektiv Coordinadora Feminista 8M für den 8. März 2019 ausgerufen wurde, hat das bereits vorweggenommen. Er hat die Forderungen all jener Kämpfe hochgehalten, die die chilenische Bevölkerung seit Jahrzehnten aufgestellt hatte. Im verfassungsgebenden Prozess selbst erwies sich der Feminismus als treibende Kraft. Durch ihre inhaltliche Schärfe und ihren gesellschaftlichen Rückhalt konnten Feminist*innen entscheidende Transformationen vorantreiben, die jetzt im Entwurf für die neue Verfassung festgehalten sind.

Alondra Carrillo, Sprecherin der Coordinadora Feminista 8M wurde als Vertreterin der feministischen Bewegung sowie der Asambleas Territoriales des zwölften Distrikts von Santiago de Chile in den Verfassungskonvent gewählt. Mit ihr sprach Pablo Abufom vom Magazin Jacobin América Latina. Die ungekürzte spanischsprachige Version dieses Interviews erschien in der Reihe Convención Constitucional 2022, einer Zusammenarbeit zwischen Jacobin América Latina und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Buenos Aires.
 

Pablo Abufom: Wie beurteilt ihr von der Coordinadora Feminista 8M heute den verfassungsgebenden Prozess? Was ist dort von all den Debatten und programmatischen Entwicklungen der sozialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte eingeflossen? Wie sehr können wir uns über die Fortschritte freuen, die in der neuen Verfassung Eingang gefunden haben?

Alondra Carillo: In der ersten Woche des Verfassungsprozesses saß ich zusammen mit meinen Nachbar*innen auf einem Platz in La Florida und da wurde uns plötzlich klar, dass wir bald die Verfassung schreiben werden müssen. Wenn ich an die Entwicklungen seither denke und den finalen Entwurf betrachte, dann würde ich sagen: Die Bilanz ist ausgesprochen positiv. Es gibt sehr gute Gründe, uns zu freuen. Die Slogans, die seit 2006 auf den Bannern der Proteste standen, sind heute Teil der Verfassung.

Wir haben das Recht auf Bildung in Form eines öffentlichen Bildungswesens verankert, das auf allen Ebenen laizistisch, kostenlos und geschlechtergerecht ist. Ebenso haben wir das Recht auf soziale Absicherung verankert.

Auch das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und die Anerkennung der Gewerkschaften als Repräsentantinnen der Beschäftigten, die kollektive Verhandlung von Branchentarifen und das Streikrecht sind in der Verfassung festgeschrieben. Wasser wird unantastbares Allgemeingut und seine Nutzung für Mensch und Umwelt hat Vorrang. Endlich haben wir auch das Recht auf menschenwürdiges und angemessenes Wohnen verankert; der Staat kann unter Mitwirkung der Gemeinden direkt Wohnungen bauen, über Bauland verfügen und so Spekulationen verhindern. Er muss zudem Notunterkünfte für Frauen einrichten, die Opfer von Gewalt wurden. Der Staat bekennt sich zum Recht auf ein Leben frei von Gewalt für Frauen, Mädchen, Jugendliche und trans und nicht-binäre Personen. Kinder werden als Rechtssubjekte anerkannt und ältere Menschen haben das Recht, in Würde zu altern. Erstmals werden Menschen mit Behinderungen als Rechtssubjekte anerkannt. Auch unsere Rechte auf persönliche Autonomie und auf Identität sowie unsere sexuellen und reproduktiven Rechte sind festgeschrieben. Die Verfassung wurde von uns geschrieben und spricht daher in diesem Zusammenhang auch von dem Recht auf Lust. Und der Staat wird endlich demokratisiert, indem breite Teile der Bevölkerung ermächtigt werden, die Politik und die Gesetzgebung mitzugestalten und indem sich die Gemeinden und Regionen selbst regieren können. Es gibt viele Gründe, sich zu freuen, und es würde eine Weile dauern, sie alle aufzuzählen.

Aber die Bilanz ist auch positiv, weil uns dieser intensive und schnelle politischen Lernprozess ermöglicht hat, eine neue Sprache zu sprechen: eine Sprache, die zu beherrschen und in der sich artikulieren können sehr wichtig ist, wenn es um politische Auseinandersetzungen geht. Wenn man bedenkt, dass die Verfassung sprachlich sehr abstrakt ist, ermöglicht diese neue Sprache uns, den allgemeinen Anliegen, Hoffnungen oder Wünschen eine sehr konkrete Form zu geben: Wir wollen ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt – was bedeutet das in Bezug auf unseren Auftrag an den Staat? Wie kann sich das in staatlichen Leistungen widerspiegeln? Was bedeutet es in Bezug auf den internationalen Menschenrechtsrahmen, auf den wir uns beziehen, um diese Garantien durchzusetzen? Das sind Fragen, die es uns ermöglicht haben, diesen Wunsch nach einem würdigen Leben oder einem radikal anderen Leben zu konkretisieren oder einen Schritt weiter zu gehen, um ihn zu verwirklichen. Und außerdem konnten so Überlegungen, die seit Langem in den sozialen Bewegungen entwickelt wurden, in Verfassungsnormen dargestellt werden – heute sind sie Teil des Verfassungsentwurfs.  

Der Verfassungsprozess hat die Situation verändert: Die sozialen Bewegungen sind nun nicht mehr in der Rolle, immer nur Forderungen an den Staat zu stellen, die dieser dann erfüllen kann oder nicht. Jetzt haben sie den Raum zu gestalten, Bedingungen zu schaffen und daher mit einer ganz anderen historischen Verantwortung zu denken. Das ist etwas, was wir in diesem Ausmaß noch nicht erlebt haben.

Ja, absolut. Weil es darum geht, eine Verfassung zu schreiben, sind wir angehalten, in einem sehr weiten zeitlichen Rahmen zu denken. Denn es geht darum, dass wir uns für die Zukunft, die wir schaffen wollen, auch verantwortlich fühlen. Und dieser Gedanke tauchte immer wieder in den Unterhaltungen der Nachbar*innen auf, dass dies ein Prozess «für meine Söhne, für meine Töchter» sei. Es handelt sich also gleichzeitig um eine generationenübergreifende Verantwortung, die es uns ermöglicht, uns vorzustellen, Werkzeuge zu haben, um die Realität, in der wir leben, zu verändern.

Dabei geht es selbstverständlich nicht um eine unmittelbar anwendbare politische Maßnahme, sondern eher um eine Vision ...

Nein, es geht nicht um unmittelbare Anwendbarkeit. Dennoch geht es darum, den Menschen Werkzeuge an die Hand zu geben. Wir wollen eine Verfassung, die wie ein Werkzeugkasten ist, und jetzt haben wir die Möglichkeit, diese Werkzeuge zu schaffen. Welche sind das? Welche brauchen wir? Welche Form müssen sie haben? Wofür müssen sie nützlich sein?

Alondra Carrillo, Sprecherin der Coordinadora Feminista 8M, wurde als Vertreterin der feministischen Bewegung in den Verfassungskonvent gewählt. Foto: Coordinadora Feminista 8M

Welche Fortschritte wurden für den Feminismus erzielt und welche Verbesserungen hat dieser in die neue Verfassung eingebracht? Welche Werkzeuge werden der feministischen Bewegung zur Verfügung gestellt, und welche Werkzeuge gibt der Feminismus der chilenischen Bevölkerung?

Einige seit langem bestehenden Forderungen der feministischen Bewegung haben in dem Entwurf Verfassungsrang. Dadurch werden feministische Perspektiven zu einer allgemeinen Perspektive für die Betrachtung sozialer Fragen. Die Grunderkenntnis, dass wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, zieht sich durch den gesamten Verfassungstext. Ebenso die Absicht, diese patriarchale Gesellschaftsform zu überwinden und sowohl dem Staat als auch den Gemeinschaften und den Menschen die Instrumente an die Hand zu geben, diese strukturelle Ungleichheit und Gewalt zu überwinden. Beispiele dafür finden wir in Artikel 6 über eine paritätisch organisierte Demokratie, an der sich der Staat orientieren muss: Der Staat fördert eine Gesellschaft, in der Frauen, Männer, trans und nicht-binäre Personen gleichberechtigt teilhaben können, eine Bedingung für die Ausübung ihre Rechte als Bürger*innen dieses Staates. Diese sehr allgemeine Vorstellung davon, wohin sich der Staat bewegen sollte, wird gleichzeitig von sehr spezifischen Mandaten begleitet. Paritätische Besetzung wird zur Mindestanforderung für Hochschuleinrichtungen, öffentlichen Unternehmen, halböffentlichen Unternehmen und einer Reihe anderer Gremien und Organisationen: mindestens 50 Prozent der Gremien müssen mit Frauen besetzt sein. Und es gibt auch eine Reihe von Mandaten zur Anpassung von Vorschriften, der Gesetzgebung und öffentlicher Politikprogramme, um das eigentliche Ziel zu erreichen, nämlich die substanzielle Gleichstellung, d. h. im Grunde die Abschaffung des Patriarchats.

Das eigentliche Ziel ist die substanzielle Gleichstellung, d. h. im Grunde die Abschaffung des Patriarchats.

Dann gibt es den Rechtekatalog, bei dem ich sagen würde, dass der Feminismus in zweierlei Hinsicht eingewirkt hat: Erstens, indem Rechte verankert wurden, die schon lange Teil der feministischen Agenda sind – das Recht auf ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt, sexuelle und reproduktive Rechte, umfassende Sexualerziehung, Anerkennung von Sorgearbeit und das Recht auf Pflege, um nur einige zu nennen. Aber der Feminismus war auch eine der breiten gesellschaftlichen Kräfte, die den gesamten Rechtekatalog vorangetrieben haben. Er war Teil der Bemühungen um eine tiefgreifende Demokratisierung, die darauf abzielt, die Arbeiter*innenklasse zu ermächtigen und ihr die Möglichkeit zu geben, ihre Lebensbedingungen zu verändern.

Der Feminismus war eine treibende Kraft hinter dem Recht auf Bildung durch ein Nationales Öffentliches Bildungssystem als strategische Achse. Normen zur Finanzierung des öffentlichen Bildungswesens wurden dabei mitbedacht. Ebenso zur Finanzierung von sozialen Rechten, wie dem Recht auf Wohnraum. All das sind grundlegende soziale Rechte, für die die sozialen Bewegungen in Chile seit Langem kämpfen. Wir haben sie nicht nur in der Verfassung verankert, sondern dabei explizit auch die Perspektive von Frauen, Mädchen, Queers, trans und nicht-binären Personen berücksichtigt. Es handelt sich um Rechte, die, wenn sie gewährleistet sind, auch die Basis für die Überwindung von Geschlechterasymmetrien und geschlechtlicher Arbeitsteilung schaffen.

Es sind diese beiden miteinander verflochtenen Dimensionen, in denen sich die gegenwärtige Bedeutung des Feminismus zeigt. Er ist eine der mächtigsten und kreativsten Kräfte in der Arbeiter*innenklasse und verfügt gemeinsam mit der sozial-ökologischen Bewegung und der Bewegung der Indigenen über eine der am besten entwickelten programmatische Grundlagen. Als Bewegung, die Teil der Arbeiter*innenklasse ist, kann der Feminismus zur Durchsetzung allgemeiner Rechte beitragen, wie etwa im Falle gewerkschaftlicher Rechte oder dem Streikrecht – Themen, die Feminist*innen auch im Verfassungskonvent hochgehalten haben.

Was kommt nach der Kampagne für das Referendum am 4. September? Welche Herausforderungen siehst du für die Bewegungen, die sich innerhalb und außerhalb der verfassungsgebenden Versammlung für den Prozess eingesetzt haben?

Es geht darum, die beiden Ebenen zu identifizieren, auf denen sich das Handeln der sozialen Bewegung im verfassungsgebenden Prozess entfaltet hat: Auf der einen Seite die sogenannte konstitutionelle Ebene, auf der wir um den Verfassungsrahmen streiten, der das Fundament bietet, um einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat zu verwirklichen. Auf der anderen Seite gibt es auch einen Prozess, in dem wir uns selbst als politisches Subjekt konstituieren. Dabei ist von Bedeutung, dass dieses konstituierende Moment in der Praxis der Arbeiter*innenklasse auch ein feministisches und plurinationales ist.

Das ist ein Teil dessen, was wir im Laufe dieses Jahres versucht haben und was derzeit im Rahmen der Kampagne für die Zustimmung am 4. September umgesetzt wird. Diese Kampagne ist eine langfristige sozialpädagogische Aufgabe, die es uns erlaubt, uns die Inhalte anzueignen, die wir aufgrund unserer unterschiedlichen Beteiligung am Verfassungsprozess auf dezentrale und ungleiche Weise produziert haben. Jetzt geht es darum, uns diese Inhalte so anzueignen, dass wir sie für unsere Lebensrealitäten und die Art und Weise, wie wir leben wollen, nutzen können.

Die Kampagne hat zudem einen Raum geschaffen, in dem ein gemeinsamer Traum zum Ausdruck kommen konnte, der uns bewegt und uns zeigt, warum wir dieser neuen Verfassung zustimmen und warum wir uns für sie einsetzen. Es ist ein kollektiver Traum, der verdeutlicht, was für uns auf dem Spiel steht und welche Zukunft möglich ist, wenn der Verfassungstext angenommen wird.

Die unmittelbare Herausforderung für die Bewegung ist natürlich, dass der Verfassungstext am Tag des Referendums angenommen wird. Das ist der wichtigste Meilenstein für uns.

Heute können wir sagen, dass die Gefahr einer autoritären Wende als Ausweg aus dieser politischen Krise besteht, wenn wir dieses Referendum nicht gewinnen. Aber wenn wir Erfolg haben, werden neue politische Probleme auftauchen, denen wir uns als soziale Bewegungen stellen müssen. Diese werden uns ein höheres Maß an Geschlossenheit abverlangen und vor neue Aufgaben stellen, wie etwa die Ausarbeitung von Gesetzen. Es wird auch neue Möglichkeiten für politische Diskussionen und für die politische Organisation in unseren Territorien geben. Nun stehen wir vor der Herausforderung, dass eine Annahme des Verfassungstextes nicht das Ende unserer gemeinsamen Arbeit bedeutet. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Menschen glauben, dass wir nach getaner Arbeit nach Hause gehen. Vielmehr müssen wir zeigen, dass es notwendig ist, weiterhin gemeinsam politisch zu intervenieren und Druck aufzubauen. Dies sind die zentralen Herausforderungen.
 

Das Interview führte Pablo Abufom von Jacobin Latin America. Übersetzung: Maria Pereira.