Sie war die erste transidente Stadträtin einer brasilianischen Gemeinde: Im Jahr 2020 wurde Benny Briolly mit dem fünftbesten Ergebnis ins Stadtparlament von Niterói gewählt. Im Jahr 2013 war sie in die Sozialistische Partei PSOL eingetreten und drei Jahre später wurde sie zur ersten transidenten parlamentarischen Assistentin auf lokaler Ebene. Zu den kommenden Wahlen im Herbst 2022 kandidiert sie nun als Abgeordnete für den Bundesstaat Rio de Janeiro.
Benny Briollys politischer Werdegang war alles andere als einfach: als Schwarze trans Frau aus der Favela war und ist sie politischer Gewalt, Rassismus und Transfeindlichkeit ausgesetzt. Selbst in parlamentarischen Räumen wird sie von anderen Stadträten und Abgeordneten offen angefeindet. Dagegen geht sie gerichtlich vor. Aufgrund von Morddrohungen musste Briolly Brasilien im Jahr 2021 sogar vorübergehend verlassen. Gegenüber der brasilianischen Zeitschrift Híbrida erklärte sie damals: «Heute muss ich in einem gepanzerten Auto fahren. Ich werde meiner Freiheit beraubt, bloß weil ich eine trans Abgeordnete bin, die für den Aufbau einer gerechteren und gleichberechtigteren Gesellschaft kämpft.» Die Stadträtin will vor allem nicht in der Ausübung ihres Amtes gehindert werden. Aber die Bedrohungssituation ist real. In den sozialen Medien wird ihr der Tod durch «das Maschinengewehr von Ronnie Lessa» gewünscht, der wegen Mordes an der Schwarzen lesbischen Stadträtin Marielle Franco angeklagt ist. Franco wurde im März 2018 erschossen. Ihre Ermordung hat international Aufsehen erregt, u.a. da eine Verbindung der mutmaßlichen Täter mit dem Präsidenten Bolsonaro vermutet wird. Benny und Marielle sind nicht die einzigen Fälle, in denen queere Politiker*innen bedroht werden. Auch der schwule Abgeordnete Jean Wyllys musste Brasilien im Jahr 2019 wegen Morddrohungen verlassen.
Andrea Dip ist Investigativjournalistin aus Brasilien und lebt derzeit in Berlin. Sie arbeitet in der International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies der Rosa-Luxemburg-Stiftung und forscht am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.
Briollys Kampf wirft Licht auf die Situation von LGBTIQ* insgesamt in Brasilien. Queere Politiker*innen stehen zwar besonders im Rampenlicht, aber ein gesellschaftliches Klima in dem queerfeindliche Äußerungen und Angriffe in Medien und Politik wiederholt werden, legitimiert diese auch in Alltagssituationen. Insbesondere trans Personen müssen extreme Gewalt erleben, ihre durchschnittliche Lebenserwartung liegt aktuell nur bei 35 Jahren. Brasilien steht seit 13 Jahren an der Spitze der Liste von transfeindlicher Gewalt und ist nach wie vor das Land, in dem weltweit die meisten trans Menschen getötet werden.
Schweigen über queere Themen im Wahlkampf
Als sich die Aufmerksamkeit der Brasilianer*innen Ende August auf die erste TV-Debatte für die Präsidentschaftswahlen 2022 richtete, war das Schweigen der Kandidat*innen zu LGBTIQ*-Themen deshalb auch besonders schockierend. Es war das erste Mal, dass die Spitzenkandidat*innen öffentlich aufeinandertrafen, um ihre Regierungsprojekte zu verteidigen. Die jetzige Präsidentschaftswahl gilt als die Wichtigste seit der Redemokratisierung Brasiliens in den 1980er Jahren. Es präsentierten sich die sechs aussichtsreichsten Kanditat*innen – vier Männer und zwei Frauen. Die beiden Kandidaten mit den größten Chancen sind zugleich die mit den gegensätzlichsten Regierungsplänen – so seltsam das auch klingen mag. Luiz Inacio «Lula» da Silva steht für die Arbeiter*innenpartei (Partido dos Trabalhadores) und vertritt als einziger Kandidat eine linke Agenda. Er tritt gegen Jair Bolsonaro (Partido Liberal) an, der sich als aktueller Präsident um die Wiederwahl bemüht und der die neoliberale extreme Rechte repräsentiert.
Während der mehr als zweistündigen Debatte herrschte neben Hetzreden und frauenfeindlichen Angriffen – insbesondere von Präsident Bolsonaro gegen andere Kandidatinnen und Journalistinnen – ohrenbetäubendes Schweigen zum Theme LGBTIQ*-Rechte. Dies scheint besonders besorgniserregend in einem Land, das nach vier Jahren ultrakonservativer, rechtsextremer und christlich-fundamentalistischer Regierung seine Demokratie erst wiederherstellen muss. Die Regierung Bolsonaros hat in ihrer Amtszeit keine Gesetzesentwürfe zur Garantie von LGBTIQ*-Rechten vorgelegt. Im Gegenteil – bestehende öffentliche Maßnahmen der drei wichtigsten Ministerien wurden abgebaut. Das Gesundheitsministerium, das Bildungsministerium und das Ministerium für Menschenrechte wurden an christlich-fundamentalistische Minister*innen übergeben und letzteres wurde überdies in «Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte» umbenannt. Von Bolsonaro, der mit frauen- und queerfeindlichen Äußerungen, wie der, dass er lieber einen toten als einen schwulen Sohn hätte, weltberühmt wurde, waren Politikprogramme für die LGBTIQ*-Communities kaum zu erwarten. Doch queere brasilianische Organisationen und Aktivist*innen wiesen auch auf das mangelnde Interesse der restlichen anwesenden Kandidat*innen und Journalist*innen hin.
Der transidente Reporter Caê Vasconcelos schrieb auf Twitter, die Menschen, die bemerkt hätten, dass die LGBTIQ*-Agenda in der Debatte ausgelassen wurde, ließen sich an einer Hand abzählen. Dies sei umso beunruhigender, da es sich bei Brasilien um eines der Länder mit den höchsten Mordraten an Personen aus dem LGBTIQ*-Spektrum und insbesondere an trans Personen handelt.
Bloßes Recht auf Überleben
In den letzten Jahren hat die queerfeindliche Gewalt noch zugenommen: Laut der Beobachtungsstelle für Mord und Gewalt an LGBTQI* (Observatório de Mortes e Violência LGBTI+) wurde im Jahr 2021 ein Anstieg der Morde an Menschen aus dieser Personengruppe um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr registriert. In einem von der Stelle veröffentlichten Bericht aus demselben Jahr wird darauf hingewiesen, dass in Brasilien alle 27 Stunden eine Person aus Motiven ermordet wird, die mit ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung zusammenhängen.
Noch alarmierender sind die Daten, wenn sie aus intersektionaler Perspektive betrachtet werden, z.B. in Verbindung mit rassistischer Diskriminierung. Dem Bericht «What is the color of the Invisible? The human rights situation of the Afro-LGBTI population in Brazil» des Internationalen Instituts für Race, Gleichheit und Menschenrechte, waren 82 Prozent der 2019 in Brasilien ermordeten trans Personen Schwarz. In einem Interview mit der Zeitung Brasil de Fato betonte Programmleiter Isaac Porto, Hauptanliegen der Schwarzen LGBTIQ*-Bevölkerung in Brasilien sei weniger das Recht auf Eheschließung oder Adoption von Kindern als vielmehr das bloße Recht auf Überleben. Der Bericht verdeutlicht, dass es in Brasilien, was Menschenrechte anbelangt, große Unterschiede zwischen den Erfahrungen weißer und Schwarzer LGBTIQ*-Personen gibt. Die Daten werden noch beunruhigender, wenn die Erfahrungen von cis und trans Personen in den Vergleich einbezogen werden. Unterschiedliche Lebensrealitäten führen bei weißen und Schwarzen LGBTIQ*-Personen auch in Städten und auf dem Land zu verschiedenen Sorgen und Erwartungen an die Regierung. Schwarze LGBTIQ*-Aktivist*innen wie Washington Dias vom Netzwerk Afro LGBT aus Salvador (Bahia) betonen, dass weiße homosexuelle Cis-Männer aus der Mittelschicht bereits Ehe- und Adoptionsrechte einfordern, während Schwarze trans Personen noch immer um das elementarste Recht kämpfen: das Leben.
Gleichstellungspolitik und «Genderideologie»
Auch Marco Aurélio Prado, Professor an der Bundesuniversität von Minas Gerais, beklagt die fehlende Berücksichtigung von LGBTIQ*-Themen in den vorgestellten Regierungsprogrammen der Präsidentschaftskandidat*innen. Die Kampagne Bolsonaros, der bei Prognosen derzeit 32 Prozent der Stimmen erreicht, geht gar nicht auf diese Themen ein – sein vielsagendes Schweigen hat zur Folge, dass Menschenrechte weiterhin negiert werden. Das Programm von Lula (mit 47 Prozent der beabsichtigten Stimmen zu Redaktionsschluss dieses Artikels) erwähnt LGBTIQ*-Belange am häufigsten, insbesondere in Bezug auf die Bekämpfung von Gewalt, die Stärkung einer umfassenden Gesundheitspolitik und die Einbeziehung in Bildungsprogramme. Aber auch hier handelt es sich laut Prado um eher vage und zaghafte Vorschläge für eine Fraktion, die fast zwei Jahrzehnte an der Regierung war und queere Belange durchaus umsichtig behandelt habe. Prado erwähnt Programme und öffentliche Maßnahmen, die während der Amtszeit von Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff begonnen wurden. Ein Beispiel ist das Programm Brasil sem homofobia, das 2004 von der PT-Regierung initiiert, jedoch nach und nach eingestellt wurde.
Brasilien erlebt insbesondere im Bildungsbereich immer wieder Angriffe auf Gleichstellungspolitik. Ein Großteil der Kampagne Bolsonaros für die Präsidentschaft 2018 basierte auf dem Kampf gegen eine sogenannte «Genderideologie» – ein fiktives und formbares Konzept ultrakonservativer Organisationen weltweit, die «das Ende der Familie» prophezeien und befürchten, Kinder würden sexualisiert und zu Geschlechtsangleichungen angestiftet. Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen wurden im Rahmen von Bolsonaros Kampagne sogar Bilder und Falschmeldungen über penisförmige Babyflaschen verbreitet, die Fernando Haddad, der Gegenkandidat der PT, angeblich in öffentlichen Schulen verteilt hätte.
Die Verbreitung solcher Falschmeldungen im Zusammenhang mit einer angeblichen Genderideologie wird von rechtsextremen Akteur*innen auf der ganzen Welt instrumentalisiert und trägt dazu bei, Hass und Diskriminierung gegen die queere Bevölkerung und insbesondere gegen trans Personen zu schüren. Ultrakonservative vertreten eine biologistische Definition von Gender und wiederholen oft bis zur Erschöpfung Slogans wie «Mädchen werden als Mädchen geboren und Jungen als Jungen».
Kritische Hoffnung
Im Oktober dieses Jahres wird Brasilien neben einem neuen Präsidenten auch den Senat sowie Bundes- und Landtagsabgeordnete wählen. Eine Studie der NGO VoteLGBT+, die daran arbeitet, die Repräsentation von LGBTIQ*-Personen zu erhöhen, verzeichnete dieses Jahr 214 Anträge auf Kandidaturen von queeren Personen – ein Anstieg um 36 Prozent im Vergleich zu den Wahlen von 2018. 64 Prozent dieser potenziellen Kandidat*innen sind Schwarz, 27 Prozent trans Personen und 18 Prozent treten in kollektiven Kandidaturen an. Darüber hinaus erklärten sich 28 Prozent als schwul, 27 Prozent als bisexuell und 23 Prozent als lesbisch. Die meisten dieser Kandidaturen wurden aus den linken Parteien PT und PSOL gestellt.
Für den Psychologen Prado stellt der Anstieg queerer Kandidaturen ein wichtiges Phänomen dar: «Es ist interessant, wie sich die LGBTIQ*-Community der institutionellen Politik annähert. Heute sind NGOs und Institutionen in Brasilien stärker als soziale Bewegungen auf der Straße und die institutionelle Politik scheint zu einem wichtigeren Handlungsfeld geworden zu sein.» Prado lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Verlagerung der Kandidaturen auf linke Parteien. «Zuvor kamen die Kandidaturen noch zu 30 bis 40 Prozent aus dem rechten Spektrum, doch heute können wir eine zunehmende Abgrenzung rechtsextremer politischer Parteien beobachten, mit denen sich die rechte Mitte verbündet, sodass sich diese Kandidaturen mehr nach links verschieben.»
Die queere Opposition zur aktuellen Regierung innerhalb der Parlamente und auf Landes- und Kommunalebene besteht vor allem aus Schwarzen trans Frauen, die wie Benny Briolly als Stadträt*innen oder Abgeordnete oder in kollektiven Mandaten arbeiten.
Laut Prado hat diese Wahl eine große Bedeutung für die queere Community. Entweder legitimiert sie die Rückkehr zur institutionellen Demokratie oder die Konsolidierung des Demokratieverfalls. «Eine zweite Amtszeit Bolsonaros würde die Umsetzung seiner politischen Agenda in einem noch ganz anderen Ausmaß als zuvor ermöglichen. Das würde einen demokratischen Rückschritt bedeuten, vor allem für die queere Bevölkerung. Jetzt kommen die wichtigsten Wahlen. Entweder haben wir danach die Möglichkeit gleichberechtigt zusammenzuleben, mit der Garantie auf einige grundlegenden Rechte, oder aber wir haben nichts».