Interview | Iran - Feminismus - Feminismus für alle «Nichts weniger als der Sturz des Regimes»

Wo die feministische Revolution im Iran steht und was sie fordert

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Am 13. September wurde Zhina (Mahsa) Amini, eine 22-jährige kurdisch-iranische Frau, in Teheran von der im Iran institutionalisierten Hidschab-Polizei wegen ihrer vermeintlich nicht gesetzeskonformen Kleidung festgenommen, misshandelt und wenig später aufgrund von Hirnverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Sie lag im Koma und starb am 16. September aufgrund der ihr im Polizeigewahrsam zugefügten Verletzungen im Krankenhaus. Die Wut über diese unfassbare Gewalt ist enorm. Seit Zhinas Tod gehen die Menschen in vielen großen und kleinen Städten im Iran auf die Straße und protestieren gegen den obligatorischen Hidschab, gegen Geschlechterapartheid und gegen das Regime der Islamischen Republik (IR). Es ist die größte Protestbewegung im Iran seit 2019. Darüber, was diese Proteste bedeuten und wie sich Europa und die europäische Linke positionieren sollten, haben wir mit der kurdisch-iranischen feministischen Aktivistin S. in Deutschland gesprochen, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte.

Bahar Oghalai und Maria Hartmann: Die Proteste dieser Tage sind ja die letzten in einer Reihe von Protestwellen, die in den letzten Jahren immer häufiger im Iran stattgefunden haben. Wo siehst du bei diesem Protest die Kontinuitäten und was ist das Besondere an diesen letzten Ereignissen?

S.: Kontinuitäten der Proteste gibt es auf mehreren Ebenen: Auf der einen Seite im Kontext der Frauen*bewegung im Iran. Weil die Islamische Republik seit der ersten Stunde auf die Unterdrückung von Frauen* und sexuellen wie geschlechtlichen Minderheiten gesetzt hat, gab es seitens dieser Gruppen auch schon immer Widerstand. Die aktuellen Proteste sind eine Fortsetzung dieses jahrelangen Kampfes.

Die interviewte Aktivistin S. gab eine Erklärung über die erzwungene Anonymität ab: Ich denke es ist wichtig klarzustellen, warum wir iranischen Aktivist*innen uns oft tausende Kilometer entfernt von Iran nicht unter unseren tatsächlichen Namen kritisch in der Öffentlichkeit äußern können. Wie viele meiner Freund*innen, die im Ausland leben, muss ich auch Angst haben, bei der Einreise in den Iran verhaftet, verhört und unter Druck gesetzt zu werden. Durch dieses permanente Gefühl der Bedrohung ist es Teil meiner politischen Identität geworden, meinen Namen und persönliche Informationen über mich geheim zu halten. Dass es der Islamischen Republik möglich ist, sogar außerhalb ihrer Staatsgrenzen derlei Druck und Zensur auf uns auszuüben, ist keine persönliche Sache, sondern ein Politikum und muss deshalb auch in unseren Aufenthaltsländern zum öffentlichen Thema werden. Die Islamische Republik bezeichnet allzu häufig iranische Staatsbürger*innen, die im Ausland leben, als Kollaborateur*innen und Handlanger*innen des Westens, als ‹Konterrevolutionär*innen> und als verräterische Kräfte. Das ist unabhängig davon, ob jemand politisch aktiv ist oder nicht. Sie kriminalisiert und verfolgt uns, um Druck und Zensur außerhalb der Grenzen Irans auszuüben. Das ist nicht nur, aber insbesondere bei feministischem Aktivismus der Fall.

Auf der anderen Seite sind sie auch die Weiterführung einer Serie von spontanen Aufständen, die im Dezember 2017 aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation im Iran begannen. Sie verschärften sich im Winter 2019/20 in mehreren Wellen und forderten schon damals zahlreiche Todesopfer und Verhaftungen. Diese Proteste fielen seit Mai 2022 zunehmend mit organisierten Protesten von Rentner*innen, Arbeiter*innen und Lehrer*innen zusammen, die in den letzten Jahren immer regelmäßiger auf den Straßen präsent waren und gekämpft haben. Das, was wir momentan auf den Straßen des Iran beobachten, ist eng mit den Protesten der letzten Jahre und der darauffolgenden Repression verbunden.

Was die jüngsten Proteste aber besonders auszeichnet, ist die enorme Präsenz und Führung der Bewegung durch Frauen*. Die Wut über den staatlichen Femizid an Zhina (Mahsa) konnte Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen mobilisieren, zunächst aus Sympathie für die Familie von Zhina und aus Solidarität mit angekündigten Streiks in Kurdistan (am 19. September). Diese Straßenpräsenz setzte sich fort und brachte uns in eine neue Phase politischer Proteste, die speziell bezogen auf das Thema Frauen*, Geschlechterapartheid und Geschlechterunterdrückung neue Dimensionen entfaltet haben. Es ist sogar gelungen, die geschlechtsspezifischen Strukturen der Protestbewegungen der letzten Jahre zu durchbrechen. Die Forderung nach der Abschaffung des obligatorischen Hidschab war lange ein Randthema. Jetzt ist sie zu einer zentralen Forderung geworden.

Zudem wurde der international bekannte Ruf der feministischen Bewegung kurdischer Frauen* – «Jin, Jiyan, Azadi» (Frau*, Leben, Freiheit) – landesweit zu einem zentralen Protest-Slogan. Das zeigt die Verbindung der Protestbewegungen über Altersgruppen, politische Spektren, ethnische und nationale Grenzen hinweg. Die Islamische Republik konnte derlei Entwicklungen trotz aller Repression und Teile-und-herrsche-Propaganda nicht verhindern. Heute ist sie mit der Wut einer Mehrheit der Bevölkerung konfrontiert.

Also würdest du sagen, dass wir gerade eine feministische Protestbewegung im Iran beobachten?

Ich würde sogar sagen, dass es eine feministische Revolution ist. Diese Proteste sind sowohl in Form als auch Inhalt sehr radikal und feministisch. Es gibt eine große und mutige Präsenz von Frauen* mit sehr kreativen Protestformen: Sie stehen, ohne den Hidschab zu tragen, auf Erhöhungen, sie tanzen und verbrennen ihre Kopftücher, sie besetzen die Straßen und protestieren gegen den obligatorischen Hidschab. Indem Frauen* das Kopftuch verbrennen, protestieren sie nicht nur gegen die Ermordung von Zhina, sondern zeigen auch, dass sie die Kontrolle über ihre Körper nicht länger akzeptieren. Die Frauen* im Iran haben durch den Kampf gegen die Zwangsverschleierung entlarvt, dass die Islamische Republik auf den obligatorischen Hidschab angewiesen ist. Deshalb ist jede Veränderung und Revolution ohne die Berücksichtigung feministischer Anliegen nicht denkbar.

Will denn die Mehrheitsbevölkerung deiner Meinung nach die vollständige Beseitigung des Regimes oder haben manche Gruppen auch Forderungen, die sich im Rahmen der Islamischen Republik erfüllen lassen?

Nein, die Menschen wollen keine Reformen. Die eindeutige und zentrale Forderung ist der Sturz der Islamischen Republik und die gerichtliche Verurteilung ihrer Anführer*innen.

Bahar Oghalai ist Sozialwissenschaftlerin mit Fokus auf Intersektionen von Rassismuskritik und Feminismus. Sie promoviert zu Politisierungsbiographien diasporischer Feminist*innen aus dem Iran und der Türkei in Deutschland.

Maria Hartmann forscht, arbeitet und engagiert sich politisch zu Fragen von transnationaler Solidarität und Diaspora-Aktivismus im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen in Westasien/ Nordafrika.

Einige der Slogans dieser Tage lauten: Tod der Islamischen Republik / Wir wollen keinen islamischen Staat  / Khamenei ist ein Mörder, seine Herrschaft ist ungültig.

Die Forderung wurde bereits im November 2019 ernsthaft laut und wiederholt sich in diesen Tagen bei den Protesten. In den Jahren nach der islamischen Revolution von 1979 haben die Menschen viele Male versucht, mit dieser Regierung zu sprechen und sie zu Reformen aufgefordert. Aber die Reaktion des Regimes bestand immer darin, die Opposition zu unterdrücken, einzusperren und zu töten. Neben Frauen* und sexuellen sowie geschlechtlichen Minderheiten unterdrückt die Islamische Republik seit Jahren verschiedene Gruppen wie religiöse, ethnische und nationale Minderheiten. Obwohl das Demonstrations- und Versammlungsrecht in der Verfassung verankert ist, hat die Islamische Republik außer ihren Anhänger*innen niemandem erlaubt, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Überall dort, wo sich Menschen spontan zu Protestversammlungen formierten, wurde ihnen gewaltsam begegnet. Deshalb sind viele feministische Aktivist*innen, Lehrer*innen und Arbeiter*innen seit Jahren im Gefängnis. Das alles zeigt, dass die Islamische Republik nur mit der gewaltsamen Unterdrückung der Bevölkerung sowie sozialer Bewegungen im Iran bis jetzt fortbestehen konnte.

Wie werden die Proteste in den kommenden Tagen weitergehen? Wie schätzt du ihre Erfolgschancen ein?

Ich glaube, dass, selbst wenn der Polizeistaat der Islamischen Republik es schafft, diese Proteste kurzfristig mit Gewalt zu unterdrücken, insbesondere die Frauen* gestärkt auf die Straße zurückkehren werden. Ich denke, es hat sich etwas im Kern der Gesellschaft grundlegend verändert.

Trotzdem ist die Situation der Menschen im Iran besorgniserregend. Die Berichte und Bilder, die wir aus dem Iran sehen, zeigen, dass die Gewaltbereitschaft der Polizei und Sicherheitskräfte immens ist. Sie schießen sehr leichtfertig auf Menschen und nehmen Massenverhaftungen vor. Sie weigern sich, die Leichname der Ermordeten ihren Familien zu übergeben, und setzen die Familien der Toten und Gefangenen unter Druck, nicht über ihre Angehörigen zu sprechen. Außerdem behaupten sie wie üblich, dass die Proteste von außerhalb des Iran initiiert wurden, und dass die Demonstrierenden mit westlichen Streitkräften verbundene Spion*innen sind. Viele Journalist*innen und feministische Aktivist*innen wurden verhaftet und wir wissen nicht, wie es ihnen geht und wo sie sich aufhalten. Außerdem machen wir uns große Sorgen um Städte in der Peripherie, insbesondere in Kurdistan. In diesen Gebieten war die staatliche Gewalt schon immer viel höher, und wir sind besorgt über Ereignisse, die uns im Moment möglicherweise nicht bekannt sind.

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen im Iran trotz alledem die Straßen nicht verlassen haben und immer noch mit großem Mut protestieren. Ich glaube, es ist ein Punkt erreicht, an dem es trotz der Repressionen für die Islamische Republik kein Zurück mehr gibt.

An dieser Stelle taucht natürlich die Frage auf, wie die internationale Gemeinschaft auf die Gewalt reagieren soll. Wie siehst du also zunächst mal die Rolle der feministischen Linken in Europa? Wie sollte sie sich positionieren?

Die europäische Linke war bisher nicht in der Lage, eine erfolgreiche Protestbewegung in Solidarität mit den Menschen in Westasien und Nordafrika (WANA) zu bilden und die Wirtschaftsabkommen der westlichen Regierungen mit den repressiven Regierungen der Region wie der Islamischen Republik zu verurteilen. Der europäische linke Feminismus hat die Bedeutung der Frage nach transnationaler Solidarität im Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen* und sexuellen sowie geschlechtlichen Minderheiten im Iran ignoriert und alles auf den Kampf gegen den Kapitalismus begrenzt. Dagegen glauben viele Linke in WANA, dass Kapitalismus, Neoliberalismus und Geschlechterunterdrückung in der Region eng mit dem politischen Islam verbunden sind und gleichzeitig bekämpft werden müssen. Der Kampf gegen jede dieser Dimensionen erfordert auch einen Kampf gegen die anderen Dimensionen. Stattdessen wird aber von einem großen Teil europäischer linker Feminist*innen die Frage des obligatorischen Hidschabs, die eine der grundlegenden Fragen im Iran ist und dort eine tiefe Verbindung zum politischen Islam hat, als ein «kulturelles» Problem angesehen. Aus Angst vor islamfeindlichen Diskursen in Europa werden die Ausmaße der Gewalt, die durch den obligatorischen Hidschab auf den Körper von Frauen* ausgeübt wird, ignoriert und nicht offen diskutiert. Obwohl uns bewusst ist, dass islamfeindliche und rechte Gruppen in Europa unsere Kämpfe möglicherweise missbrauchen und wir sicherlich auch dagegen ankämpfen werden, bezeichne ich diese verharmlosende Perspektive als ebenso eurozentrisch wie apolitisch. Sie wird der Komplexität und Kontextualität der Hidschab-Frage nicht gerecht. In diesen Tagen protestieren im Iran nämlich viele verschleierte Frauen* neben unverschleierten Frauen* auf den Straßen. Zudem bin ich der Meinung, dass die linken Bewegungen und der linke Feminismus Europas nicht ausreichend versuchen, mit den feministischen und linken Bewegungen in WANA zu kommunizieren oder das von ihnen produzierte Wissen zu lesen. Dieses Wissen wird für den europäischen linken Feminismus erst wichtig, wenn es sich als der Tradition der postkolonialen Theorie zugehörig bezeichnet, eine Denktradition, die aus meiner Sicht im Westen längst ihr politisches Potenzial verloren hat. Zusammenfassend kritisiere ich, dass für die Linke und den linken Feminismus Europas das Zentrum im Westen zu liegen und jedes Thema erst an den Grenzen Europas wichtig zu werden scheint.

Dass viele Frauen im Iran den obligatorischen Hidschab und den politischen Islam bekämpfen, scheint beispielsweise nicht so attraktiv für die europäische Linke, weil dieser Kampf der Definition des europäischen linken Feminismus von Unterdrückung nicht entspricht.

Deshalb fordern wir von der linken feministischen Bewegung in Europa, endlich unsere Stimmen zu hören, unsere Forderungen zu sehen und von der Radikalität unserer Kämpfe zu lernen.

Und wenn wir über die Zivilgesellschaft hinaus auf die Rolle der europäischen Regierungen blicken: Wie bewertest du ihr Handeln? Was müssen sie jetzt tun?

In der Vergangenheit haben die europäischen Regierungen die Frage der Menschenrechtsverletzungen im Iran den wirtschaftlichen Interessen Europas untergeordnet. Grundrechte stehen seit Jahren im Schatten staatlicher Wirtschafts- und Sicherheitsvereinbarungen wie dem Atomabkommen mit dem Iran. Selbst Sanktionen beschränken sich meist auf Wirtschaftssanktionen, die offensichtlich das Leben der einfachen Menschen und nicht das der Regierungsbeamten betreffen. Zum Beispiel müssen iranische Studierende monate- und sogar jahrelang arbeiten, um ein Visum zu bekommen und ihr Studium in Europa fortzusetzen, während Familien iranischer Politiker*innen problemlos in den Westen migrieren und dort ein sehr luxuriöses Leben führen können. In diesen Tagen der Massaker an der protestierenden Bevölkerung ist es dem derzeitigen Präsidenten der Islamischen Republik erlaubt, seine Reden vor der UN in New York zu schwingen.

Die iranische Bevölkerung ist verärgert über Europas «politische Neutralität». Natürlich lehnen wir vom Imperialismus geleitete militärische Interventionen, wie sie damals in Afghanistan und dem Irak geführt wurden, ab. Das bedeutet aber keineswegs, dass Europa sich zurücklehnen kann. Das Abberufen europäischer Botschafter*innen aus dem Iran und das Ausüben von Druck auf iranische Botschaften in Europa sind beispielsweise Wege, wie sich Europa eindeutig positionieren könnte. Verantwortungsträger*innen des Regimes sollten zudem vor internationalen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden. Das Thema Menschenrechte muss priorisiert werden.

Europa muss einsehen, dass das Wesen und das Überleben der Islamischen Republik von Repressionen abhängen. Es darf die Islamische Republik nicht durch sein Schweigen und seine Kooperation indirekt unterstützen. Wenn zum Beispiel europäische Politikerinnen* in den Iran reisen, tragen sie auf Wunsch der Islamischen Republik den Hidschab, ohne zu wissen, wie sie dadurch die Geschlechterapartheid und die Kontrolle über den weiblichen Körper normalisieren. In einer Situation, in der iranische Frauen* seit Jahren gegen den obligatorischen Hidschab kämpfen, fügen sie sich so der patriarchalen Herrschaft der Islamischen Republik. Was für sie eine kurze und vielleicht sogar «exotische» Erfahrung ist, erinnert iranische Frauen* an die jahrelange Unterdrückung und Gewalt.Wenn Europa will, kann es die Islamische Republik boykottieren und sie dazu zwingen, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Deshalb wollen wir, dass die Menschen in Europa von unten Druck auf ihre Regierungen ausüben, damit sie statt einer Politik unter dem Joch wirtschaftlicher Vorteile und Allianzen eine Politik der Solidarität mit der Protestbewegung im Iran anstreben, die den Willen der Menschen vor Ort respektiert.