Am 8. Juli dieses Jahres brachte Yolanda Díaz, Zweite Vizepräsidentin der Regierung von Spanien und Arbeitsministerin, ihr politisches Projekt «Sumar» (dt. summieren oder zusammenfassen) mit einer zentralen Botschaft auf den Weg: Sumar ist weder als Partei noch als Summe mehrerer Parteikürzel gedacht, sondern konstituiert sich als «Bürgerbewegung», der es darum geht, «die Demokratie auszuweiten» und «ein Land für das kommende Jahrzehnt aufzubauen».
María Corrales ist Journalistin, Politologin, Analystin für verschiedene Medien und Kolumnistin für Público und Sentir Crític. Derzeit arbeitet sie als Beraterin im Parlament von Katalonien für En Comú Podem.
Als Methodik wurde eine für diese Plattformen typische gewählt: eine Reise der galizischen Politikerin durch den gesamten spanischen Staat, um mit der Bevölkerung einen «Prozess des Zuhörens» einzuleiten. Gleichzeitig sind verschiedene bereichsbezogene Arbeitsgruppen unter unabhängiger Leitung damit beauftragt, das Programm und den ideologischen Rahmen abzustecken. Die Umrisse dieses politischen Projekts lassen sich mit Blick auf das politische Handeln von Díaz bislang nur erahnen.
Allerdings verraten uns die wesentlichen Botschaften von Díaz und ihr Werdegang weit mehr über die Analyse und die politischen und strukturellen Ziele der derzeitigen Vizepräsidentin der spanischen Regierung, als es auf den ersten Blick scheint. Grund genug, sie diesem Artikel zugrunde zu legen.
Sumar als Bürgerbewegung
Die Hintergründe, warum Díaz Sumar sich deutlich von den traditionellen Parteien abzugrenzen sucht, sind vielschichtig. Erstens möchte sie auf diese Weise der Politikverdrossenheit begegnen, die seit der letzten Wahlwiederholung 2019 in der spanischen Öffentlichkeit vorherrscht. Diese Politikverdrossenheit ist eine unmittelbare Folge der unerfüllten Erwartungen der Bürger*innen nach dem Ende der Proteste in Spanien in den Jahren 2011 und 2012 (Movimiento 15-M – Bewegung 15. Mai) und der Stagnation von Unidas Podemos als treibende Kraft der Mobilisierung.
Bemerkenswert ist, dass das öffentliche Forschungsinstitut Centro de Investigaciones Sociológicas selbst in Zeiten des Kriegs in der Ukraine und der sich daraus ergebenden Energie- und Sozialkrise die politischen Probleme weiter als zweitwichtigstes Anliegen der Bürger*innen im Land einstuft. Diese Tendenz hat sich in den letzten drei Jahren unverändert fortgesetzt und erreichte im Januar 2020 ihren historischen Höhepunkt. Diese Stimmung hat auch noch eine andere Seite, nämlich dass die Mobilisierung der Bürger*innen schon Monate vor Pandemiebeginn auf einem Tiefpunkt angekommen war – was Díaz mit ihrem klar anti-avantgardistischen Parteienverständnis seit jeher mit Sorge erfüllt. So erklärte die treibende Kraft hinter Sumar jüngst in einem Interview für Jacobin, eine der wesentlichen Herausforderungen ihres Projekts bestehe darin, die «Bürger*innen zu mobilisieren», wie es etwa in letzter Zeit in Chile oder Kolumbien geschehen sei.
Als zweites Ziel verfolgt die Arbeitsministerin mit diesem Aufruf den Aufbau einer soliden organisatorischen Basis, die zur zentralen Plattform der anderen politischen Formationen werden soll: von Podemos, Izquierda Unida, Catalunya en Comú, Compromís und Más Madrid. Hintergrund ist, dass Yolanda Díaz von Pablo Iglesias als Nachfolgerin für den Vorsitz von Unidas Podemos und die Vizepräsidentschaft aufgestellt wurde, ohne von dieser Entscheidung zu wissen. Von diesem taktischen Zug hatte sich der ehemalige Vorsitzende der sogenannten violetten Formation (formación morada) erhofft, dass Podemos diese Plattform für eine Neustrukturierung des politischen Raums werden könnte. Allerdings stellte sich heraus, dass die neue Vizepräsidentin weit davon entfernt war, diese Bedingungen zu akzeptieren – machte sie doch von Anfang an klar, dass sie, sobald sie freie Hand habe, um über ihr Team und Projekt zu entscheiden, selbst die Führung übernehmen werde.
Es ist genau dieses Element, das am deutlichsten zu öffentlichen Spannungen führt. Die Emanzipation von Yolanda Díaz und ihre Annäherung an jene, die wie Íñigo Errejón von Más Madrid einst Podemos den Rücken kehrten, kommt in den Reihen der Violetten alles andere als gut an. Zumal sie sich den Verdienst zuschreiben, mit der PSOE zum ersten Mal seit der Zweiten Spanischen Republik die Linke in die spanische Regierung gebracht zu haben. Dabei ist es kein Geheimnis, dass sich die derzeitige Arbeitsministerin, die zu jener Zeit die Marke Podemos in Galizien anführte, gegen die Wahlwiederholung aussprach. Das hatte letztlich zur Folge, dass Pedro Sánchez nachgeben und die Bedingungen von Pablo Iglesias akzeptieren musste – etwas, das der ehemalige Vizepräsident in seiner neuen Rolle als Kommentator und Moderator in seiner Sendung «La Base» immer wieder anspricht.
In diesem Sinne ist der Weg, den Yolanda Díaz den übrigen politischen Kräften anbietet, weit entfernt von der «breiten Front» bzw. der Parteienkoalition, die Unidas Podemos einst forderte. Vielmehr sollen sie sich Sumar einzeln anschließen und ihre jeweiligen Parteikürzel außen vor lassen. Dabei liegt auf der Hand, dass keine der Strukturen, die dazu aufgerufen sind, sich in Sumar zu integrieren, ihre eigene Auflösung hinnehmen wird – was Díaz natürlich auch klar ist. Das lässt vermuten, dass wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach in einer ersten Phase befinden, in der es Sumar darum geht, personelle und organisatorische Stärke aufzubauen, um anschließend mit allen weiteren Akteur*innen verhandeln zu können und so dem Format eines Konglomerats aus lauter Kürzeln zu entkommen – wie es bei den letzten Regionalwahlen in Andalusien zu einem verheerenden Misserfolg geführt hat.
Andererseits sind die Differenzen zwischen der von Ione Belarra, Ministerin für Soziale Rechte, geführten Podemos und der Arbeitsministerin nicht allein auf eine Wahlfrage beschränkt. Vielmehr manifestieren sie sich auch auf der strategischen Ebene, etwa wenn es um die Beteiligung an der Regierung geht. Während Díaz in entscheidenden Fragen wie der internationalen Politik Pedro Sánchez treu ist, hat sich Belarra für einen Konfrontationskurs gegenüber der Sozialistischen Partei (Partido Socialista) entschieden, damit sich die politische Identität ihrer eigenen Partei nicht im Handeln der Exekutive auflöst. Die Arbeitsministerin hingegen vermeidet solche Konfrontationen und hütet sich, die Arbeit der Regierung insgesamt in Frage zu stellen. Etwa dadurch, dass sie den Wert bestimmter Maßnahmen der Regierung betont, die sie – nicht ohne Schwierigkeiten – durchsetzen konnte. Damit präsentiert sie sich als gemeinsame Führungspersönlichkeit statt sich auf eine bestimmte Seite zu schlagen. Bei dieser Strategie zählt Díaz auf die Unterstützung von Izquierda Unida – sowohl von Alberto Garzón, der für das Ressort für Verbraucherangelegenheiten zuständig ist, als auch von Enrique Santiago, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE).
Die Demokratie ausweiten
Wenn Yolanda Díaz erklärt, die Demokratie ausweiten zu wollen, verfolgt sie damit zwei grundlegende Richtungen: Erstens geht es ihr darum, die spanische Transición [den Übergang vom Franquismus zur parlamentarischen Demokratie, Anm. d. Ü.] von 1978 nicht anzufechten, und zweitens will sie – ausgehend vom Protagonismus der Klassengewerkschaften im spanischen Staat – den Kampfplatz von der formalen Demokratie auf die Wirtschaftsdemokratie ausweiten.
Um Díaz’ Haltung zur Wiederherstellung der Demokratie im spanischen Staat zu verstehen, ist ein Blick auf ihre familiären Wurzeln und ihre Vergangenheit als Anwältin für Arbeitsrecht aufschlussreich. Die Anführerin von Sumar ist die Tochter von Suso Díaz, einem früheren galizischen Gewerkschafter und einstigen Sekretär der Gewerkschaft Comisiones Obreras (Arbeiterkommissionen), der die letzten Jahre der Franco-Diktatur im Gefängnis verbrachte. In dieser Tradition fühlt sie sich den Mobilisierungen verbunden, die sich für die Durchsetzung der Demokratie im spanischen Staat einsetzten und es schon immer kritisch sahen, dass einige Sektoren von Podemos die Erfolge der Transición nicht würdigten. Während also die Transición in den neuen Generationen der Linken seit jeher als transformistischer Prozess galt, in dem man dem alten Franco-Regime nachgegeben habe, wird in der Tradition der großen Gewerkschaften und der PCE von Santiago Carrillo ihre konsensorientierte Rolle betont.
Ob es nun auf ihre Familiengeschichte oder Díaz’ eigene Mitgliedschaft in der PCE zurückzuführen ist, wobei sie allerdings den Positionen von Julio Anguita immer näherstand als denen von Santiago Carrillo – Fakt ist, dass sie zu der Linken, die die Transición herbeiführte, in einer ganz anderen Beziehung steht als Pablo Iglesias und Íñigo Errejón. Und so kommt es, dass Díaz in ihrem Diskurs nicht mit ’78 bricht, sondern vielmehr versucht, einen Bogen zu den demokratischen Impulsen jener Zeit zu spannen. Damit schlägt sie einen neuen Sozialvertrag vor, der sich seinem Erbe stellt und in dem die Rentner*innen von heute mit ihrem Beitrag eine Schlüsselrolle spielen.
Das führt so weit, dass die beiden wichtigsten vom Arbeitsministerium verabschiedeten Maßnahmen, die Regelungen zur Kurzarbeit (ERTEs) und die neue Arbeitsreform, im Rahmen des sozialen Dialogs vereinbart wurden, sprich mit Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Das entspricht genau dem Kern der politischen Kultur der Transición: dem Konsens. Mit dieser Position, die dem Führungsstil von Yolanda Díaz zugrunde liegt, konnte sie ihr Profil um einige Eigenschaften wie einen transversalen Blick und eine klare Ausrichtung erweitern, mit denen die derzeitige Vizepräsidentin eine derartige Beliebtheit erreichte, dass sie zum am meisten geschätzten Mitglied der Regierung von Pedro Sánchez wurde.
Was das von Sumar angestoßene Projekt angeht, so ist insbesondere auf die Rolle der Mehrheitsgewerkschaften CCOO (Comisiones Obreras) und UGT (Unión General de Trabajadores) zu verweisen. Auch die Gewerkschaften blieben im spanischen Staat nicht von der Krise der repräsentativen Demokratie und der Kritik an der Bewegung 15. Mai verschont und zählten daher nie zum zentralen Kern der Allianzen der frühen Podemos. Vielmehr konzentrierte sich die Partei unter Pablo Iglesias auf die neuen Formen der Klassenorganisation, die enger mit dem Prekariat und den sozialen Bewegungen verbunden waren und der traditionellen Gewerkschaftsbewegung zudem sehr kritisch gegenüberstanden, weil sie ehrgeizigere Ziele verfolgten.
Ein Jahrzehnt später ist die Gewerkschaftsbewegung – insbesondere die CCOO, aber auch neue Formen der Arbeiterorganisation – zu einer der wichtigsten Akteur*innen geworden, was die Unterstützung von Yolanda Díaz angeht. Yolanda Díaz hat ihrerseits die Demokratie in den Unternehmen und die Rechte der Arbeitnehmer*innen zu den Grundpfeilern ihrer politischen Idee gemacht. So forderte Díaz beispielsweise im Gespräch mit dem bekannten Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, die Arbeitnehmer*innen in Unternehmensentscheidungen einzubeziehen und dem spanischen Geschäftsmodell, das sie als «monarchisch» bezeichnete, ein Ende zu setzen. Zudem verweist sie in der derzeitigen Inflationskrise immer wieder darauf, wie wichtig die Gewerkschaften als Hebel für die Anhebung der Löhne sind.
Diese neue politische Architektur, die von der Absetzbewegung der frühen Podemos abweicht, wurde bereits mehrfach als «neuer Laborismus» definiert. Diese politische Tradition, die ihre Wurzeln in England hat, konnte im spanischen Staat bislang keine nennenswerte Anhängerschaft finden. Einer der Gründe dafür ist, dass die spanischen Gewerkschaften niemals reine «Klassengewerkschaften» waren, sondern sich auch immer durch ihre Rolle als politische Akteurinnen charakterisierten – angefangen von der Transición bis hin zu ihrer Einbeziehung in das Entscheidungsrecht im Unabhängigkeitsprozess in Katalonien, um nur ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen.
Abgesehen von den allgemeinen Appellen an die Bürger*innen ist klar, dass Díaz vor allem die Arbeitnehmer*innen ansprechen will und weniger eine rein populistische Konstruktion des «Volkes», wie sie einst vor allem von den Anhänger*innen von Íñigo Errejón geprobt wurde. So erklärte die Arbeitsministerin in dem bereits erwähnten Interview für Jacobin:
«Wir alle sind Arbeitnehmer*innen: Wissenschaftler*innen, Ärztinnen und Ärzte, Reinigungskräfte; wir alle sind Arbeitnehmer*innen. Diese vielfältige Zusammensetzung, diese Universalität gegenüber der Figur des Rentiers, die viel weniger zahlreich ist, erlaubt uns, eine gemeinsame Agenda zu verfolgen und zu überlegen, wie wir stärker werden können. Daher setzen wir auf die Gewerkschaftsbewegung.»
Ein Land für das kommende Jahrzehnt
Und dann ist da noch der Aufruf von Sumar, «einen Plan für das Land für das kommende Jahrzehnt» aufzustellen – ein Vorhaben, das wie all seine Vorläufer die Idee eines Wahlprogramms und damit die direkte Bezugnahme auf Parteikonstrukte zu überwinden versucht und zwei grundlegende Ziele verfolgt: Erstens soll ein politischer Horizont umrissen werden, der über das derzeitige Kräfteverhältnis innerhalb der Regierung von Spanien hinausreicht, und zweitens geht es angesichts der allgemeinen pessimistischen Stimmung in einer von Pandemie, Krieg und Krise geprägten Zeit darum, Hoffnung und Optimismus zu verbreiten.
In diesem Sinne schlägt Yolanda Díaz einen Ton an, der weit mehr an den von Manuela Carmena erinnert, als diese Bürgermeisterin der Stadt Madrid war, als an den von Podemos und Pablo Iglesias, insbesondere seit den spanischen Parlamentswahlen von 2016. Während also der ehemalige Generalsekretär von Unidas Podemos das Motto «Decir la verdad» (Die Wahrheit sagen) ausgehend von einem direkten Stil und mit Fingerzeig auf die Medienmacht zu seinem Markenzeichen machte, hat sich seine Nachfolgerin dafür entschieden, die Unzufriedenheit durch einen Diskurs und bestimmte Formen zu kanalisieren, die sie selbst als «zustimmend» bezeichnet. Damit schließt sie sich der Analyse an, die einst von Íñigo Errejón vertreten wurde und der zufolge der radikale Charakter einer Formation nicht an der Härte ihrer Worte oder an ihrer Fähigkeit, «Bewusstsein zu wecken», gemessen werden kann, sondern an der Reichweite ihrer Maßnahmen und der Breite ihres Diskurses, wenn es darum geht, die Sympathien der größtmöglichen Anzahl von Menschen zu gewinnen.
Zweifellos ist Yolanda Díaz das letzte Mittel für den politischen Raum, der einst Unidas Podemos zusammenführte, um sich gegen die Wiederherstellung des Zweiparteiensystems zu wehren, das alle aktuellen Umfragen in Spanien vorhersagen. Doch schon jetzt ist klar, dass die erwähnte Ablösung von Pablo Iglesias keineswegs friedlich durch die Vereinigung aller Beteiligten in einer sogenannten «Front der Linken» erfolgen, sondern – wenn sie denn gelingt – mit einer Neugründung einhergehen wird, in deren Mittelpunkt eine neue Akteurin steht: Sumar.
In diesem Sinne ist noch nicht absehbar, wie die politischen und ideologischen Leitlinien aussehen werden, durch die sich dieses politische Projekt definieren wird. Bislang lassen sich die Konturen lediglich anhand von Díaz’ Handeln als Arbeitsministerin erahnen. Einige davon, beispielsweise die anti-avantgardistische Haltung und die Auseinandersetzung mit der Politikverdrossenheit, die zentrale Rolle der Arbeit und der Klassengewerkschaften, oder der Wille, identitäre Grenzen zu überwinden, indem eine direkte Konfrontation mit der Sozialistischen Partei vermieden wird, sind jedoch Leitlinien, die allem Anschein nach erhalten bleiben werden. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt – und das wissen auch Präsident Pedro Sánchez und die Sozialistische Partei: Beim Erfolg dieser Formel geht es nicht nur um das Überleben ihres Koalitionspartners, sondern um das der linken Regierung selbst, die bereits seit Monaten mit ansehen muss, wie die Rechten mit jeder Umfrage weiter zulegen.