Mit der Europa-Kandidatur des ehemaligen Frontex-Direktors Fabrice Leggeri für Le Pens «Rassemblement National» verschwimmen die Grenzen zwischen etablierter Politik und extremer Rechter immer weiter, meint David Broder.
Marine Le Pens Rassemblement National (RN) beanspruchte für sich lange Zeit eine Anti-Establishment-Haltung, die sich mit den Kategorien links und rechts vermeintlich nicht fassen lässt. Doch um an die Macht zu gelangen, muss die Partei auch Schlüsselfiguren aus den Institutionen für ihr Lager gewinnen. Einer davon war Thierry Mariani, ein Minister unter Nicolas Sarkozy, der heute für den RN im Europäischen Parlament sitzt. Am 17. Februar gab allerdings ein Funktionär von größerem Kaliber seine Absicht bekannt, Le Pens Fraktion beizutreten: Fabrice Leggeri, von 2015 bis 2022 Direktor der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex).
David Broder ist Europa-Redakteur der Zeitschrift «Jacobin» und forscht zur Geschichte des Kommunismus in Frankreich und Italien.
Leggeri ist ein Produkt der für Frankreich typischen Elitenreproduktion. Als Sohn eines Beamten nahm er nach dem Studium an der École normale supérieure und der École nationale de l’administration verschiedene Funktionen im Innenministerium ein. Zudem ist er noch nie in ein öffentliches Amt gewählt worden. Mit seinem dritten Listenplatz ist ihm der Einzug ins EU-Parlament dennoch gewiss, schließlich liegt der RN in Wahlumfragen bei 30 Prozent.
Leggeris Hinwendung zum RN veranschaulicht eine bittere Realität. Seit Jahrzehnten haben Politiker*innen der etablierten Parteien die Wählerschaft mit der Warnung mobilisiert, rechtsextreme Wortführer*innen wie Le Pen würden das europäische Projekt zerstören. Nun scheint es jedoch, als sei die angeblich aufziehende Gefahr längst in den Korridoren der Macht angekommen und baue die EU von innen um, statt einen vielfach gefürchteten «Frexit» voranzutreiben.
Von Frontex an den rechten Rand?
Als Leggeri seine Kandidatur verkündete, vermied er es, sich der einschlägigen Referenzen zu rühmen, die ihn als Mitglied des Establishments ausweisen. Von Le Journal du Dimanche – einem einstmals regierungsfreundlichen Blatt, das kürzlich jedoch vom rechtsextremen Medienmogul Vincent Bolloré aufgekauft wurde – ließ er sich mit den Worten zitieren, der RN sei «dazu entschlossen, der Migrantenflut entgegenzutreten, in der die Kommission und die Eurokraten kein Problem, sondern vielmehr ein Projekt sehen». Die Verdammung der «Eurokraten» aus dem Munde Leggeris war schon kurios: Immerhin leitete er selbst eine bedeutende EU-Agentur, deren Budget während seiner siebenjährigen Amtszeit von 143 auf 754 Millionen Euro jährlich angewachsen ist.
Leggeris Angriff auf die «Eurokraten» zielte auf diejenigen ab, die ihm bei seinem Aufstieg im Machtapparat Steine in den Weg gelegt hatten. Seine Amtszeit bei Frontex – die er Le Journal de Dimanche zufolge nutzte, um die Agentur «von einer kleinen humanitären Einrichtung in eine EU-Grenzpolizei umzuwandeln» – verlief keinesfalls reibungslos. Dies war einerseits seiner augenscheinlichen politischen Radikalisierung, andererseits aber auch der kritischen Überprüfung durch Linke sowie durch liberale Medien und verschiedene Menschenrechtsorganisationen geschuldet. Eine unter anderen von Le Monde und Der Spiegel in den Jahren 2020/21 initiierte Recherche förderte erdrückende Hinweise zutage, dass griechische Grenzbeamt*innen in diesem Zeitraum Tausende illegale «Pushbacks» durchführten. Um Migrant*innen an der Beantragung von Asyl zu hindern, zwangen sie diese, europäische Gewässer zu verlassen und überließen sie damit ihrem Schicksal auf hoher See. Dieselbe Recherche legte offen, dass sich Einheiten von Frontex und der deutschen Polizei an diesen Pushbacks beteiligten, und konfrontierte die EU-Grenzagentur mit dem Vorwurf, sie versuche, Beweise für ihr rechtswidriges Verhalten zu vertuschen.
Nach Berichten des Spiegel war es die mediale Berichterstattung über Leggeris Verhalten, bzw. über das Vorgehen von Frontex insgesamt, die ihn im Mai 2022 schließlich im Amt untragbar machten. Er hatte sich zu sehr dafür eingesetzt, auch bei Frontex den nach internationalem Recht illegalen Pushback-Ansatz der griechischen Regierung zum Standard zu erheben. Gleichwohl stellt dieser Konflikt die Idee von regelgebundenen EU-Institutionen in Frage, die sich bei Fehlentwicklungen selbst regulieren. Denn auch nach Leggeris Verabschiedung bleiben die Methoden von Frontex allem Anschein nach dieselben, und wer die Agentur dafür zur Rechenschaft ziehen will, sieht sich mit ungünstigem politischen Gegenwind konfrontiert. Sichtbar wurde dies, als die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly am 28. Februar 2024 im Guardian Frontex’ anhaltende Weigerung skandalisierte, Seenotrettungen durchzuführen, wobei sie sich auf eine Untersuchung der Adriana-Katastrophe berief, bei der im Juni 2023 600 Menschen starben, als sie versuchten, das Mittelmeer zu überqueren.
Warum «ungünstiger politischer Gegenwind»? Auf EU-Ebene lassen sich seit 2016 zunehmend Bemühungen feststellen, die Einwanderungszahlen dadurch zu drosseln, dass Menschen von vornherein am Betreten von europäischem Hoheitsgebiet gehindert werden, unter anderem durch die Auslagerung der Grenzüberwachung an Nicht-EU-Drittstaaten. Dieser politische Kurs ist kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten (mehr), sondern eine Politik, die von den höchsten Vertreter*innen der Macht ausgeht.
Letzten Sommer beteiligte sich Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, an einer Arbeitsgruppe mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und traf den tunesischen Präsidenten Kais Saied, um mit ihm über ein Abkommen zu Entwicklungshilfe und Grenzschutz zu verhandeln – von der Leyen taufte diese über das Mittelmeer hinausgreifende Mission auf den Namen «Team Europe». Ziel war es, Tunesien als eine Art präventiv handelnden Grenzgendarme dafür zu gewinnen, Migrant*innen an der Überfahrt zu hindern. Die rechtsradikale Spitzenpolitikerin Meloni führte das Vorhaben an und befindet sich in Europa keineswegs in einer Außenseiterrolle – auch wenn der Deal mit Tunis später platzte.
Der oft beschworene Gegensatz zwischen «Europäer*innen» und unverantwortlichen «Populist*innen» leuchtet immer weniger ein. Also, womit haben wir es nun zu tun? Erleben wir eine Rebellion der Wähler*innen gegen die «Eurokraten»? Oder rollt Europa der extremen Rechten den roten Teppich aus? Bei der Beantwortung dieser Frage hilft möglicherweise ein Blick auf die Bedingungen, die für die Integration rechtsextremer Kräfte in den institutionellen Mainstream geschaffen wurden.
Migration auslagern
Lehrreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich zwischen Le Pens Partei und dem weiter «fortgeschrittenen» Beispiel der italienischen radikalen Rechten. Als 1994 das erste Kabinett mit postfaschistischen Minister*innen die italienischen Regierungsgeschäfte übernahm, sorgte das in Brüssel für einen Aufschrei – doch mittlerweile hat man sich an deren Anwesenheit gewöhnt.
Tatsächlich erwecken Vertreter*innen des europäischen Mitte-rechts-Lagers häufig den Anschein, Meloni sei im Unterschied zu Le Pen keine Gefahr. Die dafür angeführten Gründe legen allerdings flexible Abgrenzungslinien nahe. Nehmen wir etwa das Beispiel des Geschäftsmannes Alain Minc, eines ehemaligen Sarkozy-Beraters, der auch als Mentor Emmanuel Macrons tätig war. Im Dezember 2023 bezeichnete er Meloni gegenüber France Culture als «faszinierend»: Sie habe «sich eingereiht» und sei dem «Kreis der Vernunft» beigetreten, wenn sie auch einige geschmacklose «symbolische Maßnahmen auf dem Gebiet der Sozialpolitik» zu verantworten habe. Die Frage laute, ob auch Le Pen dazu in der Lage sei, «wie Frau Meloni zu sagen: Das transatlantische Bündnis ist von grundlegender Bedeutung, das europäische Projekt ist von grundlegender Bedeutung, und Haushaltspolitik muss vernünftig bleiben». Benoît Bréville von Le Monde diplomatique kommentierte eine weitere Einlassung Mincs mit den Worten, «wer in Europa salonfähig werden will (…) muss sich in zwei Kardinaltugenden üben, in der Austerität und im Transatlantizismus».
Doch auch die Verteidigung der EU-Außengrenzen ist Voraussetzung, um in den «Kreis der Vernunft» aufgenommen zu werden. Fünf Tage nachdem Leggeri seine Kandidatur für die Wahl zum Europäischen Parlament bekannt gegeben hatte, fasste das albanische Parlament einen Beschluss, der als Schritt in die «europäische Zukunft» des Landes dargestellt wurde: Am 22. Februar ratifizierten die Abgeordneten ein Abkommen zwischen Meloni und Ministerpräsident Edi Rama, das es Italien erlaubt, zwei Abschiebelager auf albanischem Boden zu errichten, die jährlich 36.000 Migrant*innen «abfertigen» sollen. Der mit Unterstützung der Kommissionspräsidentin und beider Regierungen zustande gekommene Deal wurde von Amnesty International und Human Rights Watch als weiterer Fall kritisiert, in dem die EU die Internierung von Migrant*innen «auszulagern» drohe. Sie befürchten, dass Asylsuchende in diesen unter italienischer Gerichtsbarkeit stehenden Einrichtungen um Rechte gebracht werden, die ihnen auf europäischem Boden nominell zustehen.
Die von Rama als Muster europäischer Zusammenarbeit gepriesene italienisch-albanische Vereinbarung unterscheidet sich nicht nur von früheren (geschlossenen oder anvisierten) Abkommen der EU mit Drittstaaten wie der Türkei, Libyen oder Tunesien zur Überwachung des Mittelmeers, sondern auch von Entwürfen für die Zusammenarbeit mit weiteren Staaten des subsaharischen Afrika. Albanien wird nicht in erster Linie als Herkunfts- oder Transitstaat für Migrationsbewegungen in die EU aufgefordert, Menschen festzuhalten. Entscheidend ist vielmehr, dass seine Regierung sich bereit erklärte, in italienischen Hoheitsgewässern aufgegriffene Migrant*innen unabhängig von deren Fluchtrouten in Haft zu nehmen. Wie Richard Braude und ich kürzlich für Jacobin ausgeführt haben, ist Melonis Plan zudem mit dem Abkommen vergleichbar, dass Großbritanniens rechte Regierung mit Ruanda über die Internierung abgelehnter Asylbewerber*innen aus aller Welt geschlossen hat.
Doch während Großbritannien aus der EU ausgetreten ist, verkauft Albaniens nominelle Mitte-links-Regierung ihr Migrationsabkommen mit der EU als Schritt zum Beitritt in das Staatenbündnis. Letzten Donnerstag ließ Ministerpräsident Rama die Presse wissen, dass «Albanien durch seine Entscheidung, wie ein EU-Mitglied zu handeln, Schulter an Schulter mit Italien steht», und fügte hinzu: «Kein Land kann eine solche Herausforderung alleine meistern. Das kann nur ein stärkeres, mutigeres und in höherem Maße souveränes Europa, das sich selbst treu bleibt.»
Spanien, Griechenland und Portugal verstanden den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nach der Ablösung ihrer Diktaturen als Weg in eine demokratische Moderne; später wurde dieses optimistische Narrativ in den ehemaligen Ostblock-Staaten aufgegriffen. Heute hofft Albanien, in die EU aufgenommen zu werden, indem es zu derem ausgelagerten Grenzschutz wird. Europa war zwar nie ein universalistisches Projekt, doch mittlerweile scheint das Aussieben afrikanischer und arabischer Neuankömmlinge in wachsendem Maße zu einem europäischen Grundwert zu werden.
Bevorstehender Rechtsruck bei den Europawahlen
Diese migrationspolitische Wende bedeutet nicht notwendigerweise, dass Le Pens Partei kurz davorsteht, in den Reigen der institutionellen Macht auf EU-Ebene aufgenommen zu werden, oder es ihr leichtfällt, Melonis Beispiel zu folgen. Dafür müssten beträchtliche Hürden genommen werden und es bleibt unwahrscheinlich, dass dies im Zuge der diesjährigen Europawahlen geschieht. Allerdings lassen sich zwischen der gemäßigten und der extremen Rechten in der europäischen Politik definitiv Annäherungstendenzen beobachten, die einigen französischen Kommentator*innen zufolge auf eine union des droites hinauslaufen könnten – eine Allianz der verschiedenen Strömungen der Rechten.
Meloni, die von CNN als eine «neue Merkel» an der Spitze Europas begrüßt wurde, überbrückt heute die Spaltung zwischen einer «traditionellen» Christdemokratie, wie sie von der Europäischen Volkspartei (EVP) repräsentiert wird, und radikaleren rechten Kräften. Ausgehend vom italienischen Fall, wo Melonis Partei, die Forza Italia des späten Silvio Berlusconi und die regionalistische Lega aus dem Norden des Landes seit langem zusammenarbeiten (was die dortigen Medien als «Mitte-rechts»-Bündnis bezeichnen), wurde zuletzt viel über die Formierung eines «Bündnisses der Rechten» auf europäischer Ebene spekuliert.
Während diese Parole in den Regierungen Italiens, Finnlands, Schwedens und einiger spanischer Regionen bereits Gestalt angenommen hat, wird sie in Frankreich von den prominenten Einwanderungsgegner*innen Éric Zemmour und Marion Maréchal vertreten, deren Partei Reconquête über eine kleinere, bürgerlichere Wählerschaft als der RN verfügt. Reconquête zeigt sich nicht nur inspiriert von Melonis Strategie, sondern trat im Februar 2024 auch ihrer Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) in Brüssel bei.
Nicht all diese Kräfte lassen sich so leicht unter einen Hut bringen. Wie ich in der WOZ dargelegt habe, knüpft der EVP-Vorsitzende Manfred Weber strategische Verbindungen zu Teilen der radikalen Rechten, pflegt enge Beziehungen zu Meloni und hält zugleich den RN und die Alternative für Deutschland (AfD) auf Distanz. France 24 diktierte er im Mai 2023, Verbündete der EVP «müssen proeuropäisch sein. Sie müssen proukrainisch sein. Und sie müssen sich zum Rechtsstaat bekennen».
Die Umfragen deuten zwar auf einen scharfen Rechtsruck bei den Europawahlen im Juni hin, doch wird dies wahrscheinlich nicht zu einer rechten Mehrheit führen, die Webers Bedingungen erfüllen kann, wenn man ihn beim Wort nimmt. Eine Verbündung der EVP (oder der liberalen Fraktion Renew Europe) mit Le Pens Partei zeichnet sich auf EU-Ebene nicht ab, von einer Beteiligung der AfD ganz zu schweigen. Doch der RN könnte sich als wandlungsfähig erweisen, und gegenwärtig scheint sein europäischer Spitzenkandidat, Jordan Bardella, die Partei auf einen Kurs entschiedener Unterstützung für die NATO und die Ukraine bringen zu wollen.
Auch Webers «rote Linien» können auf kreative Weise uminterpretiert werden. Im Hinblick auf den wiederkehrenden Konflikt der Kommission mit Polens PiS-Regierung zeigte der russische Einmarsch in die Ukraine, dass Außenseiter*innen nicht unbedingt in ihrer Rolle bleiben müssen. Vor kurzem hatte die Kommission zehn Milliarden Euro aus EU-Töpfen, die für Ungarn bestimmt waren, eingefroren und diesen Schritt mit Bedenken in Bezug auf «Rechtsstaatlichkeit und Korruption» unter Viktor Orbáns Regierung begründet. Als die Kommission im Dezember 2023 bekannt gab, Orbán habe die Unabhängigkeit der Judikative «garantiert», sodass die Gelder nun fließen könnten, war dies offenkundig durch ihr Ansinnen motiviert, ihn für ein weiteres EU-Hilfspaket an Kiew zu gewinnen. Dass Orbán diese Maßnahme nach einem bis tief in die Nacht währenden Gipfeltreffen mit Meloni schlussendlich mittrug, wurde allgemein als triumphaler Beweis für deren Staatskunst gewertet. In regierungsnahen ungarischen Medien wird nun über einen Beitritt der Órban-Partei Fidesz zur EKR nachgedacht, was in Melonis Fraktion jedoch auf Widerstand stößt.
Die italienische Journalistin Francesca De Benedetti sieht hier ein «doppeltes Spiel» Melonis, die zwar Allianzen mit der EVP schmiede und ihr politisches Kapital einsetze, um Orbán ins Boot zu holen – gleichzeitig jedoch darauf bedacht sei, die potenziellen Rival*innen der Fraktion Identität und Demokratie im Europäischen Parlament außen vor zu halten. Doch wie der Fall Frontex zeigt, sollten wir Angriffe auf die Rechtstaatlichkeit nicht nur von vermeintlichen Außenseiter*innen erwarten. Während sich die griechische Nea-Dimokratia-Regierung der Unterstützung durch die Finanzpresse und die Europäische Zentralbank erfreut, lässt sie führende Oppositionspolitiker*innen abhören. Alarmierend sind auch der unaufgeklärte Mord an dem Journalisten Giorgos Karaivaz und die Rolle der griechischen Regierung bei Pushbacks. Auf Drängen der europäischen Fraktion The Left/Die Linke sprach das EU-Parlament am 7. Februar eine Rüge gegenüber der griechischen Regierung aus, deren Partei der EVP angehört.
Neue rechte Allianzen
Als Bardella, der europäische RN-Spitzenkandidat, im Dezember nach Florenz reiste, um die Lega von Matteo Salvini (Melonis Stellvertretender Ministerpräsident, der zugleich ein führender Kopf der konkurrierenden Fraktion Identität und Demokratie ist) zu unterstützen, löste dies zahlreiche Diskussionen über neue Allianzen auf europäischer Ebene aus. Salvini brachte erneut die Idee eines «vereinten Mitte-rechts-Blocks in Brüssel» auf, der in Europa «die Führung übernimmt». Damit meinte er ein Bündnis rechter Kräfte nach Vorbild der amtierenden italienischen Regierung. Wie unschwer zu erkennen war, sollte dieser Vorstoß die Unzufriedenheit der Rechten mit Meloni schüren und die «Absprachen» konservativer Kräfte mit der gemäßigten Linken in Brüssel bloßstellen. Doch eine offizielle politische Allianz, die von Macron über Zemmour bis zum ehemaligen Frontex-Direktor Leggeri alle vereint, bleibt als Resultat der diesjährigen Wahlen unwahrscheinlich.
Eine Partei wie jene von Le Pen kann jedoch auch dann beträchtlichen Einfluss ausüben, wenn sie nicht Teil der in Brüssel herrschenden Koalition ist. In Frankreich verabschiedete Macrons Regierung erst im Januar Gesetze zum Grenzschutz. Sie wären ohne die Unterstützung Le Pens nicht möglich gewesen, die ihre Zustimmung erfolgreich an eine weitreichende Überarbeitung des Gesetzesentwurfs geknüpft hatte.
Wir sollten uns vermutlich von der Vorstellung verabschieden, im Umgang mit der extremen Rechten gäbe es Tabuthemen und Brandmauern, denn in der Realität existieren sie nicht. Es sieht ganz danach aus, als werde von der Leyen mit zumindest einigen Stimmen aus Melonis EKR-Fraktion als Kommissionspräsidentin wiedergewählt werden – Parteien, die noch vor wenigen Jahren als völlig inakzeptabel galten. Bei Abstimmungen zu allen möglichen Themen von der Umwelt- bis zur Migrationspolitik konnten sich Ad-hoc-Allianzen bilden, durch die diese Kräfte nach und nach in den «Mainstream» integriert wurden.
Man könnte dies auch als eine Geschichte lesen, in der die etablierten Kräfte die Rechtsradikalen bremsen, indem sie Webers Strategie der roten Linien anwenden. Dabei geht es nicht nur um das Mantra von «Transatlantizismus und Austerität» – immerhin hat sogar Le Pen aufgehört, die Verschwörungstheorie des «großen Austauschs» zu bedienen. Le Pen und ihr Parteikollege Bardella verstanden es auch, den Krieg in Gaza dafür zu nutzen, sich als Gegner*innen des Antisemitismus in Szene zu setzen und damit ihre Eignung für den republikanischen Mainstream zur Schau zu stellen.
Es würde allerdings zu kurz greifen, die «Einbeziehung in den Mainstream» mit «Mäßigung» gleichzusetzen, so als gäbe es ein unverrückbares Gravitationszentrum der europäischen Politik, zu dem alles naturgemäß hinstrebt. Wieder zeigt der Blick auf das Thema Migration, dass sich die Mitte selbst radikalisiert hat: Das einst umstrittene Ansinnen, durch eine Auslagerung des Grenzschutzes eine militarisierte Festung Europa zu errichten, deren Mitgliedstaaten es obliegt, «sichere» Drittstaaten für Abschiebungen individuell zu definieren, ist mittlerweile hegemonial.
Und die Opposition? Das Panorama ist ernüchternd, sowohl mit Blick auf die Bekämpfung der rechten Hegemonie, als auch mit Blick auf den gesellschaftlichen Rückhalt für eine Alternative. Der fromme Wunsch, proeuropäische Werte könnten als wirksames Gegengift zum «Souveränismus» dienen – eine in den 2010er Jahren weit verbreitete Illusion –, geht an den wirklichen Kräfteverhältnissen vorbei. Rechte Parteien, die in den europäischen Institutionen verankert sind, können tödliche Grenzüberwachung mit dem Zufluss billiger, migrantischer Arbeitskräfte ohne Aufenthaltstitel, die auf diese Weise umso leichter erpresst und diszipliniert werden können, miteinander vereinbaren.
Davon abgesehen hat sich die gemäßigte Linke auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Sogar das vielversprechendste europäische Beispiel, die spanische Regierung – die einige beachtliche Maßnahmen zur Eindämmung der Lebenshaltungskosten vorzuweisen hat und starke Worte gegen Israels Krieg in Gaza bemühte (denen allerdings keine Taten folgten) – schweigt zur Tötung von Migrant*innen an den spanischen Außengrenzen im Mittelmeer.
Die radikalere Linke steht vor einer grundsätzlichen Frage. Manon Aubry von der linken Fraktion im EU-Parlament konstatierte kürzlich in einem Interview mit Euractiv, dass wir gegenwärtig eine Annäherung zwischen der politischen Mitte, der Rechten und sogar extrem rechter Kräfte erleben, das linke Lager derweil aber gespalten bleibt. Aubrys Einschätzung zufolge läuft Macrons Regierung Gefahr, durch ihre unpopulären Reformen und das Aufgreifen von RN-Schlagworten Le Pen für die 2027 anstehende Präsidentschaftswahl den Teppich auszurollen.
Der Wunsch nach einem dritten Pol, der unabhängig von der Mitte und der extremen Rechten ist, hat in Europa hier und da zu Wahlerfolgen der Linken geführt – und in einigen Fällen zu neuen Allianzen zwischen jungen Prekären, Beschäftigten in den Dienstleistungsbranchen und Teilen der traditionellen sozialdemokratischen Basis. Es gelang jedoch kaum, das allgemeine politische Gravitationszentrum zu verschieben oder den Prozess aufzuhalten, durch den die Politik zu einem Wettstreit zwischen verschiedenen mediengesteuerten Kampagnen wird, die sich den Werten des Individualismus und des Unternehmertums verschrieben haben und mehr oder weniger stark mit einer nationalistischen Identitätspolitik verbunden sind.
Das Problem der Linken beschränkt sich daher nicht darauf, dass es uns nicht gelingt, die falschen «sozialen» Versprechen von Meloni, Le Pen oder der AfD zu entlarven. Genau genommen tun wir das andauernd. Doch deren spezifische Lösungsansätze (Steuersenkungen für Beschäftigte, Abbau von Umweltauflagen für Unternehmen, Dämonisierung von Migrant*innen) entsprechen den Erwartungen großer Teile der Lohnabhängigen, die ihrerseits solidarischen gesellschaftspolitischen Ansätzen und kollektivem Handeln skeptisch begegnen.
Vielsagend war die Haltung von Le Pens Partei gegenüber der französischen Reform des Renteneintrittsalters: Sie lehnte Macrons Vorhaben ab, rief jedoch nicht dazu auf, an der Bewegung gegen die Reform teilzunehmen. Der massive Widerstand gegen die Reform offenbarte, dass die extreme Rechte kaum als einzige dynamische Kraft der französischen Politik gelten kann. Dass die Bewegung letztlich eine Niederlage erlitt, spielte jedoch Le Pen in die Hände: Macron setzte die Reform unter Missachtung des öffentlichen Willens durch, die Linke und die Gewerkschaftsbewegung trugen nicht den erhofften Sieg davon, während der RN seine nonkonformistische Pose beibehielt.
Der Karrierebeamte Leggeri trommelt nun unter dem Banner dieser rechtsextremen Partei gegen «Eurokraten». Selbst aus linker Perspektive ist es leicht, angesichts der grotesken Komplizenschaft von Vertreter*innen der etablierten Parteien und der extremen Rechten in Zynismus zu verfallen. Aufrufe, sich in letzter Minute zusammenzutun, um Europa gegen «gefährliche Rechtspopulist*innen» zu verteidigen, klingen immer hohler in Anbetracht der Tatsache, dass Figuren wie der ehemalige Frontex-Direktor im bestehenden Status Quo gut Platz finden.
Die schwierige Aufgabe der Linken besteht eher darin, eine unabhängige Gegenmacht aufzubauen, die sowohl dem gegenwärtigen EU-Mainstream, als auch jenen trotzt, die die Mitte noch weiter nach rechts verschieben wollen. Dafür muss sie den Defätismus überwinden, indem sie sie sich eine Unterstützungsbasis in der Gesellschaft aufbaut – und Dutzenden Millionen Menschen zeigt, dass gemeinsames Handeln konkrete Veränderungen herbeiführen kann.
Übersetzung aus dem Englischen von Maximilian Hauer und Camilla Elle für Gegensatz Translation Collective.