Das Bedürfnis, die Erfahrungen der Covid 19-Pandemie geschichtswissenschaftlich einzuordnen, zeigt sich dieser Tage in unzähligen Publikationen und Konferenzen und motivierte auch die diesjährige ITH sich mit den Auswirkungen von Katastrophen auf die «Arbeiterinnen und Arbeiter, die organisierte Arbeit und die Arbeitsbeziehungen» zu befassen.
Dabei spielte die Frage von Verschärfungen im Bereich der Sorgearbeit eine zentrale Rolle: Im Eröffnungsvortrag berichtete Louisa Acciari (London) von Hausangestellten in Lateinamerika, die von Jobverlust, mangelhaftem Gesundheitsschutz und Gewalt betroffen und besonders armutsgefährdet seien. Das Beispiel der International Domestic Workers Federation demonstrierte dabei, dass die Gewerkschaft in der Krise selbst Funktionen der Sorge übernahm. Ähnlich ging es bei der Abendveranstaltung mit Anna Fox und Anna Leder um Auswirkungen der Pandemie auf sogenannte 24-Stunden-Arbeiterinnen, migrantische, temporär im Haus lebende Pflegekräfte, für die sich der Arbeitsaufenthalt durch die Pandemie auf unbestimmte Zeit verlängerte.
Leonie Karwath ist Historikerin und Redakteurin bei Arbeit - Bewegung - Geschichte. Zeitschrift für historische Studien.
Im Vergleich mit historischen Epidemien wurde deutlich, dass der Einfluss von Katastrophen auf gesellschaftliche Verhältnisse nicht überschätzt werden sollte: Daniel Curtis (Rotterdam) stellte anhand von zwei niederländischen Beispielen heraus, dass vormoderne Epidemien nur temporär zu einer Verringerung sozialer Ungleichheit geführt hatten und führte somit den Unterschied zwischen kurzfristigen und langfristig-strukturellen Auswirkungen einer Katastrophe ein. David Arnold (Warwick) zeigte, dass auch zeitlich nah aneinander liegende Epidemien mit vergleichbar hoher Mortalität, wie die Pest und die Influenza in Indien sich durch recht unterschiedliche Strategien von Arbeiter:innenklasse und Staat gekennzeichnet waren. Michael Pammers (Linz) Beitrag demonstrierte, anhand eines Ausbruchs der Spanischen Grippe in Linz 1918, welche Daten sich aus Totenbüchern über Risikofaktoren für Sterblichkeit erschließen lassen.
Die Vorträge von Elif Irem Az (New York) sowie von Clement Masakure (Bloemfontein) und Duncan Money (Leiden) erweiterten im zweiten Panel anhand von Bergwerksunglücken in der Türkei bzw. in Simbabwe die Perspektive auf die zeitliche Wahrnehmung von Katastrophen: Fehlende Sicherheitsvorkehrungen und eine Gleichgültigkeit gegenüber den Leben der Arbeiter beginnen weit vor dem «Unfall» und für die Verunglückten verlängert sich die Katastrophe in ihren Kämpfen um Anerkennung und Kompensation. Politische Folgen der Industriekatastrophe im indischen Bhopal untersuchte Dorothea Hoehtker (Genf) am Beispiel der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO): Diese bildete einen wichtigen Einschnitt in existierende Debatten um Umweltfragen, und führte zu Konventionen über Chemikalien und Unfallprävention.
Interdisziplinär wurde es auf den Panels zu Covid-19: Camille Buat (Paris/Göttingen) ordnete die Situation indischer Arbeitsmigrant:innen, welche während der Pandemie viel Aufmerksamkeit bekommen hatte, da sie der Möglichkeit zur Rückkehr beraubt worden waren, historisch in ihre sich verändernden Rolle im postkolonialen Indien und die Geschichte sozialer Staatsbürgerschaft ein. P. K. Viswanathan (Coimbatore) stellte außerdem Folgen der Pandemie – verlorene Arbeitstage, verspätete oder ausbleibende Löhne und eine hohe Covid-Rate – auf Plantagenarbeiter:innen im indischen Teesektor vor. Die soziologischen Beiträge von Ayça Yılmaz Deniz (Istanbul) und Özlem Ilyas (Istanbul) untersuchten in ähnlicher Weise das Gefühls- und Sinnerleben hochqualifizierter Beschäftigter während der Pandemie, von Gefühlen der Überforderung und Depression, aufgrund einer Zunahme und Verlängerung von Arbeit, bis hin zum Infrage Stellen des Status Quo.
Abschließend ging es um Reaktionen auf Katastrophen. Spannend war hier der von Matt Perry (Newcastle) vorgestellte Fall der britischen Firefighter Union, in der sich aus dem Bewusstsein ihres gesundheitsgefährlichen Arbeitsplatzes eine internationalistische Auseinandersetzung mit dem Klimawandel entwickelt habe. Bewusst an aktuelle gesellschaftliche Debatten über Verschwörungsmythen anknüpfend, demonstrierten zwei weitere Vorträge, dass Epidemien als Katalysator für gesellschaftliche Unruhen wirkten, da eine Suche nach Schuldigen häufig an bestehende Spaltungen anknüpften: Während bei Eleonóra Géras (Budapest) Fallbeispiel des Pestausbruchs in Buda 1739 die Südslawen beschuldigt wurden und dagegen aufbegehrten, zeigte Mario Keller (Wien), dass während der Cholera-Aufstände die Verantwortung wechselseitig bei Arm und Reich gesucht sowie bei einer Pestepidemie in San Francisco die chinesische Bevölkerung als Sündenbock ausgemacht wurde.
Die diesjährige ITH versammelte unter der inhaltlichen Klammer der «Katastrophen» also Fallbeispiele, die teils recht weit auseinanderlagen, zwischen denen aber Synergien immer wieder augenfällig wurden. Dennoch hätten mehr konzeptionell geleitete Vergleiche und verbindenden Fragen durch die Beitragenden der Kohärenz gutgetan. Der titelgebende Ansatz der «Politischen Ökologie», welcher die Ko-Produktion von Natur und Sozialem in den Blick nimmt, war tatsächlich kaum präsent. Eine zusätzliche Herausforderung bestand allerdings darin, dass ein erheblicher Teil der Teilnehmer:innen das Hybridformat in Anspruch nahm. Für eine Internationalisierung, gerade auch über Europa hinaus förderlich, machte sich das Fehlen des gemeinsamen physischen Raumes aber deutlich darin bemerkbar, dass die anregendsten Diskussionen bei den vor Ort in Linz teilnehmenden stattfanden.
In diesem Jahr stand für die ITH ein weiterer Umbruch an: Susan Zimmerman wurde nach acht Jahren als Präsidentin verabschiedet, das Amt hat nun die Wiener Historikerin Theresa Garstenauer inne. Anlässlich dessen diskutierten mehrere Generationen von Mitstreiter:innen über die Entwicklung der ITH, vom Begegnungsort für kommunistische und sozialdemokratische Historiker:innen aus Ost und West, über den Rollenverlust nach Ende des Kalten Krieges bis hin zur gelungenen Internationalisierung mit Fokus auf die Globalgeschichte der Arbeit.
Festgestellt wurde dabei, dass es früher eine Beteiligung von Gewerkschafter:innen gegeben hätte, während die Konferenz tendenziell «akademischer» geworden sei. Auch wenn das Spanungsfeld von politisch und akademisch von den Diskutierenden unterschiedlich eingeschätzt wurde, zeigte sich, dass die ITH nach wie vor das Potential besitzt linke, politisch engagierte Historiker:innen zusammenzubringen. Sicherlich, auch das wurde angemerkt, wäre es wertvoll, gesammelte Erkenntnisse in aktuelle Auseinandersetzungen von Arbeiter:innen zu übersetzen, ein Beispiel dafür sei ein Workshop der ITH zu Migration und Gewerkschaften gewesen.
Gegenwartsrelevante Themen für die kommenden Jahre stehen jedenfalls schon fest: 2023 wird es um De- und Reindustrialisierung gehen (Link zum Call for Papers), 2024 dann um digitale Arbeit.
Leonie Karwath (Berlin)
Zur Website der ITH(Internationale Tagung der HistorikerInnen der Arbeiterbwegung und anderer sozialer Bewegungen).