Als Pierre Bourdieu 1996 die Ehrendoktorwürde der Universität Frankfurt/Main verliehen wird, hält eine Kunsthistorikerin die Preisrede, Jutta Held. Die neue, in 2022 erschienene 23. Ausgabe von «Kunst und Politik» erinnert an Held (1933-2007) und ihren Partner Norbert Schneider(1945-2019). 14 Beiträge, davon fünf in englischer Sprache würdigen größtenteils die beiden marxistischen Kunsthistoriker*innen und -wissenschaftler*innen.
Sie erzählen in teilweise sehr persönlichen Texten die Biografien und akademischen Stationen nach, so erfährt die erstaunte Leserin z.B. dass die Universität Münster um 1970 der Nukleus einer kritischen Kunstgeschichte ist, weil dort u.a. Held, Schneider und Klaus Herdingpromovieren und Martin Warnke(1937–2019) sich habilitiert. Das Vorhaben von Held sich dort zu habilitieren scheitert, was aber nicht weiter wichtig ist, da sie 1974 einen Ruf für eine Professur für «Theorie und Ästhetik der Kommunikation» an die Universität Osnabrück erhält, wo sie dann bis zu ihrer Emeritierung 2000 arbeitet.
Held ist in den einschlägigen Verbänden und Zeitschriften jener Jahre aktiv, vom 1968 in Opposition zur etablierten, konservativen Kunstgeschichte gegründeten Ulmer Verein(Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften) und seiner 1973 gegründeten Zeitschrift kritische berichte über die Tendenzen(erschienen 1960-1989) und Das Argument bis zum Bund demokratischer WissenschaftlerInnenund seiner Zeitschrift «Forum Wissenschaft», in der 1988 einer ihrer programmatischen Aufsätze erscheint (1).
Alexandra Axtmann erzählt vom Leben und der Produktion von Norbert Schneider, der in Münster, Bielefeld, Dortmund und ab 1998 bis zu seiner Emeritierung 2009 in Karlsruhe unterrichtet. Die Emeritierung von Held ist dann auch der Anlass den gemeinsamen Lebensmittelpunkt von Osnabrück nach Karlsruhe zu verlegen; die Pendelei von Schneider hat ein Ende. In Karlsruhe ist heute auch der Sitz der Guernica-Gesellschaft, die im Juli 1985 als Plattform für die politisch-kulturellen Aktivitäten von Held, Schneider und anderen gegründet wird. Nicht zuletzt ist die Trauerrede für Norbert Schneider abgedruckt, die einen Eindruck vom Menschen Schneider verschafft. Anna Greve blickt auf ihre Prägung durch Held zurück, und bezieht einzelne Topoi einer kritischen Kunstwissenschaft auf die heutige Debatte um die Funktion und Zukunft von Museen.
Held und Schneider gehörten zur Kohorte der durch die Revolte der 1960er politisierten, die dann in den 1970ern die akademische Bühne betritt. Sie setzen sich für eine neue Kunstgeschichte ein, die nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und der Rezeption von Kunst fragte und dies in ihren Publikationen und der Lehre auch tut. Sie engagieren sich in der Neuen Linken, und waren wohl persönlich bescheiden, und von einer starken Ethik und großem Fleiß geprägt. Der Anspruch war, es besser und anders zu machen, und auch andere, wie heute gesagt werden würde, zu empowern. Der Nachlass der beiden ist im Germanischen Nationalmuseumin Nürnberg, die Bibliothek im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe.
«Kunst und Politik» erscheint als «Jahrbuch» der Guernica-Gesellschaftseit 1999 jährlich, Held und Schneider gehörten zu beider Gründer*innen. Die aktuelle Ausgabe ist ein persönlicher Band, der an die beiden erinnert: Zwei eher unbekannte, wenn nicht schon fast vergessene 68er, die in ihrem Feld für die Linke wichtig und produktiv waren, was nicht zuletzt die in der Publikation zahlreich aufgeführte Literatur der beiden zeigt.
Andrew Hemingway/Martin Papenbrock (Hg.): Perspektiven einer kritischen Kunstwissenschaft (Kunst und Politik 23/2021), Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2021, 184 Seiten, 22,50 EUR
(1) Jutta Held: Das Ganze begreifen und verändern. Marxismus und Kunstgeschichte, in Forum Wissenschaft 4/88, S. 48/49, online als «Das Ganze begreifen. Mit Marx die Kunstgeschichte neu lesen»