Das Wissen um die Geschichte der Migration, des Losgehens und Ankommens, der Niederlagen und Erfolge, der Solidarität und der Kämpfe beruht bis heute auf einer Ansammlung von transgenerationalen Weitergaben. Diese sind nicht nur von multiperspektivischen Geschichten geprägt, sondern auch von multiplen und widersprüchlichen Emotionen gekennzeichnet. Die Erinnerung an die eigene Geschichte ist zudem immer wieder durch gewaltsame Unterbrechungen verdeckt. Und es sind gerade diese Unterbrechungen, die als traumatische Inhalte ungelöst weitergegeben werden. Auch wenn die vergangenen 20 Jahre eine Vielzahl an Forschungsarbeiten aufweisen, die ein migrationshistorisches Narrativ begründet haben, verbleibt ein großer Teil der Psychodynamik von Migration im Unbewussten und wird in späteren Generation als Widerspruch erfahren.
Dabei beruht die junge und noch bruchstückhafte Forschung zu migrantischen Arbeits- und Häuserkämpfen, zu Grenzregimen, zu Integrationspolitiken und generell zu Rassismus, ebenso die entstandenen Archive wie auch die künstlerischen Bearbeitungen zum Thema auf der beharrlichen Befragung der Eltern durch die nachfolgende Generation. Es sind die Nachkommen der Eingewanderten selbst, die die Geschichte der Einwanderung schreiben. Die Kinder der Opfer rassistischer Gewalt sorgen für Aufklärung und organisieren das Erinnern. Und es sind jüngere, nicht-weiße Akteur:innen, die das Erbe des deutschen Kolonialismus entschlossen angreifen.
Massimo Perinelliist Historiker und Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Seit dem Zweiten Weltkrieg kamen bis 1972 circa 14 Millionen Menschen aus dem europäischen Süden und Südosten sowie aus Tunesien, Marokko und Südkorea als sogenannte «Gastarbeiter:innen» in die Bundesrepublik. Zwei Millionen von ihnen blieben und wurden sesshaft. Die Kinder dieser ersten Einwanderungskonjunktur der westdeutschen Wirtschaftswunderjahre waren beim Mauerfall Jugendliche geworden. Sie prägte ein anderes Verständnis von Zugehörigkeit als das ihrer Eltern, die noch stark eine exilpolitische Perspektive vertraten. Zwar kämpften diese in den 1970er und 1980er Jahren entschieden gegen Ausbeutung und für ihre sozialen und politischen Rechte. Dennoch orientierten sie sich politisch primär auf ihre Herkunftsländer. Die hier geborenen Jugendlichen fühlten sich hingegen mit ihren Kiezen und Stadtteilen verbunden und entwickelten dort ein neues Verständnis von Zugehörigkeit: Jenseits von Integration in die Mehrheitsgesellschaft und Orientierung auf die vermeintlich eigentliche Heimat entwickelten sie eine dritte Position, eine «Haymat», die nicht integrierbar, indes aber auch nicht mehr fremd ist. Das Postmigrantische als hybridisiertes Selbstverständnis wurde im Übergang zum neuen Millennium zur neuen Leitkultur des Landes. Migrantisch geprägte Theaterstücke, Kinofilme, Musikstile, Modeformen, Sprechweisen, Esskulturen und Theorien des Minoritären brachten eine Enthomogenisierung mit sich, die erste Konturen einer Gesellschaft der Vielen aufweisen konnte.
Diese Kultur beruhte Anfang der 1990er Jahre darauf, dass die zweite Generation der «Gastarbeiter:innen» gesellschaftliche Sprechorte eroberte, indem sie die Geschichte ihrer Eltern erforschte sowie wahrnehmbar machte und dabei ihre eigene Geschichte selbst lernte. Es entstanden wissenschaftliche und popkulturelle Erzählungen, Ausstellungen, Archive und Museen. Zudem entwickelte sich ein neues Bewusstsein über das Erbe jahrzehntelanger Bemühungen um gerechte Bezahlung, angemessenes Wohnen, Bildungsmöglichkeiten, politische Partizipation und Würde. Es geht also um die Geschichte der Kämpfe um Rechte, über solidarische Netzwerke, widerständige Praktiken wie wilde Streiks, Hausbesetzungen, Mietboykotte, Asylrechtskämpfe, Demonstrationen für kommunales Wahlrecht und gegen das Ausländergesetz. Diese transgenerationalen Arbeiten setzen sich bis heute fort, wie jüngst eine Reihe von Autobiografien migrantischer Familiengeschichten zeigen. Dazu zählen beispielsweise «Frausein» von Mely Kiyak, «Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter» von Gün Tank oder «Herkunft» von Saša Stanišic´.
Die vielen Erzählformate der zweiten Generation basierten darauf, die Wissensbestände ihrer Elterngeneration zu heben, die den Nachkommen vormals mitunter selbst als sprachlos und duldsam erschien. Was jedoch in den ersten Jahrzehnten der Einwanderung gefehlt hatte, waren nicht lautstarke Artikulationen, sondern war vielmehr ein gesellschaftlicher Resonanzraum. Dem unablässigen Sprechen aus der Migration heraus waren die Wege in die Öffentlichkeit, in die Akademien und Archive versperrt gewesen. Das doppelte Axiom von Recht und Repräsentation als Grundlage für gleichberechtigte Teilhabe war in der Bundesrepublik des 20. Jahrhunderts gebrochen. Die existierende Repräsentation der «Ausländer» produzierte in Westdeutschland einerseits ein bedrohliches Othering, andererseits einen Nützlichkeitsdiskurs: «Sie verrichten die Arbeiten, die die Deutschen nicht mehr machen wollen», war der Tenor der «positiven» öffentlichen Berichterstattung. In der DDR war dies komplizierter. Wollte man doch nicht auf solch unverblümte Weise das ebenfalls bestehende Ausbeutungsverhältnis und die extreme Entrechtung der angeworbenen Vertragsarbeiter:innen offenlegen. Vielmehr sprach man in den Medien und Institutionen propagandistisch von Solidarität mit den entsandten Genoss:innen beim Aufbau der sozialistischen Bruderstaaten.
In Ostdeutschland fand die «Entdeckung» der Geschichte der Elterngeneration durch ihre Kinder auf ganz ähnliche Weise wie im Westen statt – allerdings 20 Jahre später. Zwar gab es mit Polen und Ungarn ebenfalls bereits in den 1960er Jahren erste Anwerbeabkommen. Doch fand die Arbeitsmigration in die DDR in größerem Maße erst ab den 1970er und 1980er Jahren statt, namentlich aus Algerien, Kuba, Mosambik, Vietnam und Angola, später auch aus der Mongolei, China und Nordkorea. Hinzu kamen politische Geflüchtete, vor allem aus Chile in den 1970er Jahren. Während die BRD in offen rassistischer Weise versuchte, Arbeiter:innen aus, wie es damals hieß, «afro-asiatischen Ländern» zu vermeiden, hatte die DDR in ihrer politischen Nähe zu diversen antikolonialen Befreiungsbewegungen weniger Probleme mit der Anwerbung aus dem Globalen Süden. Zwei Jahrzehnte versetzt zum Westen begannen die jetzt erwachsen gewordenen Kinder der Vertragsarbeiter:innen – aufgrund des verwehrten Familiennachzugs oftmals Kinder binationaler Ehen – in den letzten Jahren die Geschichte ihrer Eltern sichtbar werden zu lassen. Nicht zuletzt für sich selber. Dazu zählen Filme wie «Sorge 87», «Die Mauer ist uns auf den Kopf gefallen», «Obst und Gemüse» oder «Paulino para RDA» sowie Webdokus wie «Eigensinn im Bruderland» oder «Hoyerswerda ’91». Hinzu kommen Zeugnisse von Überlebenden rassistischer Angriffe und Pogrome wie die Arbeiten von Mai Phuong Kollath und Izabela Tiberiade, die Rostock-Lichtenhagen überlebten, oder von Emmanuel Adu Agyeman aus Hoyerswerda. Auch Konferenzen wie das Chemnitzer NSU-Tribunal, Haymat Ost oder Mikopa, Publikationen wie «Ossis of Color» oder «Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters» sowie historische Aufarbeitungen wie jene von Patrice Potrous, Angelika Kim, Lydia Lierke oder Katharina Warda zeugen von einem generationalen Aufbruch. Dieser ähnelt mit dem offensiven Motto «Der Osten bleibt migrantisch» strukturell der Geburt des Postmigrantischen in Westdeutschland zu Beginn der 2000er Jahre.
Derweil ist die dritte Generation der Nachkommen der «Gastarbeiter:innen» im Westen heute erwachsen geworden. Im Gegensatz zu ihren Eltern verkörpern sie in hervorstechender Weise den Schmerz ihrer Großelterngeneration. Im Erleben der Enkel:innen tritt das kämpferische Moment vorangegangener Generationen indes hinter die Betonung ihrer Demütigung zurück. Obwohl rechtlich, ökonomisch und gesellschaftlich unvergleichlich besser gestellt als ihre Eltern oder gar Großeltern, wird das Erbe der Migration vor allem als Trauma erlebt. Vielleicht ist es hilfreich, die sowohl familiäre wie soziologische transgenerationale Traumatisierung in der dritten Generation, wie sie die psychoanalytische Traumaforschung beschreibt, als gesellschaftliche Notwendigkeit zu begreifen, dem Schmerz der Vorfahren jenen nachholenden Raum zu geben, den diese Generation früher selbst nicht hatte. Nicht zuletzt bleibt das Trauma in der Migration immer präsent, weil Migration ein per se unabgeschlossener Prozess ist. Gerade die großen Refugeebewegungen, die aus der arabischen Rebellion resultierten, hielten das Trauma der gewaltsamen Unterbrechung des eigenen Lebens wach.
Gleichzeitig liegt in den gegenwärtig zahlreichen Versuchen, dem Trauma eine Stimme zu geben, die Gefahr, rassistische Gewalt als überhistorisch, alternativlos und singulär zu totalisieren. Wie der syrische Autor Yassin al-Haj Saleh sagt: «Hätte das Trauma eine Zunge, würde es seine Einzigartigkeit verkünden und beanspruchen, ein absoluter Anfang zu sein.» Und er fügt hinzu: «Dem muss man widersprechen». Denn mit dem Gebundensein an die historische Gewalterfahrung mit Rassismus kann ein Übersehen der transformatorischen Kämpfe vergangener Generationen einhergehen und damit der Verlust zukunftsgerichteter Visionen einer solidarischen Gesellschaft.
Der Massenmord in Hanau Anfang 2020 wurde etwa von vielen jüngeren BIPoC-Aktivist:innen als traumatisierendes Ereignis und als Weckruf erlebt, sich politisch zu erheben. Dadurch konnte die vorangegangene fast zehnjährige Organisierung der Angehörigen der zahlreichen Mord- und Anschlagsopfer im NSU-Komplex als Bedingung für die sich nun konstituierende Bewegung kaum mehr in den Blick genommen werden. Aus der Unterbrechung der multiperspektivischen Erinnerungen früherer Kämpfe – Hanau als Anfang, George Floyd als Anfang – können Identitätspolitiken resultieren, die in Konkurrenz zu anderen das erfahrene Leid der jeweils eigenen Gruppe herausstellen. Sie münden in Anerkennungsforderungen, die genau jene Strukturen adressieren, die dafür verantwortlich sind, dass sich Ungleichwertigkeiten gesellschaftlich formieren.
Gemeinsames Erinnern aus unterschiedlichen Perspektiven fällt schwer, weil das widersprüchliche Erbe vorangegangener Generationen unbewusst als schuldbesetzte Verpflichtung auf uns lastet. Ein multidirektionales Erinnern mit Anderen ermöglicht aber eine relationale Entsingularisierung der eigenen Erfahrung, die diese jeweilige Erfahrung nicht zum Verschwinden bringt, sondern im Gegenteil im Teilen der Erfahrung eine Stärkung der eigenen Position sowie die Möglichkeit ihrer Überwindung in sich trägt. Sehen wir in der Geschichte nicht nur die ohnmächtig machenden Trümmer der Vergangenheit, sondern die Zukunftsgewandtheit der vielstimmigen partikularen Kämpfe, die bis heute um ein geteiltes Interesse an gesellschaftlicher Solidarität ringen, können wir diese als ein verwobenes Erbe erfahren. Dieses Erbe weist über unsere uns aufgezwungenen Positionierungen hinaus und besitzt ein universalistisches Transformationspotenzial.
Dieser Text erschien zuerst in der Monatszeitung OXI, November 2022. Diese Ausgabe hatte den thematischen Schwerpunkt «Generationen». Wir danken herzlich für die Erlaubnis zur Online-Publikation.