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«Spurwechsel» für Asylbewerber*innen als Chance für die Einwanderungsgesellschaft der Zukunft

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Bodo Ramelow,

Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) in der Regierungsmedienkonferenz der Thüringer Landesregierung, Erfurt, 10.1.2023
«Die Idee des Spurwechsels weist in eine Zukunft, die wir nur gemeinsam gestalten können und die sich nicht mehr entlang verstaubter Vorstellungen von Innen und Außen, Inländer und Ausländer ausrichtet.» Bodo Ramelow (Erfurt, Januar 2023), Foto: IMAGO / Jacob Schröter

Als Ministerpräsident Thüringens bin ich seit 2014 immer wieder mit dem deutschen Asyl- und Staatsbürgerrecht – und insbesondere mit seinen vielfältigen Defiziten – befasst gewesen. Beide Rechtskreise hängen auf komplexe und hier freilich nicht in aller Ausführlichkeit zu schildernde Weise zusammen. Besonders die Institution des deutschen Staatsbürgerrechts ist von janusköpfiger Gestalt, fußt dieses Recht doch nach wie vor – und trotz einer größeren Staatsangehörigkeitsrechtreform im Jahr 2000 – zu erheblichen Teilen auf dem sogenannten «Ius sanguinis» («Recht des Blutes»), das das Abstammungsprinzip zum maßgeblichen Faktor bei der Bestimmung beziehungsweise der Verleihung der Staatsbürgerschaft heranzieht. Das sogenannte «Ius soli» (im Deutschen sinngemäß «Recht des Bodens») hingegen bestimmt die Staatsangehörigkeit anhand des Geburtsortes des Menschen – so wird man US-amerikanischer Staatsbürger qua Geburt auf US-amerikanischem Territorium. Deutscher Staatsbürger zu werden ist hingegen sehr viel schwieriger und vor allem bis heute kein Automatismus – selbst dann nicht, wenn man bereits in dritter Generation hier lebt.

Bodo Ramelow (DIE LINKE) ist seit 2014 mit einer kurzen Unterbrechung 2020 Ministerpräsident von Thüringen, davor war er unter anderem vier Jahre lang Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Landtags- und Bundestagsabgeordneter und fast zwei Jahrzehnte lang Gewerkschaftssekretär und Landesvorsitzender der damaligen Gewerkschaft HBV (Handel-Banken-Versicherungen).
Ramelow setzt sich seit Jahren dafür ein, Menschen im Asylverfahren einen «Spurwechsel», und so einen sicheren, menschenwürdigen Aufenthaltsstatus zu ermöglichen.

Vor dem Hintergrund eines solch sperrigen und wenig durchlässigen Staatsbürgerschaftsrechts mit all seinen formalen und faktischen Untiefen und Sonderregelungen erklärt sich beinahe von selbst, dass auch das sogenannte Ausländerrecht im Allgemeinen und das Asylrecht im Speziellen davon nicht unbeeinflusst bleiben können. Gerade letzteres Rechtskonvolut, nicht zuletzt gedacht als Konsequenz aus den Verbrechen der NS-Zeit und 1949 an zentraler Stelle in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland integriert, wurde bereits in den 1990er-Jahren auf eine Art und Weise ausgehöhlt und verbogen, die es eher zu einem Asylhinderungsgesetz umgestaltete.

Asylsystem als Falle

Von dieser Warte aus betrachtet kann es kaum verwundern, dass mich auch in regelmäßigen Abständen wirklich ergreifende Schicksale von Menschen beschäftigen, die auf unterschiedliche Weise Opfer dieses Asylsystems geworden sind. Die konkreten Fälle sind dabei so verschieden wie die betroffenen Menschen selbst. Einigen von ihnen wurde schlicht und ergreifend zugeflüstert, sie sollten das Wort «Asyl» sagen, um den entsprechenden Prüfprozess in Gang zu setzen, anderen drohte in ihren Heimatländern politische Verfolgung oder gar der Tod – egal, ob es iranische Frauen sind, die Schutz vor Repression suchen oder russische Soldaten, die vor ihrem Einsatz in Putins verbrecherischem Krieg in der Ukraine fliehen. Gerade das Schicksal desertierender Soldaten ist keineswegs neu und hat bereits im Jahr 1968 Franz-Josef Degenhardt zu seinem Song «P.T. aus Arizona» inspiriert, in dem er das Schicksal U.S.-amerikanischer GI’s in Westdeutschland beschreibt, von denen monatlich knapp 150 desertierten, um nicht im Vietnam-Krieg kämpfen zu müssen. Schon damals sorgte diese Problemlage für heftige Debatten darüber, ob in solchen Fällen Asyl, vielleicht sogar politisches, gewährt werden könne und müsse – im «Kalten Krieg» eine durchaus heiße Frage, betraf sie doch unmittelbar die militär- und außenpolitischen Aktivitäten des Partners USA.

Jenseits dieser historischen Tiefendimension, die dem Themenkomplex «Asyl» eingeschrieben ist, mangelt es überdies bis heute nicht an bemerkenswert stumpfen «Analysen», die immer wieder behaupten, man ginge zu «großzügig» mit dem Asyl-, aber auch Staatsbürgerschaftsrecht um und würde damit die gesamte Welt quasi nach Deutschland «einladen». Mit diesem – in der Sache fatal falschen – Totschlagargument trifft man auch in der Gegenwart vor allem Menschen, die über Jahre hier gelebt und gearbeitet sowie sich vorzüglich integriert haben.

Allein von den unbegleiteten Jugendlichen, die im Jahr 2015 nach Deutschland kamen, habe ich vier näher kennengelernt, die über die Zeit in Betrieben Ausbildungen begonnen und mit dem Gesellenbrief abgeschlossen haben. Die sie beschäftigenden Unternehmen schwören auf die jungen tatkräftigen Leute, brauchen sie unbedingt, weil sie gut ausgebildete Fachkräfte sind, und trotzdem hat keiner der vier bis in die Gegenwart einen dauerhaften Aufenthaltsstatus verliehen bekommen. Und das alles in einer Zeit, in der Deutschland mehr denn je auf gut qualifizierte Fachkräfte aus der ganzen Welt angewiesen ist. Diese vier jungen Menschen haben ihre schulische und berufliche Ausbildung gemeistert und stehen nunmehr vor einer juristischen und politischen Gemengelage, die den Lebenslagen dieser Menschen und vor allem auch ihrer Leistung in keinster Weise gerecht wird. Wer einen Asylantrag stellt, muss warten bis das gesamte Verfahren abgeschlossen ist. Und da am Ende ein Gutteil dieser Verfahren mit einer Ablehnung endet, finden sich viele Menschen in einem rechtlichen Niemandsland und hangeln sich von befristetem Titel zu befristetem Titel – alles andere als integrationsfördernd also.

Die Arbeitgeber verstehen diesen Schwebezustand einfach nicht, und für die jungen Leute ist es eine psychische Marter, so im Ungewissen zu hängen, obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllt haben, die der Staat vorschreibt.

Ein weiteres Beispiel: Vor acht Jahren – also kurze Zeit nach meinem Amtsantritt – kam eine vierköpfige Roma-Familie aus dem Kosovo über Griechenland nach Thüringen. Wir haben sie davon abgehalten einen Asylantrag zu stellen und stattdessen über die Botschaft im Kosovo eine Arbeitserlaubnis für den Familienvater beigebracht, was wiederum als Voraussetzung auch für den formalen Familiennachzug genügte. Alle vier arbeiten heute in Thüringen, die beiden Kinder haben eine Berufsausbildung abgeschlossen. Eines der Kinder, die Tochter, ist zwischenzeitlich umgezogen, hat einen ungekündigten Arbeitsvertrag und verdient durchschnittlich dasselbe wie ihre Altersgenossinnen mit gleicher Berufsausbildung. Mit dem Wohnortwechsel rückte sie allerdings in den Zuständigkeitsbereich eines neuen Ausländeramtes, das nunmehr der Meinung ist, die familiäre Absicherung sowie der ungekündigte Arbeitsvertrag reichten nicht aus, um den Aufenthaltstitel dauerhaft zu verlängern. Es ist ein unbeschreiblicher Tiefschlag für eine junge, engagierte Frau erfahren zu müssen, dass eine Gesellschaft, in die sie sich versucht mit ganzer Kraft einzubringen, sie einfach mit kurzen Befristungen dauerhaft in den Krisenmodus versetzt.

Zeit, neue Wege zu gehen

Die Tatsache, dass wir auch im Jahr 2023 noch über diese Themen sprechen müssen, als seien sie quasi erst über Nacht auf die Agenda gerückt, hat abermals historische Wurzeln, man denke nur an die unsägliche «Kinder statt Inder»-Kampagne der NRW-CDU im Landtagswahlkampf 2000 oder die «Boot ist voll»-Rhetorik von großen Nachrichtenmagazinen bis hin zu Boulevard-Zeitungen. Die bislang letzte Ausbaustufe dieser verhetzenden Kampagnen hat CDU-Chef Merz mit seinem «kleinen Pascha»-Ausfall erreicht. Dass es in diesem bewusst geschürten gesellschaftlichen Klima auch der Ampel-Koalition schwerfallen wird, neue Pflöcke einzuschlagen, versteht sich von selbst.

In Fällen wie den oben genannten böte sich allerdings ein ganz anderer Weg an – fernab von Hetze und einem juristischen Niemandsland. Die Idee des «Spurwechsels» setzt genau hier an. Sie soll Menschen, die bereits in Deutschland leben, sich nicht zuletzt durch Arbeit integriert haben, sich allerdings aus unterschiedlichen Gründen im Geflecht des Asylrechts verheddert haben, die Möglichkeit bieten, auf eine andere Weise eine Bleibeperspektive zu entwickeln beziehungsweise angeboten zu bekommen. Bislang kann man ein einmal in Gang gesetztes Asylverfahren nicht anhalten oder zurücknehmen, ohne dadurch jedes Bleiberecht zu verlieren. Hier stehen juristische Schranken im Wege. Menschen, die seit Jahren hier leben und bestimmte Kriterien erfüllen, sollten die Möglichkeit erhalten, ihren Asylantrag beziehungsweise ihren In-between-Status gegen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht einzutauschen, wobei letzteres nach einiger Zeit auch den Weg hinein in die deutsche Staatsbürgerschaft bereiten sollte.

Wir leben in einer Zeit nicht nur der neuen geopolitischen Unübersichtlichkeit, sondern auch des demographischen Wandels. Menschen, die aus anderen Ländern mit Mut und Lust auf Neues nach Deutschland kommen, sollten wir mit offenen Armen empfangen, nicht mit undurchschaubaren und in der Sache häufig abschreckenden Rechtskonvoluten vergraulen. Überhaupt sollten wir Menschen daran messen, was sie täglich leisten und daran, wohin sie im Leben einmal kommen wollen. Das wäre für viele– nicht nur für die oben geschilderten Fälle – eine echte Erleichterung und vor allem auch ein Gerechtigkeitsplus. Diese Chance bietet der Spurwechsel. Er weist in eine Zukunft, die wir nur gemeinsam gestalten können und die sich nicht mehr entlang verstaubter Vorstellungen von Innen und Außen, Inländer und Ausländer ausrichten kann.

Solange die restriktiven Regelungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht Menschen auf der Flucht illegalisieren und ihnen damit den Zugang zum gesellschaftlichen Leben und zu Teilhabe versperrt ist, wird ein Nährboden für die geschaffen, die auf dem Rücken von Menschen versuchen, mit organisierter Kriminalität Geld zu machen. Bestimmte Formen der Schleuserkriminalität gehen mit der Praxis einher, den Geflüchteten die Pässe abzunehmen und sie so in die Illegalität zu drängen. Dort entsteht – mitten unter uns – eine moderne Form der Sklaverei. Diesen Menschen muss ein Auftauchen aus der Illegalität ermöglicht werden – auch um diese kriminellen Strukturen zu zerschlagen, braucht es neue Ansätze.

Zeitgleich werden all jene kriminalisiert, die aus humanitärer Verantwortung Menschen an den Außengrenzen der EU retten. Wollen wir organisierte ausbeuterische Kriminalität verhindern und stattdessen humanitäre und zivile Hilfe stärken, ist es zwingend geboten, Verstöße gegen das Asylrecht, gegen Aufenthaltsvorgaben oder andere ordnungsrechtliche Bestimmungen in diesem Kontext immer weiter zu entkriminalisieren.

Dauerhafter Aufenthalt und Partizipation, Einwanderung und Einbürgerung

Beiträge zu einer notwendigen linken Debatte

Die «Ampel»-Koalition von SPD, Grünen und FDP hat erste Entwürfe für eine erleichterte Einbürgerung sowie für verbesserte Aufenthaltsperspektiven vorgelegt. Diese betreffen Menschen, die sich seit Jahren in Deutschland aufhalten, aber, oftmals von Abschiebung bedroht, von Duldung zu Duldung hangeln. Die jüngste Ablehnung der sächsischen «Härtefallkommission» im Falle der Familie Pham Phi Son, machte einmal mehr deutlich, wie dringend notwendig weitgehende Reformen sind. Parallel erarbeitet das Bundesarbeitsministerium einen Entwurf für eine begrenzte Öffnung der Arbeitsmärkte für «Fachkräfte» auch aus anderen als den EU-Ländern.

Inwieweit die Entwürfe jedoch angesichts des Widerstandes von großen Teilen der Unionsparteien, der AfD und sie unterstützender Medienorgane durchgesetzt werden können, bleibt offen.

Linke Akteur*innen sind sich in der klaren Ablehnung eines «ethnisch» definierten Staatsangehörigkeitssrechtes, der Bekämpfung von rassistisch getragener Diskriminierung und einer Solidarität mit Migrant*innen einig. In Bezug auf die Frage, ob, und wenn ja, wie Einwanderung gestaltet werden soll, gehen die Positionen jedoch auseinander oder bleiben undiskutiert.

Mit diesem Text startet eine Artikelserie, die unterschiedlichen linken Standpunkten um Einwanderung, Einbürgerung, Aufenthaltssicherung und Partizipation einen Raum bietet und somit zu einer notwendigen Debatte beitragen will. In den nächsten Monaten werden Texte von Autor*innen aus Politik, Wissenschaft, (Selbst-)Organisationen und Zivilgesellschaft erscheinen, die jeweils unterschiedliche Teilaspekte behandeln. Dabei wird es etwa um die historische Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechtes, um politische Forderungen Betroffener, aber auch eine sachliche Einschätzung und kritische Einordnungen der Regierungsgesetzesentwürfe gehen. Wir wollen so versuchen, linke Konsenspunkte in der Argumentation gegen rechte Positionen zu stärken, zudem konkrete Gestaltungs- und Eingriffsmöglichkeiten ausloten und schließlich einen Beitrag für eine sachliche Diskussion auch und gerade von Dissenspunkten leisten.