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Zum fehlenden Recht auf politische Partizipation für Einwanderer*innen | Teil 2 der Analyse «Gesellschaft der Ungleichen: Taxation without Representation»

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Horst Kahrs,

Olympisches Gold  im Paalauf für Aljona Savchenko und Bruno Massot in Pyeongchang, 15.2.2018
Gold für Deutschland! Wenn das nicht im öffentlichen Interesse ist ...

Die WM-Zweiten im Eiskunst-Paarlauf Aljona Savchenko und Bruno Massot dürfen an den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang/Südkorea 2018 teilnehmen. Elf Wochen vor dem Start erhält der Franzose Massot die deutsche Staatsbürgerschaft.
Die sogenannte «Ermessenseinsbürgerung» gibt den Einbürgerungsbehörden die Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erteilen, wenn ein «öffentliches Interesse» daran besteht. Ohne solche Einbürgerungen wäre die Liste der sportlichen Erfolge Deutscher Athlet*innen geringer. Olympisches Gold im Paalauf für Aljona Savchenko und Bruno Massot in Pyeongchang, 15.2.2018, Foto: IMAGO / UPI Photo

Im ersten Teil fiel der Blick auf den Stand des Wahlrechts und aktuellsten Eckdaten zur ausländischen Bevölkerung sowie dem Einstieg in die Diskussion zur Einbürgerung. Der zweite Teil widmet sich dem Beschäftigungsgrad sowie der Arbeitsteilung und stellt Forderungen und ein Fazit für weiterführende Diskussionen in den Raum.

Die ungekürzte Version von «Gesellschaft der Ungleichen: Taxation without Representation» mit allen ausgewerteten Datenquellen findet sich hier.

Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte

Mitte des vergangenen Jahres, zum 30. Juni 2022, wies die Beschäftigtenstatistik der Bundesagen­tur für Arbeit 34,45 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland aus – dabei wird weder auf den Gesamtanteil von Ausländer*innen an den Erwerbstätigen allgemein eingegangen, noch explizit auf ausländische Selbstständige.

Knapp 5 Millionen oder 14,5% besaßen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, also etwa jeder oder jede siebte Beschäftigte. Darüber hinaus waren 4,16 Millionen Arbeitskräfte ausschließlich geringfügig beschäftigt, der Ausländeranteil lag hier bei 13,5%. Rund 62% der 8,9 Millionen ausländischen Einwohner*innen im Alter von 18 bis 65 Jahren standen laut Beschäftigtenstatistik in einem Lohnarbeitsverhältnis.

Etwa 270.000 Beschäftigte hatten ihren Wohnort im Ausland. Den höchsten Anteil an ausländi­schen Beschäftigten mit Wohnort im Bundesland hatte Berlin mit 21,0%, gefolgt von Bremen (18,4%), Baden-Württemberg (18,4%) und Hessen (18,2%) (vgl. Tabelle).

Ordnet man die Beschäftigten nach dem Arbeitsort, ändert sich das Bild leicht, aber nicht ent­scheidend. So haben in Berlin «nur» noch 19,3% der in der Stadt Arbeitenden eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Land Brandenburg steigt er gleichzeitig von 5,6% auf 9,6%. (Vgl. Tabelle 8 im PDF)

Vor allen Dingen südlich der Main-Linie und des Frankfurter Raumes zeigt die Beschäftigtensta­tistik, dass oft mehr jeder fünfte Arbeitsplatz von Ausländer*innen be­setzt wird. Spitzenreiter ist die Stadt Offenbach mit einem ausländischen Beschäftigten-Anteil von 29,4%. Unter den 70 Landkreisen und kreisfreien Städten mit einem Ausländeranteil von 18% und mehr an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegen außerhalb des südli­chen Raumes lediglich Berlin (19,3%), der Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg (18,8), der Landkreis Cloppenburg (18,5%) und die Stadt Oberhausen (18,1%). (Vgl. Tabelle 9 im PDF)

Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler, arbeitet zu den Themen Klassen und Sozialstruktur, Demokratie und Wahlen und war am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigt.

Gegenüber Mitte 2014 ist der Anteil ausländischer Arbeitskräfte von 9,3% auf besagte 14,5% angestiegen bei einem gleichzeitigen Aufwuchs der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um knapp 4,3 Millionen (ohne ausschließlich geringfügig Beschäftigte). Mehr als die Hälfte die­ser Arbeitsplätze (57,7%) wurden von Ausländer*innen besetzt. Bei einer gleichzeitig sinkenden Ar­beitslosenzahl bedeutet das: Bereits in den zurückliegenden Jahren verdankte sich der Erhalt und Zuwachs an Wohlstand – in den Kategorien des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgedrückt – einem wachsenden Anteil ausländischer Arbeitskräfte.

Position in der wirtschaftlichen und beruflichen Arbeitsteilung

Wenn hier von Arbeitsteilung gesprochen wird, dann bezieht sie sich immer auf die offizielle Erwerbs­arbeit und nicht auf die gesamte gesellschaftliche Arbeitsteilung, die sowohl illegale als auch unbe­zahlte Arbeit und Tätigkeiten umfasst.

Die ausländischen Beschäftigten verteilen sich nicht gleichmäßig über das gesamte Spektrum der wirtschaftlichen Arbeitsteilung. Die größten Anteile ausländischer Beschäftigter finden sich in den Wirtschaftsabteilungen «Landwirtschaft» (23,3%) (mit höherem Anteil in der Saison), in der Nahrungsmittelherstellung (24,1%) und hier insbesondere auf den Schlachthöfen und in der Fleischverarbeitung, in allen Bereichen der Bauwirtschaft, in den Wirtschaftsabteilungen, die mit Logistik und Transport verbunden sind, in der Gastronomie und in der Leiharbeitsbranche (vgl. Zusammenstellung in Tabelle 10 im PDF). Es handelt sich dabei um Wirtschaftsbereiche, die einerseits für das gesellschaftliche Gemeinwesen und das deutsche Exportwirtschaftsmodell unverzicht­bar sind und die andererseits relativ schlecht entlohnt (vorwiegend Niedriglohnsektoren) und wenig sozial respektiert und angesehen sind.

Ein differenzierteres Bild ergibt der Blick auf die Berufe, in denen es einen hohen Anteil auslän­discher Beschäftigter gibt (Vgl. Tabelle 11 im PDF). In den Berufen, die überwiegend den vorstehend ge­nannten Wirtschaftsabteilungen zuzuordnen sind, arbeiten knapp zwei Millionen oder 44% der sozial­versicherungspflichtig beschäftigten Ausländer*innen, aber nur knapp 16% der deutschen Beschäftig­ten. In einzelnen Berufsuntergruppen wie der Lebensmittelherstellung oder Fleischverarbeitung besitzt fast die Hälfte der Beschäftigten keinen deutschen Pass. Darüber hinaus fallen weitere Berufsgruppen mit einem hohen Ausländeranteil auf: Berufe aus dem Metall-Bereich, dem Ma­schinen- und Fahrzeugbau, Textilberufe und Gesundheitsberufe. Hierbei handelt es sich nicht mehr nur um Berufe der gesellschaftlichen Grundversorgung, sondern um Berufe, die eine wichtige Rolle für die Weltmarktposition der deutschen Wirtschaft spielen.

Schaut man auf die Zusammensetzung nach Staatsangehörigkeit in den Bundesländern, so wird die Bedeutung ausländischer Arbeitskräfte noch deutlicher. Die Wirtschaftskraft von Baden-Württemberg, Bayern und Hessen wäre ohne den hohen Anteil von Ausländer*innen nicht vorstellbar (vgl. Tabelle 12 im PDF) und damit auch nicht ihre Rolle im Länderfinanzausgleich. In den ostdeutschen Ländern, in denen der Anteil sozialversicherungspflichtig beschäftigter Ausländer*innen insgesamt we­niger als halb so hoch wie im Durchschnitt der westdeutschen Länder ist, fallen – hier am Bei­spiel von Thüringen und Brandenburg – einige Berufsgruppen auf, in denen der Ausländeranteil bereits «West-Niveau» erreicht hat oder auf dem Weg dahin ist: Lebensmittelherstellung und -verarbeitung, Logistikberufe, Reinigungsberufe, Gastronomie-Berufe.

Einwanderungspolitik = Einbürgerungspoli­tik

Kann eine demokratische Gesellschaft, die den Anspruch vertritt, dass alle sozialen Gruppen und Schichten politisch repräsentiert sein können, und die Demokratie als Lebensweise postu­liert, es sich leisten, Millionen von Nachbarn und Kolleg*innen, die an der Schaffung des Wohl­standes beteiligt sind, von der politischen Teilhabe (dauerhaft) auszuschließen? Nein. Sie muss Wege und Hilfen schaffen und anbieten, die Hürden zur politischen Beteiligung niedrig zu hal­ten. Ein Weg zum Wahlrecht für Ausländer*innen wäre, wenn aus Ausländer*innen Inländer*innen werden, also Staatsbürger*innen. Einwanderungspolitik wäre dann zugleich immer auch Einbürgerungspoli­tik, eine inklusive Politik mit dem Ziel gleicher Rechte und Pflichten mit zwei wichtigen «Stellschrauben»:

  • Erstens könnte tatsächlich das ius solis eingeführt werden: Jede*r im Land Geborene erhält automatisch (auch) die deutsche Staatsbürgerschaft, unabhängig von der Staatsbürger­schaft der Eltern. Mit Erreichen der Volljährigkeit kann sich die Person entscheiden, wel­che Staatsbür­gerschaft sie aktiv ausüben will.
  • Zweitens könnte eine Einbürgerungs-Offensive gestartet werden, die aktiv an jede*n, der oder die bestimmte Mindestbedingungen (Dauer, Lebens­mittelpunkt) erfüllt, mit dem Ange­bot herantritt, Deutsche*r zu werden, auch unter Beibehaltung der bisherigen Staatsbürgerschaft.

Einbürgerungspolitik sollte von einer ausreichenden gesellschaftlichen Mehrheit getragen wer­den. Für eine robuste Unterstützung aktiver Einbürgerungspolitik müsste eine breite gesell­schaftliche Verständigung stattfinden über

  • die Mindestbedingungen, die erfüllt werden müssen: vorherige Aufenthaltsdauer, Le­bensmittelpunkt, Hauptwohnsitz, Einkommen;
  • die Verpflichtungen des Staates gegenüber den Neubürger*innen: Sprachkurse, Integrations­hilfen.

Tatsächlich müsste eine alte Debatte aufgenommen und abschließend geklärt werden: Wie viel Rück­sicht muss der Staat auf die Herkunft nehmen? Welche unnötige Härte kann er vermeiden, welche Hilfen sollte er geben, wenn die Einwanderer*innen die faktische Benachteiligung, die durch die formelle Gleichheit entsteht, bewältigen müssen (Sprache, lebenskulturelle Gewohnheiten usw.).

Umgang mit doppelten Staatsbürgerschaften

Eine Staatsbürgerschaft umfasst, zu­mindest im demokratisch-republikanischen Verständnis, einen Kanon von Rechten und Pflichten, doppelte Staatsbürgerschaft bedeutet damit auch, in einer doppelten Loyali­tätsbindung zu stehen.

Bei dem Umgang mit Fragen und Problemen, die sich aus der doppelten Staatsbürgerschaft er­geben, kann auf Instrumente zurückgegriffen werden, die in ähnlich gelagerten Fällen bereits angewandt werden. EU-Bürger*innen, die in einem anderen Land leben, können bei Wahlen zum Eu­ropäischen Parlament am Wohnsitzland wählen, wenn sie auf das Wahlrecht im Land der Staatsbürgerschaft verzichten. Dieser Grundsatz könnte auch für doppelte Staatsbürgerschaf­ten gelten.

Generell wäre ein Rechtsinstrument vorstellbar, dass ein*e Bürger*in mit doppelter Staatsbürgerschaft befristet eine Staatsbürgerschaft «ruhen» lässt, also im Herkunftsland auf die Ausübung des Wahlrechts verzichtet (wegen des Grundsatzes: ein*e Bürger*in – eine Stimme), damit eben­so auf den Schutz des Herkunftsstaates für seine Bürger*innen im Ausland usw. Ähnliche Regelungen werden bereits bei der Wehrpflicht für Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft angewandt. Der befristete Verzicht auf die Ausübung einer von zwei Staatsbürgerschaften hätte den Vorteil, dass bei einer Rückkehr ins Herkunftsland per Erklärung die «aktive» Staatsbürgerschaft ge­wechselt werden kann.

Das Instrument der doppelten Staatsbürgerschaft erleichtert zum einen Einbürgerungen, weil diese dann ohne den emotional oft schwierigen Verzicht auf die rechtliche Bindung an den Herkunftsstaat ermöglicht werden. Andererseits ist sie mit der «Sonderstellung» von Rechten und Pflichten in zwei Staaten verbunden. Das Instrument einer «ruhenden Staatsbürgerschaft», die bei veränderten Lebensumständen wieder aktiviert werden kann, bedürfte zwischenstaatlicher Regelungen.

Ein anderer Weg wird im eingangs zitierten Grundsatzprogramm der Partei DIE LINKE ins Auge gefasst: die Kopplung des Wahlrechts allein an den dauerhaften Lebensmittelpunkt und nicht an die Staatsangehörigkeit. Allerdings stellen sich hier die gleichen Fragen wie bei der doppelten Staatsbürgerschaft: Darf in zwei Staaten gewählt werden? Wie verträgt sich das mit dem Gleichheits-Grundsatz?

Die Entkopplung von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft verbunden mit einer verbindlichen Erklärung, wo das Wahlrecht ausgeübt wird, wäre administrativ der einfachere Weg und gilt bereits heute im Steuerrecht. Das Einkommen ist in dem Land zu versteuern, in dem der zeitlich überwiegende Lebensmittelpunkt liegt. Auf der anderen Seite steht das Grundgesetz, das festlegt, dass zum «Volk», von dem alle Gewalt ausgehen soll, nur deutsche Staatsbürger*innen zählen sollen.

Jedenfalls sollte unter Demokrat*innen angestrebt werden, dass in der Bundesrepublik alle Personen unabhängig von ihrer nationalen Her­kunft als Personen mit gleichen Rechten und Pflichten betrachtet werden. Die Staatsangehörig­keit sollte zugleich die Zugehörigkeit zur bundesrepublikanischen Gesellschaft ausdrücken, was dazu nötigt, sie auszuweiten, wenn das Land zum attraktiven Einwanderungsland werden soll. Das wiederum nötigt dazu, die Einheimischen davon zu überzeugen, dass ihre Zugehörigkeit kein Geschenk des Blutes oder der Scholle ist, sondern auf erworbenen und von allen er­werbbaren Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten beruht, dass auch sie nicht qua Geburt auf dem berühmten Boden des Grundgesetzes des Zusammenlebens stehen.

Es ginge also um eine Politik, ei­ne gesellschaftspolitische Orientierung, die aus Einwanderer*innen möglichst schnell Staatsbürger*innen mit den gleichen Rechten und Pflichten machen will.