Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 sind rund 7,8 Millionen Ukrainer*innen auf der Suche nach Sicherheit in andere europäische Länder geflohen.[1] Einem Bericht des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge sind etwa 87 Prozent von ihnen Frauen und Kinder. Etwa 35 Prozent (etwa 2,7 Millionen) der in Europa registrierten Geflüchteten aus der Ukraine sind Kinder.
Oksana Dutchak ist stellvertretende Direktorin des Zentrums für Sozial- und Arbeitsforschung in Kyiv, wo sie sich mit Arbeitsbedingungen sowie mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten befasst.
Aufgrund der Entscheidung des ukrainischen Staates, die grenzüberschreitende Mobilität von Männern einzuschränken, ist die derzeitige kriegsbedingte Vertreibung stark geschlechtsspezifisch und führt mit Blick auf die voneinander getrennten Familienmitglieder zu einer neuen Arbeitsteilung. Traditionelle Geschlechterrollen und die wirtschaftliche Ungleichheit sorgen dafür, dass Frauen in allen Gesellschaften, auch in der Ukraine, einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Reproduktionsarbeit übernehmen. Im Fall von ukrainischen geflüchteten Frauen scheint es jedoch angemessener, nicht von dieser ungleichen Arbeitsteilung zu sprechen, sondern von einem Phänomen der «zwangsweise Alleinerziehenden», lastet doch die gesamte Verantwortung für die Reproduktionsarbeit auf den Schultern der Frauen.
Im Folgenden untersuche ich, wie ukrainische geflüchtete – und gezwungenermaßen alleinerziehende – Frauen, die Reproduktionsarbeit bewältigen und welche Rolle dabei insbesondere informelle Unterstützungsnetzwerke spielen. Diese Netzwerke weisen eine stark geschlechtsspezifische Struktur auf und sind weitgehend entpolitisiert, doch verschaffen sie den Frauen Zeit – eine entscheidende Ressource für die soziale Reproduktion.
Wie werden diese Unterstützungsnetzwerke während und nach der Vertreibung (wieder) aufgebaut? Wie strukturieren sie das Leben und die Erfahrungen von ukrainischen Geflüchteten? Welche Ungleichheitsstrukturen sind damit verbunden und wie lassen sich diese informellen Netzwerke politisch bewerten?
Soziale Reproduktion im Kapitalismus
Das Idealmodell des Kapitalismus setzt voraus, dass Menschen Geld verdienen, um ihre eigene Reproduktion und die ihrer Familien zu sichern. In zutiefst ungleichen Gesellschaften, die durch Hungerlöhne und hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind, können viele Menschen ihre soziale Reproduktion jedoch nicht allein mit Lohnarbeit sicherstellen. Wie marxistisch-feministische Theorien der sozialen Reproduktion gezeigt haben, ignoriert dieses Idealmodell auf ideologischer und praktischer Ebene den Teil der sozialen Reproduktion, der Reproduktionsarbeit erfordert: die Haus- und Care-Arbeit. Ohne diese könnten Individuen, Familien, Gemeinschaften, die kapitalistische Produktion und die Gesellschaft als Ganzes nicht funktionieren.
Die anhaltenden Kontroversen über die soziale Reproduktion im Kontext der marxistischen Theorie würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen, doch darf die grundlegende Tatsache, dass Menschen zusätzliche Ressourcen für die soziale Reproduktion, etwa durch staatliche Interventionen, Wohltätigkeit, Subsistenzwirtschaft und informelle Netzwerke erhalten, nicht unbeachtet bleiben. Die Frage der sozialen Reproduktion kann in einer kapitalistischen Gesellschaft nur mittels Einbeziehung der nicht durch den Markt vermittelten Beziehungen umfassend betrachtet werden.
Insgesamt beruht die soziale Reproduktion in modernen Gesellschaften auf dem prekären (Un-)Gleichgewicht zwischen materiellen Ressourcen und Zeit, das durch kapitalistische und patriarchalische Strukturen aufrechterhalten wird. Einerseits stammen die materiellen Ressourcen für die soziale Reproduktion der Arbeiter*innenklasse überwiegend aus der Lohnarbeit, die Zeit bindet. Hinzu kommen materielle Ressourcen aus anderen Tätigkeiten, von denen einige ebenfalls Zeit erfordern, wie Subsistenzwirtschaft oder Nebenjobs. Um diese Zeit zu «gewinnen», greifen Menschen auf andere Quellen zurück. Oft sind staatliche Hilfen und informelle Netzwerke besonders stabil und spielen daher eine maßgebliche Rolle.
Anders als staatliche Interventionen in Form von sozialer Daseinsvorsorge bleiben informelle Netzwerke im privaten Bereich verborgen. Ihre Bedeutung ist immens, und doch werden sie allgemein als selbstverständlich vorausgesetzt und aus dem politischen Bereich herausgehalten. Im Kontext von Krieg, Vertreibung und einer Politik, in deren Folge geflüchtete Ukrainerinnen gezwungen sind, sich allein um ihre Kinder zu kümmern, kommt informellen Netzwerken nun eine noch stärkere Bedeutung zu als ohnehin schon.
Versorgungslücken füllen
In der Zeit der «Normalität» vor dem Krieg waren Ukrainerinnen trotz der anhaltenden Ungleichbehandlung der Geschlechter in das lokale (überwiegend staatliche) System der Daseinsvorsorge integriert. Dieses System zerbröckelt jedoch seit Jahren im Zuge neoliberaler Austeritätsmaßnahmen. Reformen der ohnehin chronisch unterfinanzierten Einrichtungen der Daseinsvorsorge wurden als «Optimierung» von Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und anderen Betreuungseinrichtungen verkauft. Sie führten dazu, dass immer mehr Frauen trotz ihrer Erwerbstätigkeit in die Armut abrutschten und ihnen der Zugang zu funktionierenden Betreuungseinrichtungen immer wieder verwehrt blieb, was die Geschlechterungleichheit noch weiter verschärft hat.
Wie in anderen Gesellschaften sind es oft Klein- oder Großfamilien, die solche Versorgungslücken füllen, doch auch persönliche Unterstützungsnetze und lokale Gemeinschaften spielen hierbei eine Rolle. Diese durch geschlechtsspezifische Unterschiede gekennzeichneten und äußerst individuellen Netzwerke (die insbesondere alleinerziehende Mütter weiter benachteiligen) dienen dazu, staatliche Versäumnisse auf dem Gebiet der sozialen Reproduktion auszugleichen. Mit dem Ausbruch des Krieges und der darauffolgenden Vertreibung wurde den Frauen jedoch die Unterstützung durch Vorsorgeeinrichtungen und -netzwerke weiter entzogen.
Ukrainische Frauen mussten ins Ausland fliehen und sich allein um ihre Kinder kümmern. Sie können sich oft nicht vollständig in die vor Ort bestehenden Strukturen integrieren. Dies ist einerseits auf die Migrationsentwicklung zurückzuführen, hängt aber auch mit strukturellen Problemen zusammen, wie dem Mangel an Kapazitäten und Arbeitskräften der lokalen Daseinsvorsorge, kürzeren Arbeitszeiten usw. In vielen Fällen sehen sich die Frauen mit denselben Versorgungslücken konfrontiert, die schon in der Ukraine durch lokale Varianten neoliberaler Austeritätsmaßnahmen entstanden sind.[2] Gleichzeitig müssen ukrainische Geflüchtete neben der Reproduktionsarbeit verschiedene zusätzliche Aufgaben bewältigen, etwa bürokratische Anforderungen, Lohnarbeit, Gesundheitsprobleme und die eigene Integration im Aufnahmeland.
Obgleich sich die Bedingungen von Ort zu Ort unterscheiden, müssen ukrainische Geflüchtete die Lücken in den örtlichen Betreuungseinrichtungen im Großen und Ganzen selbst schließen. Alternativ können sie auch zusätzliche Unterstützung durch ehrenamtliche Initiativen oder traditionelle informelle Netzwerke suchen. Die erste Option ist jedoch nicht dauerhaft verfügbar und kann Frauen nur kurzfristige und zuweilen nicht planbare Hilfe bei der Reproduktionsarbeit bieten. Hinzu kommt, dass Freiwillige die Kinder bestenfalls einige Stunden pro Woche betreuen können, wenn es solche Angebote überhaupt noch gibt.
Traditionelle, informelle Netzwerke bleiben oft die einzige Antwort, doch die Unterbrechung durch den Angriff lässt sie sich nicht von allein entfalten. Die Fähigkeit zur Vernetzung und die gegenseitige Unterstützung im Rahmen dieser Netzwerke werden oft mit weiblichen Rollenbildern und der geschlechtsspezifischen Sozialisation von Frauen verbunden. Ein Verständnis der entsprechenden Umstände und Muster macht deutlich, wie wichtig solche Netzwerke sind, aber auch welche Strukturen der Ungleichheit sich dahinter verbergen.
Transfer und Mobilisierung von Unterstützungsnetzwerken
Die offensichtlichste Lösung, die sich geflüchteten Ukrainer*innen mit Kindern bietet, ist es, gemeinsam mit Freund*innen und Verwandten vor dem Krieg zu fliehen und somit die Personen aus ihren bestehenden Unterstützungsnetzwerken mit in das Zufluchtsland zu holen. Aufgrund staatlicher Restriktionen sind die Mitglieder aus ihren Netzwerken, die mit ihnen in ein anderes Land fliehen, meist Frauen: Mütter, Schwestern und Freundinnen. Sie lassen sich oft im gleichen Haushalt oder in der Nähe nieder und beteiligen sich mehr oder weniger aktiv an der Haus- und Care-Arbeit und unterstützen diejenigen, die zwangsweise alleinerziehend sind. Dieser Nachzug der Unterstützungspersonen ist mehr oder weniger geplant (auch wenn viele Entscheidungen in einer Notsituation getroffen werden) und reproduziert die gewohnten Muster der Care-Arbeit.
Besonders «natürlich» erscheint die Einbeziehung älterer Frauen einer Familie in die Care-Arbeit der Geflüchteten. In der Ukraine wie auch in vielen anderen Gesellschaften spielen Großmütter oft eine aktive Rolle und werden zuweilen zu Hauptbetreuerinnen eines Kindes, um den Mangel an bezahlbaren Möglichkeiten für die Kinderbetreuung vor dem dritten Lebensjahr auszugleichen, oder sie werden in Haushalten von Alleinerziehenden zur zweiten Betreuungsperson.
Diese «natürliche» Arbeitsteilung fußt in der ukrainischen Gesellschaft auf Strukturen kapitalistischer und patriarchalischer Ungleichheit. Einerseits können viele Familien aufgrund der niedrigen Löhne nicht mit nur einem*r Lohnempfänger*in überleben, wenn das andere Elternteil (in den allermeisten Fällen die Mutter eines Kindes) die Kinderbetreuung übernimmt. Dadurch werden beide Elternteile auf den Arbeitsmarkt gedrängt und sind gezwungen, nach alternativen Betreuungsmöglichkeiten zu suchen. Traditionelle Geschlechterrollen, ein relativ niedriges Renteneintrittsalter (60 bis 65 Jahre), sehr niedrige Renten (durchschnittlich 115 Euro pro Monat), die Diskriminierung älterer Frauen auf dem Arbeitsmarkt und unbezahlbarer Wohnraum, der verschiedene Generationen zum Zusammenleben zwingt, sind alles Faktoren, die dazu führen, dass in den meisten Fällen die Großmutter aus der eigenen Großfamilie die Kinderbetreuung übernimmt. Fliehen die Mitglieder eines solchen bereits bestehenden Unterstützungsnetzwerks gemeinsam mit den Betroffenen, ist die Betreuung berechenbar und stabil.
Eine andere Strategie besteht darin, vorhandene Netzwerke zu mobilisieren und teilweise neu aufzubauen. Zunächst einmal beeinflussen grenzüberschreitende Netzwerke die Entscheidung der Frauen, wohin sie fliehen. Im Fall von alleinerziehenden Müttern aus der Ukraine richtet sich die Wahl des Fluchtortes nach potenziellen Unterstützungsnetzwerken in den Aufnahmeländern. Auf der Flucht entscheiden sich die Frauen oft für ein Land und eine Stadt, in der bereits Bekannte leben, und lassen sich in dessen Haushalt oder zumindest in der Nähe nieder, um dauerhaft oder sporadisch Unterstützung bei der Reproduktionsarbeit zu erhalten. Dabei können alle möglichen Netzwerke einbezogen werden, angefangen bei engen Verwandten und Freund*innen bis hin zu relativ weit entfernten Bekannten. So hat zum Beispiel eine Frau, mit der ich gesprochen habe, ihr Fluchtziel gewählt, weil in der Nähe eine Freundin ihrer Mutter lebte. Eine andere wählte einen Ort, an dem ihre Ex-Kollegin mit ihrer Familie lebte. Ob diese Strategie erfolgreich ist, bleibt fraglich, schließlich sprechen wir hier nicht über existierende, sondern über potenzielle Unterstützungsnetze. Arrangements zur Verrichtung von Care-Arbeit können im Voraus ausgehandelt oder stillschweigend beansprucht werden, aber in beiden Fällen kann es sein, dass sie nicht funktionieren.
Der Nachzug von Mitgliedern eines Unterstützungsnetzwerks kann auch mit dem Aufbau neuer Netzwerke einhergehen, wenn Frauen gemeinsam aus dem Krieg fliehen, die sich zuvor nicht aktiv bei der Care-Arbeit unterstützt haben, sich nun aber dazu bereit erklären. Manchmal nimmt dies die Form einer ungeplanten Zusammenarbeit an, zum Beispiel wenn sich verschiedene Familien mit Kindern oder entfernte Verwandte zusammenschließen, um sich gegenseitig zu unterstützen, ohne vorher entsprechende Arrangements getroffen zu haben. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit können auch Ressourcen ausgetauscht werden. So kann eine Frau beispielsweise ihr eigenes Kind und das einer anderen Familie betreuen und im Gegenzug materielle Unterstützung von dieser Familie erhalten.
Bei dieser Art der Zusammenarbeit zwischen Familien können die Beteiligten auf unterschiedliche Weise miteinander in Beziehung stehen, als Verwandte, Freund*innen, Bekannte, Nachbar*innen und sogar Kolleg*innen. Alle möglichen Netzwerke können mobilisiert werden. In einem Fall ist eine Frau gemeinsam mit dem Freund ihres Mannes und dessen Familie geflohen. In einem anderen Fall haben Kolleginnen mit Kindern beschlossen, gemeinsam zu fliehen und zusammenzuleben.
In anderen Fällen wird eine solche gemeinsame Flucht von außen organisiert und im Voraus so geplant, dass eine gegenseitige Betreuung möglich ist. In einem Fall wurde eine Wohnstätte für Kulturschaffende mit Kindern organisiert, die dort gemeinsam einzogen und sich gegenseitig bei der Betreuung unterstützten. In einem anderen Fall organisierte ein ausländisches Unternehmen die Ausreise seiner Mitarbeitenden in ein Nachbarland und brachte sie gemeinsam in einem Hotel unter. Schließlich arbeiteten die Frauen weiter in einer lokalen Niederlassung dieses Unternehmens und kümmerten sich abwechselnd um die Kinder der anderen. Solche Vereinbarungen unterstützen die Frauen in ihrer Doppelrolle als Alleinerziehende und Arbeitnehmerinnen, bieten aber auch dem Unternehmen Kostenvorteile. In diesem Fall kann man von der Verbindung der Gewinnorientierung mit dem Rückgriff auf «natürliche» Lösungen anstelle einer Vergesellschaftung der Care-Arbeit sprechen.
Knüpfen von Unterstützungsnetzwerken
In vielen Fällen ist es jedoch nicht möglich, Mitglieder bestehender Netzwerke mit an den Fluchtort zu holen oder Netzwerke zu mobilisieren. Dann müssen alleinerziehende Frauen solche Netzwerke von Grund auf neu «knüpfen», meist dort, wo sie leben und ihre Kinder betreuen. Geflüchtete Frauen treffen sich in Lagern und Wohnheimen, in denen sie untergebracht sind, in langen Schlangen, wenn sie bürokratische Angelegenheiten erledigen und Sozialleistungen beantragen, in Kindergärten, Schulen und auf Spielplätzen, bei Veranstaltungen und in sozialen Medien oder Chatgruppen speziell für ukrainische Geflüchtete mit Kindern. An diesen Knotenpunkten finden die Frauen Anerkennung und können Erfahrungen austauschen und schneller und einfacher Verbindungen herstellen, die eine gegenseitige Unterstützung bei der Care-Arbeit erst ermöglichen.
Der Umfang der gegenseitigen Hilfe kann in neu geschaffenen Netzwerken sehr unterschiedlich sein und hängt sowohl von den jeweiligen Betreuungsbedürfnissen der Frauen als auch von ihren Fähigkeiten ab, diese im Gegenzug zu leisten. In einem extremen, aber nicht sehr häufigen Fall sucht beispielsweise eine Frau mit einem Kleinkind, die keinen Platz in einem örtlichen Kindergarten findet, aber dennoch einen Integrationskurs besuchen muss oder will, eine andere Frau in der gleichen Situation, damit sie sich mit der Care-Arbeit abwechseln können. Solche Gesuche oder Angebote tauchten ab und an in den lokalen Gruppen von Messengerdiensten auf, obwohl schwer zu sagen ist, inwieweit diese Art von Vereinbarung funktioniert. Ich habe keine Frauen getroffen, bei denen eine solche Vereinbarung funktioniert hätte, und eine Frau, mit der ich gesprochen habe, beklagte sich, dass ihr Versuch einen ähnlichen Austausch mit geflüchteten Frauen zu organisieren an fehlenden Reaktionen scheiterte.
Für Grundschulkinder wird der Schulhof zum Ort der Begegnung und des Aufbaus erster Verbindungen, die sich zu Unterstützungsnetzwerken entwickeln können – insbesondere dann, wenn sie in separaten Klassen für ukrainische Kinder unterrichtet werden. Es ist durchaus üblich, dass Frauen, die in der Nähe wohnen, die Kinder abwechselnd von der Schule abholen, entweder als gängige Praxis oder in Notfällen, etwa wenn eine Mutter aus irgendeinem Grund nicht kommen kann. Je älter die Kinder sind, desto weniger Unterstützung brauchen die Frauen für die Betreuung. Geflüchtete mit Kindern im Teenager-Alter nutzen die neu geschaffenen Netzwerke für andere Zwecke, wie zum Beispiel psychologische Unterstützung, Informationsaustausch, Sozialisierung usw.
Wenn ukrainische Geflüchtete sich in der gleichen Situation befinden, die gleichen Erfahrungen machen und Zugang zu Räumen haben, wo sie sich treffen und Kontakte knüpfen können, die explizit mit der sozialen Reproduktion verbunden sind, liegt es für sie nahe, sich gegenseitig bei der Betreuung zu unterstützen. Aufgrund von Geschlechterrollen und der geschlechtsspezifischen Sozialisation können jedoch auch solidarische Netzwerke außerhalb dieser Gemeinschaften entstehen. Einige Frauen wurden von Gastfamilien aufgenommen, die ihnen auch einen Teil der Care-Arbeit abnahmen. Eine Frau erklärte, dass sie die größte Unterstützung bei der Kinderbetreuung von einer Nachbarin aus der Türkei erhielt. Diese hatte selbst Kinder und wusste, wie schwierig es war, Kinder in einem fremden Land großzuziehen. Also bot sie der Mutter an, auf das Kind aufzupassen, damit sie etwas Zeit für sich selbst hatte.
Ganz anders sieht die Situation aus, wenn geflüchtete Frauen keinen Zugang zu Unterstützungsnetzen haben. In Gesprächen mit ukrainischen Geflüchteten habe ich erfahren, dass Frauen, die keine Unterstützung erhielten und selbst kein Netzwerk aufbauen konnten, heillos mit der Kindererziehung überfordert waren – sowohl physisch als auch psychisch. Manche Mütter sahen sich sogar gezwungen, mit ihren Kindern in die Ukraine zurückzukehren. Obwohl zu dieser Erfahrung weniger Informationen zugänglich sind, gibt es scheinbar auch Frauen, die sich bewusst entscheiden, mit ihren Kindern in ihrer Heimatstadt zu bleiben oder nur innerhalb des Landes zu fliehen, weil sie befürchten, sonst von ihren gewohnten Unterstützungsnetzen abgeschnitten zu werden. Sie nehmen dafür Gefahren in Kauf wie den Beschuss durch die russische Armee, Stromausfälle, ein fehlendes Einkommen und den kalten Winter.
Politisierung von Betreuungsnetzwerken
Die militärische Aggression Russlands, die zur Vertreibung geführt hat, und die anschließend von der ukrainischen Regierung durchgesetzten Grenzbestimmungen haben den anfänglichen Pool an Netzwerken für gezwungenermaßen alleinerziehende Mütter, die verlagert, mobilisiert oder neu geschaffen werden können, verändert. In den meisten Fällen sind es jedoch Frauen, wie Freundinnen, Kolleginnen sowie weibliche Verwandte und Bekannte, die sich um die Kinder der Geflüchteten kümmern.
Geschlechtsspezifische und wirtschaftliche Ungleichheit, Geschlechterrollen und die geschlechtsspezifische Sozialisation sorgen dafür, dass primär Frauen unbezahlte Reproduktionsarbeit leisten. Dies erklärt auch die geschlechtsspezifische Ausrichtung der vor dem Krieg etablierten, ausgehandelten, akzeptierten und neu geschaffenen Arrangements zur Betreuung von Kindern geflüchteter Frauen. Vor dem Krieg wurden in der Ukraine, wie auch in vielen anderen Ländern, überwiegend weibliche Unterstützungsnetzwerke genutzt, um die durch die profitorientierte Wirtschaft und die Sparpolitik entstandenen Lücken zu füllen. Das ist für Frauen auf der Flucht nicht anders.
Die Klassen- und Einkommensungleichheit der Geflüchteten kann beim Zugang zu Betreuungsnetzwerken auch eine ganz paradoxe Rolle spielen. Frauen, die aufgrund ihres Einkommens und früherer beruflicher Kontakte im Ausland in einer privilegierteren Position sind, richten sich oft sofort oder recht schnell in einer eigenen Wohnung ein und sind nicht auf Sozialleistungen angewiesen. Dies erleichtert zwar ihre Situation auf materieller Ebene, schottet sie aber auch teilweise von anderen ukrainischen Geflüchteten ab. Sie leben weder in Lagern und Wohnheimen zusammen noch müssen sie regelmäßig diverse soziale Einrichtungen aufsuchen. Sie haben viel weniger Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen und ein Betreuungsnetz aufzubauen.
Eine Frau, die fünf Monate lang mit ihrem Kleinkind in einem Lager untergebracht war und dann in einem Wohnheim mit einer anderen Familie zusammenlebte, sprach von ihrem Glück. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die in einer eigenen Wohnung lebte, konnte sie Verbindungen zu anderen ukrainischen Frauen aufbauen, die sie bei der Betreuung unterstützten. Eine andere Frau, die in einer Forschungseinrichtung arbeitete und allein mit ihrem Sohn lebte, gab an, sich isoliert zu fühlen und niemanden zu haben, der sie unterstützte.
Unterstützungsnetze bauen zweifellos auf Solidarität und gegenseitiger Hilfe auf. Allerdings ist diese Solidarität nicht unbedingt darauf ausgerichtet, organisierte kollektive Anstrengungen zur Bewältigung der Herausforderungen der sozialen Reproduktion und zum Abbau der ihnen zugrundeliegenden strukturellen Ungleichheit zu unternehmen.
Die Frauennetzwerke, die Reproduktionsarbeit leisten, entstehen, weil Frauen auf Solidarität und gegenseitige Hilfe bei der Betreuung angewiesen sind. Sie werden in modernen Gesellschaften in die private Sphäre gedrängt und haben nur ein sehr geringes Potenzial für politische Mobilisierung. Entsprechende Netzwerke von Geflüchteten sind zersplittert und ständigen Änderungen unterworfen. Sie sind geprägt von der Verwundbarkeit, die mit Krieg und Vertreibung einhergeht.
Dennoch können diese Netzwerke zuweilen ukrainische Geflüchtete für freiwillige oder politische Aktionen mobilisieren, um die Folgen des Kriegs abzufedern, etwa in Form der Verbreitung von Informationen über Protestveranstaltungen zur Unterstützung der Ukraine oder kollektiven Anstrengungen zur Leistung von humanitärer oder militärischer Hilfe. In dieser Hinsicht ergänzen solche Netzwerke verschiedene politische Initiativen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Netzwerke mobilisiert werden können, um die Probleme mit der Vorsorgeinfrastruktur auf staatlicher Ebene anzugehen, sei es am Fluchtort oder bei der Rückkehr in die Ukraine.
Übersetzung von Cornelia Gritzner und André Hansen für Gegensatz Translation Collective.
[1] Von den 7,8 Millionen Geflüchteten wird 4,7 Millionen vorübergehender Schutz im Rahmen der EU-Massenzustrom-Richtlinie gewährt oder sie erhalten durch ähnliche einzelstaatliche Programme Schutz. Darüber hinaus sollen sich 2,8 Millionen Geflüchtete in Russland aufhalten, und eine unbekannte Zahl, die möglicherweise in die Hunderttausende geht, hält sich in verschiedenen Nicht-EU-Ländern auf.
[2] Natürlich gibt es in den europäischen Sozialsystemen große Unterschiede in Bezug auf Strategien, Ressourcen und Kapazitäten. Dies prägt die Erfahrungen von ukrainischen Geflüchteten in hohem Maße, und in vielen Fällen finden sie sich in Betreuungs- und Sozialsystemen wieder, die weit besser funktionieren als die der Ukraine vor dem Krieg. Dennoch stellen bestehende Infrastrukturen die soziale Reproduktion in keinem Fall vollständig sicher.