Lula da Silva verspricht eine soziale und ökologische Wende in einer Gesellschaft, die von vier Jahren rechtsextremer Regierung gezeichnet ist. Rückhalt und Fachwissen dafür findet Brasiliens neugewählter Präsident in den sozialen Bewegungen, die zur Verteidigung ihrer Territorien und zur Bewältigung der Klimakrise bereits konkrete Forderungen an die Regierung stellen.
Im Januar trat Luis Inácio Lula da Silva zum dritten Mal das Amt als Präsident Brasiliens an. Der ehemalige Gewerkschaftsführer und Gründer der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) versprach eine radikale politische Kehrtwende gegenüber der rechtsextremen Vorgängerregierung Bolsonaro (2018-2022). Bereits in seiner Rede nach dem Wahlsieg am 30. Oktober 2022 hatte Lula in São Paulo erklärt: «Die Herausforderung ist immens. Dieses Land muss in all seinen Dimensionen wiederaufgebaut werden.» Gegenwärtig leiden 33,1 Millionen Brasilianer*innen unter Hunger. Zudem kam es unter der Regierung Bolsonaro zu schweren Einschnitten in der Sozial- Umwelt- und Menschenrechtspolitik, die behoben werden müssen. Aus dem Umfeld sozialer und politischer Bewegungen, die Lula unterstützen, gibt es dafür konkrete Reformvorschläge.
Darunter ist besonders der Revogaço (dt. etwa Riesen-Widerruf) hervorzuheben, der die verschiedenen Bereiche, in denen die Regierung Bolsonaro die brasilianische Demokratie zerstört hat, untersucht. Dabei nennt die Studie über 200 Verordnungen, die von Lula sofort aufgehoben werden könnten. Erstellt wurde die wissenschaftliche Untersuchung von der Stiftung Lauro Campos e Marielle Franco der Partei Sozialismus und Freiheit (Partido Socialismo e Liberdade, PSOL) und dem Brasilienbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Elisangela S. Paim ist Journalistin, promovierte Soziologin (Universidad de Buenos Aires) und lateinamerikanische Koordinatorin des Klimaprogramms der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
In Hinblick auf die sozio-ökologischen Einschnitte sind hervorzuheben: der Abbau der Umweltpolitik; die Dezentralisierung der Umweltgenehmigungen; die Zulassung der größten Anzahl von Pestiziden in der Geschichte Brasiliens; die Zunahme der Entwaldung im Amazonasgebiet (13.000 Quadratkilometer im Jahr 2021) und im [savannenähnlichen] Cerrado (8.500 Quadratkilometer im Jahr 2021); die Subventionierung von Kohleenergie; die wissenschaftliche Leugnung des Klimawandels; die Ausweitung des illegalen Bergbaus in indigenen Territorien und die Beschleunigung von Prozessen, mit denen die Umwelt ökonomisiert wird (Emissionshandel, Zahlung für Umweltdienstleistungen). Das Kapitel zur Umweltpolitik der Studie bekräftigt, was zivilgesellschaftliche und vor allem indigene Organisationen[1] in Untersuchungen über die Situation in ihren Territorien seit Jahren beobachten. Seit Langem prangern sie auf nationaler und internationaler Ebene die Verletzung der in der Verfassung von 1988 verankerten Rechte an.
Von großer symbolischer Bedeutung sind dabei die Beschwerden gegen den noch unter Bolsonaro entstandenen Gesetzentwurf (Projeto de Lei, PL) 191/2020, der derzeit im Nationalkongress diskutiert wird. Dieser regelt die Rahmenbedingungen für die Erschließung und den Abbau von Bodenschätzen, darunter auch Kohlenwasserstoffe, sowie die Nutzung von Wasserressourcen zur Stromerzeugung auf indigenem Land. In diesem Zusammenhang gibt es mehrere Pläne von Eletrobras, dem ehemals staatlichen Stromversorger, der im Juni 2022 von der Regierung Bolsonaro privatisiert wurde. Das Unternehmen hofft auf eine Verabschiedung des Gesetzes. Am Widerstand gegen die Verabschiedung des Gesetzesentwurfs beteiligen sich wichtige nichtstaatliche Umweltorganisationen, wie etwa die Bewegung der von Staudämmen betroffenen Personen (Movimento dos Atingidos por Barragens, MAB) sowie Wissenschaftler*innen und Forscher*innen, die sich gegen den Bau neuer Staudämme im Amazonasgebiet aussprechen.
In Folge der umweltfeindlichen, rassistischen und kolonialistischen Politik der Bolsonaro-Regierung und der Großprojekte, die sie etwa im Energiesektor verfolgte, verschärften sich die sozio-ökologischen Konflikte. So kam es etwa zu einer Vielzahl von Landenteignungen und gewaltvollen Eingriffen in die Lebensweisen von Quilombolas[2], traditionellen Gemeinschaften, Kleinbauern/Kleinbäuerinnen und indigenen Völkern. Dabei sind in besonderem Maße die Negativauswirkungen für Frauen und Jugendliche, insbesondere für schwarze und indigene Frauen, hervorzuheben. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass neben «traditionellen» Energieprojekten wie Wasserkraftwerken ein alarmierender Anstieg von Projekten zu verzeichnen ist, die im Namen der Energiewende und/oder des Kampfes gegen den Klimawandel umgesetzt werden, wie z. B. große Wind- und Solarparks. Soziale Bewegungen und Organisationen wie das Instituto Terramar und der Pastoralrat der Fischer*innen stellen diese Vorhaben in Frage, weil sie zu groß sind, den an den Ufern lebenden Gemeinden den Zugang zum Meer verwehren und auf den künftigen Export von grünem Wasserstoff spekulieren. Sie kritisieren, dass diese Form der Energiegewinnung keinesfalls so «sauber» ist, wie behauptet wird. Denn für den Bau der Großprojekte braucht es nicht erneuerbare Rohstoffe und für den Transport der Bauteile fossile Brennstoffe.
Vor dem Hintergrund dieser Expansion des extraktiven Kapitalismus engagieren sich betroffene Frauen für Projekte, die sich für die Verteidigung des Lebens, des Körpers, ihrer Länder und der Natur einsetzen. So kommt es auch zu einer verstärkten Zusammenarbeit von ländlichen und städtischen Bewegungen, etwa indem man sich gemeinsam für die Produktion von ökologisch nachhaltigen Lebensmitteln einsetzt und das traditionelle Wissen der Gemeinschaften bewahrt. Eine wichtige Entwicklung ist zudem, dass unter schwarzen Jugendlichen marginalisierter Gemeinden Bildungsansätze, die von unten kommen, im Aufwind sind. Den Raum hierfür bieten Initiativen wie z.B. die Periferia Viva (Lebendige Peripherie), die Bewegung der Kleinbäuerinnen (Movimento das Mulheres Camponesas, MMC), das Agroökologische Netzwerk von Bäuerinnen im Gebiet von Barra do Turvo (Rede Agroecológica de Mulheres Agricultoras da Barra do Turvo, RAMA), die Nationalkoordination der Artikulation von traditionellen ländlichen afrobrasilianischen Gemeinden (Coordenação Nacional de Articulação de Quilombos, CONAQ) und die Wohnungslosenbewegung MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto).
In ihrem Kampf gegen die Zerstörung der Lebensräume und dem Widerstand gegen ein Agrarsystem, das auf dem Export von Rohstoffen basiert und mitverantwortlich für die grassierende Hungerkrise ist, sowie gegen das Energiesystem (einschließlich der negativen Auswirkungen des Ausbaus erneuerbarer Energien) fordern viele soziale und politische Organisationen die Rechte auf ihr Land ein, wie z. B. die Landlosenbewegung MST (Movimento das Trabalhadoras e Trabalhadores Rurais Sem Terra, Bewegung der Landarbeiter*innen ohne Land), die Kommission der Landpastoral (Comissão Pastoral da Terra, CPT), der Indigenen-Missionsrat CIMI (Conselho Indigenista Missionário), das Institut Terramar und das Netzwerk Umweltgerechtigkeit (Rede de Justiça Ambiental).
Angesichts der herausfordernden Situation und der hohen Erwartungen ging Lula bereits im Wahlkampf und auf seiner ersten internationalen Reise als neu gewählter Präsident nach Ägypten im November 2022 anlässlich der 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP 27) einige Verpflichtungen ein. Während der Veranstaltung kündigte er an, ein Ministerium für Indigene Völker (Ministério dos Povos Originários) zu schaffen. «Brasilien ist zurückgekehrt» in die globale Klimadebatte, erklärte er dort und sprach über die Herausforderung, sich der Erderwärmung zu stellen. Lula sagte, dass er keine Mühen scheuen werde, um die Entwaldung und Zerstörung der brasilianischen Ökosysteme bis 2030 auf null zu reduzieren. Mitglieder von Umweltorganisationen werden dabei beratend einbezogen: Alexandre Silveira, Brasiliens neuer Minister für Bergbau und Energie, traf sich zudem direkt nach Amtsantritt mit Mitgliedern der Umweltorganisation MAB, in der sich von Staudammprojekten betroffene Gemeinden organisieren. Die Gruppe war zudem Teil der Arbeitsgruppe Bergbau und Energie in der Kommission, die die Regierungsübernahme vorbereitete, und setzte sich dort für Reparationszahlungen und den Schutz der betroffenen Gemeinden ein.
In der Klimafrage sind es insbesondere auch junge Menschen, die sich in politischen Initiativen engagieren. Viele dieser Initiativen sind in Gemeinden entstanden, die sich gegen die Umweltzerstörung großer internationaler Unternehmen wehren. So zum Beispiel das Kollektiv Martha Trindade in Santa Cruz, Rio de Janeiro. Laut Aline Marins, einer schwarzen Klimaaktivistin aus Santa Cruz (Westzone von Rio), befindet sich das Kollektiv seit 2016 in Auseinandersetzungen mit dem Stahlunternehmen Ternium Brasil, vormals Thyssenkrupp Companhia Siderúrgica do Atlântico (Thyssenkrupp Atlantik-Stahlindustrie, TKCSA). «Wir sind im Rahmen eines selbstorganisierten Prozesses der Überwachung von mit der Luftqualität zusammenhängen Gesundheitsfolgen entstanden, was direkt mit der durch das Unternehmen verursachten Verschmutzung zusammenhängt. Heute beteiligen wir uns aktiv an Debatten über das Recht auf Stadt, Gesundheit und Umwelt», fügt sie hinzu.
Innerhalb des ersten Monats ihrer Amtszeit hat die neue Regierung inzwischen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Umweltschutz, Korruptionsbekämpfung und Öffentliche Sicherheit Maßnahmen der Vorgängerregierung rückgängig gemacht. Das betrifft etwa die Verordnung, die Ärzt*innen bislang zwang, die Polizei zu informieren, wenn eine Frau eine Abtreibung vorgenommen hat. Ebenso hat Brasilien den während Lulas erster Amtszeit ins Leben gerufenen Amazonasfonds für Wald- und Klimaschutz wieder aktiviert, nachdem Bolsonaro diesen 2019 eingefroren hatte. Internationale Geldgeber nahmen daraufhin wieder ihre Zahlungen auf, mit denen die Wälder geschützt und Entwaldungsprozesse verhindert werden sollen.
Bis zum vollständigen Widerruf der rechten Politik und dem Wiederaufbau der brasilianischen Demokratie ist es jedoch ein langer und herausforderungsvoller Weg. Die sozialen Bewegungen haben sich vier Jahre in der Defensive befunden – nicht nur aufgrund der reaktionären Politik Bolsonaros, sondern auch wegen der tragischen Gesundheitskrise, die bis heute andauert, weil wissenschaftliche Fakten geleugnet und die schwächsten Teile der Gesellschaft im Stich gelassen wurden. Nun müssen sie wieder in die Offensive gehen, um die Umsetzung der durch die Regierung Lula versprochenen Maßnahmen nämlich die Bekämpfung des Hungers, den Abbau der strukturellen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft und die Eindämmung von Umweltzerstörung und Klimakrise lautstark einzufordern.
Es handelt sich um eine aktualisierte und leicht bearbeitete Übernahme eines Artikels aus der Zeitschrift «Brasilicum» vom 22.02.23.
[1] Die Artikulation der Indigenen Völker Brasiliens (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil, ABIP), die Koordination der Indigenen Organisationen des Brasilianischen Amazonas (Coordenação das Organizações Indígenas da Amazônia Brasileira, COIAB), die Union der Indigenen Frauen (União das Mulheres Indígenas, UMIAB) und Weitere.
[2] Bewohner*innen von Gemeinden, die von Schwarzen gegründet wurden, die im kolonialen Brasilien versklavt waren.