Bericht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Globalisierung - Afrika «Wer nicht mit am Tisch sitzt, steht auf der Speisekarte»

Über die Notwendigkeit eines souveränen Afrikas

Information

Autorin

Caroline Cornier,

Bergleute auf der Suche nach Gold in Shinyanga, Tansania. Foto: IMAGO / YAY Images

Afrika befindet sich – wie die ganze Welt – in der Krise. Aber Afrika ist besonders schlecht gerüstet, um dieser Krise entgegenzutreten:

  • Afrikanische Länder weisen Staatsverschuldungen in neuen Rekordhöhen auf, während die Zentralbanken des Globalen Nordens kontinuierlich ihre Leitzinsen erhöhen;
  • Afrikanische Währungssysteme schränken durch ihre Rigidität und ihre Prädisposition zur Inflation den politischen Handelsspielraum ein;          
  • Konflikte zermürben ganze Teile des Kontinents.

Caroline Cornier ist Doktorandin an der Universität Bayreuth, wo sie Teil der vergleichenden Forschungsgruppe «Monetary and Economic Sovereignty in West Africa» ist.

Eine Krise kann aber auch neue Horizonte eröffnen. Die derzeitigen wirtschaftlichen und finanziellen Turbulenzen könnten sich unter Umständen als günstiger Moment für grundlegende Währungsreformen erweisen. Gleichermaßen könnte die Energiekrise, gekoppelt mit dem weltweiten Bedarf an grüner Energie, für Afrika eine neue Verhandlungsbasis hervorbringen.

Die 2. Konferenz über die Wirtschafts- und Währungssouveränität Afrikas fand vom 25. bis 28. Oktober 2022 in Dakar statt unter dem Motto « Der sozial-ökologischen Krise  entgegentreten: die aktuelle Relevanz von Entkopplung und die Frage der globalen Reparationen». Nach der ersten Konferenz in Tunis im November 2019 versuchten die Teilnehmer*innen nun, die Währungs- und Wirtschaftszwänge, denen die Länder des Südens und besonders Afrika derzeit ausgesetzt sind, zu analysieren und alternative Strategien zu entwickeln. Der Schwerpunkt lag hierbei auf panafrikanischen und internationalistischen Antworten auf die aktuelle sozial-ökonomische Krise. Dabei kamen verschiedene heterodoxe ökonomische Ansätze zur Sprache. Konkrete Beispiele wurden in den Vorträgen von Howard Stein von der University of Michigan und von Ingrid Kvangraven vom King’s College aufgezeigt. Tatsächlich ist derzeit allerorten zu beobachten, wie staatliche Politik an der neoklassischen Mainstreamökonomie scheitert.

Auf der live gestreamten und simultan ins Französische und Englische übersetzten Konferenz versammelten sich rund einhundert Forscher*innen, Aktivist*innen und Vertreter*innen nationaler und internationaler Organisationen. In der Debatte ging es um das Konzept der Entkopplung, die Krise des Weltfinanzsystems und dessen Rolle in der ökologischen Krise sowie um die Notwendigkeit globaler Reparationen.

Die Notwendigkeit von Entkopplung

Im Zentrum der Konferenz stand der Begriff der «Entkopplung», der auf den französisch-ägyptischen Ökonomen Samir Amin und sein 1985 erschienenes Buch La Déconnexion. Pour sortir du système mondial zurückgeht. Das Konzept ist im Kontext lateinamerikanischer Dependenztheorien zu sehen. Diese versuchen, die ungleiche wirtschaftliche Entwicklung (Polarisierung) zwischen dem Zentrum des kapitalistischen Systems und seiner Peripherie zu erklären. Im Zentrum dieses Systems haben der Staat und das lokale Bürgertum die Herrschaft über den internen Akkumulationsprozess, während die Akkumulation in der Peripherie externen Kräften und deren Forderungen unterliegt. Angesichts dieser Situation ist für die Entkopplung, wie sie von Amin beschrieben wurde, eine Neukonfiguration der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Ländern der Peripherie und den Ländern des Zentrums nötig. Dieser Prozess zielt nicht auf Autarkie, sondern vielmehr darauf, eine autozentrierte Entwicklung in der Peripherie zu ermöglichen dank einer Politik, die zum Ziel hat, die internen Akkumulationsbedingungen besser zu steuern, sprich eine Politik, die Inlandsbelange über globale Logiken stellt.

Wie der senegalesische Ökonom Demba Moussa Dembélé zu Beginn der Konferenz in Erinnerung rief, muss diese «(Wieder)eroberung der Souveränität» insbesondere in drei Schlüsselsektoren stattfinden: im Währungs- und Finanzsektor, im Energiesektor und im Nahrungsmittelsektor. Laut Dembélé importiert Afrika 80 % seiner Lebensmittel, was oft mehr als 10 % der staatlichen Haushalte ausmache. Das führe nicht nur zu enormen finanziellen Abhängigkeiten, sondern auch zu einer großen Anfälligkeit bei negativen Ereignissen in den Versorgungsketten, wie in jüngerer Zeit in der Pandemie und durch den Krieg in der Ukraine beobachtet.

Dembélé nannte drei weitere Pfeiler der Entkopplung für Afrika: die Beschleunigung der regionalen und interregionalen Integration; die Wiedererrichtung von entwicklungsorientierten Staaten, die eine Industrialisierungspolitik verfolgen, die auf der Verwendung der internen Ressourcen beruht; und die Wiederherstellung eines für diese Industrialisierung ausreichenden finanziellen Handlungsspielraums, insbesondere durch die Annullierung der als unrechtmäßig angesehenen Auslandsverschuldung sowie durch den Kampf gegen illegale Finanzströme.

Sinn und Nutzen des Entkopplungskonzepts heute

Mehrere Teilnehmer*innen erinnerten an die Grenzen der Dependenztheorien, auf die sich der Entkopplungsbegriff stützt. Die Welt hat sich seit der Entstehung dieser theoretischen Strömung in den 1960er und 1970er Jahren stark verändert. Seit damals sind mehrere «Schwellenländer» in die Gruppe der «semi-peripheren» Länder aufgestiegen. Andere Referent*innen wiederum wiesen auf die besonderen Umstände in Ländern wie Taiwan oder Korea hin, die aus geopolitischen Gründen sehr stark von den USA unterstützt wurden und auf diese Weise in den Genuss eines ihnen wohlgesonnenen internationalen Umfeldes gekommen sind. Es bleibt in diesem Zusammenhang die Frage offen, ob diese Länder (China inbegriffen) sich wirklich aus den Zwängen befreien konnten, denen die Peripherie ausgesetzt ist. Der Ökonom Andrew Fischer erinnerte daran, dass im Gegensatz zu dem, was allgemein geglaubt wird, beispielsweise ein Land wie Südkorea in den ersten Phasen seiner Industrialisierung immer wieder wirtschaftliche Defizite verzeichnen musste. Dies führte ihn zu der Aussage, dass die Abhängigkeit (insbesondere vom Import von Technologie und Ausrüstung) kein Überrest der kolonialen Vergangenheit sei, sondern vielmehr eine Dynamik, die sich mit der Industrialisierung ständig verstärke. Er führte weiter aus, dass der ökologische Wandel für die Länder des Südens den Import zahlreicher, mit ausländischen Devisen zu bezahlender Technologien bedeute.

Die südafrikanische Ökonomin Fiona Tregenna von der Universität Johannesburg brachte trotzdem erneut die Überzeugung zum Ausdruck, Dependenz sei ein zweckdienlicher Begriff, um die Wirtschaften des Südens sowie die Funktionsweise unseres globalen Wirtschaftssystems zu untersuchen. Als konkretes Beispiel führte sie die Industrialisierung an. Auch Ingrid Kvangraven, Forscherin für Wirtschaftspolitik in London, forderte, dass die lateinamerikanischen Ansätze der 1970er Jahre stärkeren Eingang in die theoretische Ebene der Wirtschaftswissenschaft finden sollte. Das Konzept der Entkopplung wurde im Übrigen von Samir Amin genau in einer Zeit entwickelt, die einerseits von der Umsetzung von strukturellen Anpassungsprogrammen unter der Schirmherrschaft des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und andererseits vom Scheitern des Versuchs der Länder des Südens (Dritte Welt), eine neue egalitärere internationale Wirtschaftsordnung zu schaffen, geprägt war.   

Das erneute Anknüpfen an dieses Projekt und seine theoretischen Grundlagen (die nach dem portugiesischen Ökonomen Alexandre Abreu übrigens auch für die europäische Peripherie gelten) geht mit dessen Integration in den zeitgenössischen Wirtschaftsdiskurs einher. Allerdings dient die vorherrschende neoklassische Wirtschaftstheorie der Nordhalbkugel nicht zuletzt dadurch, dass sie bestimmte strukturelle Mechanismen außer Acht lässt und kritische Stimmen aus dem Globalen Süden ignoriert. Die Wirtschaftswissenschaften müssen daher dringend entkolonialisiert werden, um sie zweckdienlicher für die Länder des Südens und deren Bevölkerungen auszurichten. Es ist daher von zentraler Bedeutung, dass in Afrika Institutionen für die Produktion endogenen Wissens aufgebaut werden. In diese Notwendigkeit reiht sich im Übrigen auch das Projekt einer Reihe von Konferenzeilnehmer*innen ein, die ein heterodoxes afrikanisches Wirtschaftsnetzwerk etablieren möchten.

Peter James Hudson erinnerte an den Roman Banjo des afroamerikanischen Schriftstellers Claude McKay aus dem Jahr 1929, der das kollektive und prekäre Leben einer Gruppe Schwarzer Hafenarbeiter in Marseille beschreibt. Er leitete zu der Aussage über, dass die Expansion des auf dem Dollar basierenden Weltwährungssystems nicht nur die Etablierung einer Ideologie, sondern auch einer Infrastruktur internationaler Währungseinrichtungen ermöglicht habe, welche dem Erhalt der imperialistischen weißen Vorherrschaft diene. Es überrasche also nicht, dass die Präsidenten der Weltbank bisher immer männliche weiße US-Bürger waren und der Internationale Währungsfonds immer von Europäer*innen geleitet wurde –  eine Art Aufgabenteilung zwischen den USA und Europa. Diese im Prinzip rassistische internationale Hierarchie spiegele sich laut Hudson im alltäglichen Umgang der Schwarzen Bevölkerungen mit Geld wider. Zur Veranschaulichung griff er wieder auf die Romanfiguren in Banjo zurück: Da ihre Arbeit größtenteils unterbezahlt oder gar nicht bezahlt ist, denken die Protagonisten ganz anders über Geld als von Wirtschaftslehrbüchern vorgesehen. Für McKays Hafenarbeiter bedeutet Geld nicht Reichtum, sondern es ist ein Symbol ihrer wirtschaftlichen Unterwerfung, des Raubs bzw. der Unterbewertung ihrer eigenen Arbeitsleistung. Geld ist in diesem Kontext nicht zum Sparen da. Es muss so schnell wie möglich ausgegeben werden. Bei seinem Vortrag machte Hudson auch darauf aufmerksam, dass die Globalisierung des Dollar und damit der weißen Vorherrschaft die Entwicklung von Ländern wie Haiti erzwungen habe. Er sieht Haiti deshalb als geeignetes Beispiel für eine Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse sowie der Erarbeitung eines globalen Reparationenprogramms.

Ein Ergebnis dieser Konferenz ist somit die Erkenntnis, dass Entkopplung keinesfalls nur eine intellektuelle Utopie ist, sondern dringend notwendig, um echte Veränderungen zu bewirken. In Ländern, denen währungspolitische Sanktionen auferlegt wurden, ist mangelnde Entkopplung eine bittere Realität, der auf intelligente Weise abgeholfen werden muss. Insbesondere der senegalesische Ökonom Ndongo Samba Sylla, Hauptorganisator der Konferenz, führte außerdem aus, dass man sich für ein solches politisches Unterfangen die afrikanische Geschichte aneignen und einen Bruch mit dem Narrativ, ein liberales Wirtschaftssystem auf der Grundlage komparativer Kostenvorteile sei für alle Beteiligten nutzbringend, herbeiführen müsse.     

Gebiete, die Entkopplung brauchen

In den Debatten kamen die Teilnehmer*innen zum Schluss, dass insbesondere die Landwirtschaft und Steuerpolitik einer Entkopplung vom Weltsystem bedürften. Wenn er sich stärker der lokalen Nachfrage zuwenden würde, könnte der Landwirtschaftssektor die lokale Wirtschaft dynamisieren, die eingesparten Devisenreserven könnten für die Stimulierung der inländischen Produktionskapazitäten eingesetzt werden. Genau dieser Sektor hat nämlich vielen Ländern in Asien (insbesondere China) ermöglicht, in den 1960er Jahren eine Industrialisierung zu finanzieren, auch wenn man hierbei nicht vergessen darf, dass die Größe des Binnenmarktes in China mit den meisten Ländern Afrikas nicht zu vergleichen ist.

Ein solches Währungssystem verwehrt den Regierungen die Möglichkeit, den Wechselkurs als ausgleichendes Instrument für externe Schocks einzusetzen.

Bei der Steuerpolitik betonte Souad Aden-Osman, Direktorin des Sekretariats der Hochrangigen Gruppe der Afrikanischen Union über illegale Finanzströme aus Afrika, dass es notwendig sei, die Finanzflüsse stärker zu regulieren, da sie das souveräne staatliche Recht der Besteuerung unterlaufen und, entgegen dem vorherrschenden Narrativ, eher das Ergebnis der Praktiken multinationaler Konzerne und krimineller Netzwerke und nicht der Korruption afrikanischer Eliten seien. Sie merkte ebenfalls an, dass verschiedene multilaterale und bilaterale Akteur*innen, wie die OECD, die EU und die GIZ um jeden Preis verhindern wollen, dass sich die UNO[1] dieses Problems annehme.

Bei der Landwirtschaftspolitik unterstrich Max Ajl, Forscher an der Beobachtungsstelle für Lebensmittelsouveränität und Umwelt in Tunis, die Notwendigkeit einer «ökologischen Entkopplung» mit Hilfe agrarökologischer Methoden und führte die Entwicklungen Chinas, Vietnams und Kubas in den 1970er Jahren als Vorbild an. Er verwies ebenfalls auf die Möglichkeit von Reinvestitionen in die Schwerindustrie. Letzteres wurde mit einiger Skepsis aufgenommen, da die jüngere Vergangenheit gezeigt hat, dass vor allem kleine Länder ohne strategische Süd-Süd-Partnerschaften kaum in der Lage sind, Skaleneffekte zu erreichen. Gleichzeitig betonte Andrew Fischer, dass wo ein Wille sei, sich auch ein Weg finden lasse, wie die asiatischen Länder bewiesen hätten.

Insgesamt kam man zu dem Schluss, dass das neoliberale Wirtschaftsdenken zu dominierend sei.  Jomo Kwame Sundaram rief zu einem «intellektuellen Aufstand» auf, mit dem man der in vielen Ländern des Südens stattfindenden Deindustrialisierung entgegentreten könne. Dieser Aufstand müsse institutionalisiert werden. Er vertrat die Ansicht, dass bei einer Entkopplung berücksichtigt werden müsse, dass der Dienstleistungssektor heute in den meisten Ländern des Südens bedeutender sei als der Fertigungssektor. Man müsse auch die Tatsache einbeziehen, dass der afrikanische Kontinent bei den nationalen produktiven Kapazitäten eine große Vielfalt aufweise. Außerdem unterstrich er, dass der Vorteil des afrikanischen Kontinents in der starken panafrikanischen Identität liege. In anderen Teilen der Welt denken Nationen und Völker nicht unbedingt in der Kategorie einer aus dem Schicksal des Kontinents entstandenen Verbundenheit.

Herausforderungen bei der Entkopplung

Mehr Währungssouveränität räumt Regierungen mehr Haushaltsspielraum ein und ermöglicht es ihnen, die Entwicklung und Leistungen der nationalen Haushalte besser zu steuern, ohne in die Inflation abzugleiten. Dies wurde sehr deutlich von Chafik Ben Rouine von der Tunesischen Beobachtungsstelle für Wirtschaft gezeigt. Er bezog sich hierbei auf den Vortrag von Fathimath Musthaq, Professorin für Politwissenschaften am Reed College, die sich mit der Geschichte unseres aktuellen Währungssystems beschäftigt sowie auf die Vorträge von Jamee Moudud über den Zusammenhang zwischen Währungssouveränität und Rechtssystemen und auf den Beitrag von Jean‑Michel Servet über die soziale Dimension des Geldes.

Währungssouveränität wird gemessen an der Art von Währung, die eine Regierung verwendet, gepaart mit dem Verschuldungsniveau in ausländischer Währung. Die afrikanischen Länder der CFA-Franc-Zone befinden sich daher ganz unten in der Währungshierarchie. Der Wechselkurs ihres Geldes ist direkt an den Euro gebunden und alle Länder dieser Zone haben eine hohe Auslandsverschuldung. Auch Ali Zafar vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen zeigte, dass die Bindung des CFA-Franc an eine so starke Währung wie den Euro aus entwicklungsorientierter Perspektive nicht sinnvoll sei, denn diese führe zu einer chronischen Überbewertung des CFA-Franc. Für CFA-Franc-Länder wirkt die Euro-Bindung wie eine Exportsteuer und eine Importsubvention. Ein solches Währungssystem verwehrt den Regierungen die Möglichkeit, den Wechselkurs als ausgleichendes Instrument für externe Schocks einzusetzen. Es wird dadurch schwieriger, die lokale Produktion wettbewerbsfähig und damit attraktiver als den Import von Gütern zu machen. Außerdem müssen die jeweiligen Zentralbanken der beiden CFA-Blöcke für eine feste Parität sorgen, was zur Anhäufung von Währungsreserven und zur Rationierung von Krediten führt, die ja aber den Zement jeder kapitalistischen Wirtschaft bilden. Safar beschrieb diesen Sachverhalt wie folgt: Die Franc-Zone versuche die ganze Zeit, «einen Marathon mit einem Kühlschrank auf dem Rücken zu laufen». Als konkrete Methode zur Entkopplung könnte man seiner Meinung nach den CFA-Franc an einen Währungskorb anbinden anstatt an den Euro, dem gegenüber ein fester Wechselkurs gilt.

Neben diesen Hindernissen in den CFA-Franc-Zonen, die einer selbstzentrierten Währungspolitik im Wege stehen, wirken sich auch Scheinlösungen nachteilig auf die Unabhängigkeit und finanzielle Stabilität der Länder des Südens aus. Ein Beispiel hierfür ist die «makroprudenzielle Regulierung». Wie der indische Ökonom C.P. Chandrasekhar erklärte, greift diese mit Vorliebe auf vom Markt vermittelte Stabilisierungsmaßnahmen zurück, statt strukturelle Maßnahmen zur Kontrolle der Kapitalflüsse zu ergreifen und eine Reglementierung des Devisenhandels vorzunehmen. Die erstgenannten Maßnahmen führen zu einer fortschreitenden strukturellen Schwächung des Staates, sagt Daniela Gabor, Spezialistin für kritische Makrofinanzen – und zwar aufgrund ihrer Logik des «Derisking».

Nach dieser Logik ist der «Entwicklungsrückstand» der Länder des Südens vor allem eine Frage von Finanzrisiken. Folglich muss der Staat durch sein Eingreifen, vor allem wenn es um das Ziel der sogenannten «grünen» Wirtschaft geht, das Risiko-Ertrags-Profil von privat investiertem Vermögen günstig beeinflussen. Das Problem bei diesem «grünen Derisking» besteht darin, dass der Staat zwar dem Anschein nach beginnt, Verantwortung für die innerstaatliche Entwicklung zu übernehmen, faktisch aber den Rhythmus und das Wesen der Transformation sowie das Management des öffentlichen Gutes dem Privatsektor überlässt. Gabor weist daraufhin, dass diese Funktionsweise am Ende eine Form von neokolonialem Extraktivismus fördert: Die Länder des Südens bleiben in ihrer Rolle als Finanzertragsquelle für globale Finanziers und als Abnehmer*innen technologischer Produkte aus stärker industrialisierten Ländern stecken.

Hamza Hamouchene vom Transnational Institute veranschaulichte diese Tatsache am Beispiel der sogenannten «grünen» Projekte, die von europäischen Ländern in Nordafrika gefördert werden. Die kenianische Umweltaktivistin Ikal Angelei wies darauf hin, dass die aktuelle ökologische Krise vom globalisierten Privatsektor als neue Gelegenheit, Profite zu erwirtschaften, wahrgenommen wird – was neue Abhängigkeiten schafft.

Ein letztes großes Hindernis für die Währungssouveränität hat im Verlauf der gesamten Konferenz und insbesondere in den Vorträgen der beiden südafrikanischen Ökonomen Redge Nkosi und Horman Chitonge viel Aufmerksamkeit erfahren. Die Rede ist von der Auslandsverschuldung. Aufgrund der Liberalisierung der Finanzmärkte, der Volatilität der Rohstoffpreise sowie des tendenziellen Rückgangs von Entwicklungshilfen erreicht diese immer lähmendere Ausmaße. Es wurden zwei Auswege aus dieser Hypothek auf die wirtschaftliche Transformation der Länder des Südens vorgeschlagen: 1.  die Mobilisierung inländischer Finanzierungen in der jeweiligen nationalen Währung, was auf die Lehren der «Modernen Geldtheorie» hinausläuft, und 2. die Möglichkeit, die «verabscheuungswürdige Schulden», im Deutschen auch «Diktatorenschulden» genannt, zu tilgen, wie Éric Toussaint sie in Anlehnung an den von Alexander Sack 1927 geprägten Begriff der «odious debts» nennt. Schulden aus Krediten also, die nie bei der Bevölkerung ankamen, und die von den Gläubigern in vollem Wissen dieser Tatsache vergeben wurden. Nach Toussaint handelt es sich bei der Auslandsverschuldung Afrikas zum größten Teil um solche «verabscheuungswürdige Verschuldung». Manchmal leitet sich diese aus exogenen Umständen her, auf die die afrikanischen Länder sehr wenig Einfluss haben, wie etwa aus dem Klimawandel, dem Krieg in der Ukraine oder der Erhöhung der Zinssätze durch die westlichen Zentralbanken. Die Auslandsverschuldung des Kontinents könnte erheblich gesenkt werden, wenn seine Ersparnisse nicht als illegale Finanzströme ins Ausland abflössen und sich die afrikanischen Wirtschaften mehr an der internen Nachfrage orientieren würden.

Manche afrikanischen Staatschefs, insbesondere der senegalesische Präsident Macky Sall, haben bereits zur Neuverhandlung der afrikanischen Verschuldung aufgerufen, doch dieser Weg wird kein leichter sein. Éric Toussaint führte aus, dass Afrika innerhalb der internationalen Finanzinstitutionen nur wenig Gewicht habe. Zum Beispiel hat es nur 4 % der Stimmen in der Weltbank. Das Problem sei tief verankert, denn die Verschuldung diene den Ländern des Nordens als Kontrollmechanismus über die Ressourcen der Länder des Südens. Ganz zu schweigen davon, dass die Auslandsverschuldung den afrikanischen Eliten in die Taschen spiele. Auf der einen Seite seien Auslandsschulden für diese nämlich eine Alternative zu Steuererhöhungen im jeweils eigenen Land und auf der anderen Seite können sie in die Titel dieser Auslandsschulden gut investieren, da der Staat die damit verbundenen Risiken möglichst tief halte und sie auch noch besonders hohe Zinssätze bieten. Éric Toussaint ist einer der wenigen Referent*innen der Konferenz, der aufzeigte, dass man für eine strukturelle Veränderung des Weltwährungssystems auch die Rolle und die Interessen der lokale Akteur*innen auf den Prüfstand stellen muss.

Hindernisse überwinden

Ein anderes Thema, das vornehmlich aus afroamerikanischer Perspektive, aber auch aus feministischem Blickwinkel diskutiert wurde, insbesondere von Crystal Simeoni vom Afrifem Macroeconomics Collective und von Lebohang Liepollo Pheko vom Trade Collective in Johannesburg, war die Frage globaler Reparationen. Pheko führte aus, dass die Zahlung von Reparationen an die Länder des Südens weit mehr als ein wirtschaftlich notwendiges Ausbalancieren des globalen Wirtschaftssystems bedeuteten. Mit Reparationen würden die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit konkret anerkannt werden, z.B., dass was als «Common Wealth» deklariert wurde, in Wahrheit ein «Common Theft» gewesen sei. Die Betroffenen würden somit endlich auch gefühlt als souveräne Staatsbürger*innen anerkannt.

Sowohl Franklin Obeng-Odoom von der Universität Helsinki als auch Lisa Tilley von der SOAS University of London zeigten den Zusammenhang zwischen dem kolonialem Extraktivismus und der aktuellen Umweltkrise auf. Diese grundlegende Erkenntnis, die in gewisser Weise die Basis der ganzen Konferenz war, wurde anschließend von Keston Perry vom Williams College noch einmal untermauert.

Am Beispiel von Haiti zeigte er, dass die auf Sklaverei basierende Plantagenwirtschaft der Vergangenheit eng mit der Schädigung der Umwelt verknüpft ist. Folglich stellt die heutige Umweltkrise für den Autor eine konkrete materielle Ausgangslage für Reparationszahlungen dar. Angesichts des bisherigen Scheiterns dieser Bemühungen auf internationaler Ebene müssen diese nicht von den Nationalstaaten, sondern vielmehr von einer panafrikanischen Volksbewegung getragen werden, die tief in Gemeinschaftsorganisationen verankert sein muss.

Es geht jetzt darum, die gewonnenen Kenntnisse auf allgemein verständliche Weise zu teilen und in aller Demut in den Dienst jener Gemeinschaften zu stellen, deren strukturelle Benachteiligung gerade analysiert wurde.

Matthew Robinson steht zwar hinter dieser Agenda, relativiert sie aber etwas. Er bezieht sich auf die Vorbereitungen für Reparationen an die afroamerikanische Gemeinschaft in Kansas City: Die Leitungen müssten repariert werden, bevor man den Wasserhahn aufdrehe. Damit meint er, dass Strukturen aufgebaut werden müssen, mit denen sichergestellt ist, dass das Geld nützlich investiert wird und den Empfänger*innen nachhaltig zugutekommt.

Umfassendere Vorschläge zur Entkopplung wurden auch von Nancy Kachingwe, Feministin aus Zimbabwe, gemacht. Sie empfahl eine Abschaffung des patriarchalen und kolonialistischen Status quo mittels einer Art feministischen Entkopplung. Dzodzi Tsikata von der Universität von Ghana schlug vor, die Sozialpolitik neu zu bewerten, anstatt den Fokus nur auf die Wirtschaftspolitik zu richten und der deutsche Forscher Matthias Schmelzer vertrat die Ansicht, dass die Schrumpfung in den Ländern des Nordens dafür sorge, dass den Ländern des Südens Gerechtigkeit zuteilwerde.

Der unabhängige Makroökonom Peter Doyle ergänzte diese Forderungen um zwei konkrete Anliegen, die darauf abzielen, das 1,5-Grad-Ziel bei einer gleichzeitigen Garantie für eine bessere weltweite wirtschaftliche Gleichstellung zu erreichen. Er schlug vor, die weniger entwickelten Länder von jeglicher Beschränkung von CO2-Emissionen auszunehmen, bis sie ein mit der OECD gleichwertiges Pro-Kopf-Einkommen erreicht haben. Hierfür legte er die Einführung einer Ineffizienz-Gebühr im Bereich der Emissionen für die OECD-Länder nahe. Er empfiehlt des Weiteren die Einrichtung eines Fond de Récupération Mondial, der sich aus Steuern der Milliardär*innen dieser Welt speisen und die erforderlichen Technologien finanzieren soll. Alle diese innovativen Vorschläge führen uns jedoch zu der Frage, wie diese alternativen Strukturen erschaffen werden sollen.

Vom Warum zum Wie

Am Ende der Konferenz wies ein lokaler Teilnehmer darauf hin, dass das grundlegende Problem in Afrika seiner Meinung nach darin bestehe, dass es im Gegenteil zu Asien – der Fabrik der Welt – und Südamerika – dem Obst- und Gemüsegarten der Welt – die Mine der Welt geblieben sei, sprich ein Ort, wo man sich Rohstoffe herhole.

Die Konferenz war den Fragen gewidmet, wie Afrika sich aus dieser extraktiven Knechtschaft befreien, wie es sein Geld in den Dienst seiner Bevölkerungen stellen und wie es Reichtümer produzieren und bei sich behalten kann. Das globale Wirtschafts- und Finanzsystem dient ganz offensichtlich nicht diesen Zielen. Im Gegenteil, seine Wirkmechanismen stehen im Dienste des extraktiven Systems, das dazu beiträgt, einen Teil der Weltbevölkerung in Armut zu halten und die Ressourcen des Planeten zugunsten einer kleinen Minderheit Privilegierter bis zur Erschöpfung auszubeuten.

Man muss sich allerdings dessen bewusst sein, dass sich an diesem System und an dem Platz, der Afrika darin zugewiesen wurde, ohne den Druck breiter Allianzen verschiedener sozialer Kräften auf nationaler und internationaler Ebene nichts ändern wird. Oder, um es mit den Worten von Souad Aden-Osman auszudrücken: Solange diese Visionen bei Tisch nicht zu hören sind, werden ihre Verfechter*innen weiter auf der Speisekarte stehen.

Was ist nun zu tun? Nach der strukturellen Analyse des aktuellen Währungs- und Wirtschaftssystems, die gemeinsam vorgenommen wurde, müssen die – internen wie externen – politischen Kräfte ermittelt werden, die Dinge verändern und eine Sprache und Ideen entwickeln können, die den Diskurs in konkreten Realitäten verankern, insbesondere in der Realität der jungen Generation, die bis heute von der Diskussion ausgeschlossen war. Es geht jetzt darum, die gewonnenen Kenntnisse auf allgemein verständliche Weise zu teilen und in aller Demut in den Dienst jener Gemeinschaften zu stellen, deren strukturelle Benachteiligung gerade analysiert wurde. Gleichzeitig müssen die Gelegenheiten genutzt werden, die sich gerade am Horizont abzeichnen. Denn wie es jetzt aussieht, wird Afrika souverän sein oder es wird nicht sein.

Übersetzung von Margarete Gerber und Tabea Xenia Magyar für Gegensatz Translation Collective.


[1] Ende November 2022 haben die Länder des Südens die Verabschiedung einer UN-Resolution erwirkt, um unter Leitung einer zwischenstaatlichen Behörde Verhandlungen über Fragen zum globalen Steueraufkommen aufnehmen zu können. Siehe: https://www.theguardian.com/world/2022/nov/23/un-agrees-global-tax-rules-resolution-giving-developing-nations-greater-say