Nachricht | Mittelweg 36, 32. Jg., Heft 1 (Februar/März 2023)

Von Renegaten und Posern

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Vor allem die Geschichte der Linken ist reich an vornehmlich männlichen Renegaten, Abtrünnigen, Konvertiten, Verrätern und Häretikern. Dass Renegaten aber auch in unserer krisenzerrütteten Gegenwart zugegen sind und hier um die politische wie publizistische Aufmerksamkeit ringen, darauf macht das von den Literaturwissenschaftler:innen Carolin Amlinger, Nicola Gessund Lea Liesesorgfältig kuratierte Heft des Mittelweg 36 mit dem Titel Renegaten. Konjunktur einer Kippfigur aufmerksam. Sieben inhaltliche Beiträge vermessen das Thema, empfohlen sei zudem der begleitende Podcast, in dem Jens Bisky(leitender Redakteur der Zeitschrift) mit Amlinger ein anregendes Gespräch über Heft und Inhalt führt.1

Noch immer ist der Renegat eine Figur, die in den allermeisten Fällen politisch von links nach rechts wandert. Beispiele, bei denen es andersherum verlief, gibt es äußerst wenige und sie spielen im Heft keine Rolle. Im Fokus stehen die narrativen Schemata, Fragen der Selbsterzählung und -inszenierung. Die drei Kuratorinnen eröffnen das Heft mit einem Überblicksartikel, der geschickt auf wenig Raum Vergangenheit und Gegenwart verknüpft und eine einführende Systematisierung liefert, ohne sich in Details zu verlieren. Was allerdings hilfreich gewesen wäre: eine exakte Differenzierung der eingangs aufgeführten Begrifflichkeiten.

Julian Müller spürt in seinem Beitrag den Konversionsgeschichte von gegenwärtigen Renegaten wie Jan Fleischhauer, Rainer Hank und Manfred Kleine-Hartlage nach. Er arbeitet anhand deren autobiografischen Veröffentlichungen grundlegende Charakteristika der Erzählung über das Zum-Renegaten-Werden heraus.

Konfus und ohne Stringenz ist der Artikel von Philip Felsch, dessen Überschrift Augenblick und Ewigkeit. Fluchtpunkte intellektueller Ernüchterung nicht recht zum dargebrachten Text passen will, oder zumindest ganze andere Erwartungen weckt, als erfüllt werden. Die Betrachtungen beginnen bei Jean-Jaques Rousseau als «Renegat der aufgeklärten Gesellschaft», der Frage von intellektuellen Spannungen als dem Bruchpunkt sowie den angespannten Erwartungen einer- und «Prognosen langer Dauer» anderseits. Zuletzt fällt der Name Arnold Gehlen, gefolgt von abschließenden Zeilen zum Maler Neo Rauch.

Das Gespräch mit Wolfgang Ullrichverfolgt das Thema mit dem Fokus auf die Kunstszene. Adrian Daub schließt mit einer Analyse ausgewählter Campusromane an und verknüpft dadurch das Thema mit Fragen des US-amerikanischen Neokonservatismus, der sich auf die sog. Culture Warsund die «free speech» an Universitäten als Themen eingeschossen hat.

Heimlicher Höhepunkt ist Albrecht KoschorkesBeitrag Lecht und rinks. Seitenwechsel in Zeiten der Polarisierung. Auf einer übergeordneten Ebene fragt er nach den Positionierungen und sozialstrukturellen Zusammenhängen, die den Weg des Renegaten ebnen, und schlägt den Bogen bis hin zu Verschwörungstheorien und Corona-SkeptikerInnen.

Astrid Séville unternimmt zuletzt den Versuch, anhand der Personen Manfred Kleine-Hartlage, einem Sozialwissenschaftler und Publizisten, und der Politiker:innen Alice Weidel und Tino Chrupalla rechtspopulistisches Renegatentum als politische Pose zu dechiffrieren. Der Versuch vermag mit Blick auf die AfD-Politiker nicht zu überzeugen – dass beide sich auf jeweils ganz eigene Weise inszenieren, ist nachvollziehbar. Aber das Moment des Renegaten ist hier längst nicht so dominierend, wie es die Autorin aufzeigen will und auch ihr Populismus-Begriff bleibt blass. Gelungen ist es ihr aber dennoch, die Inszenierung der beiden bloßzulegen.

Bei aller Vielfältigkeit der Beiträge lässt sich festhalten: der Renegat benötigt Öffentlichkeit und öffentliche Aufmerksamkeit, um Zeugnis über sich, seinen Weg und seine Erkenntnisse und Einsichten abzulegen. Es geht vielfach um bloße Aufmerksamkeit, sich wichtigmachen und wichtig sein. Und im Vergleich zu früheren Zeiten, muss man sich schon fragen: was riskieren diese Menschen eigentlich schon? In der westlichen Welt sicherlich nicht ihr Leib und Leben. Vermeintlich heroische Kämpfe um die Sache stehen neben dem Anliegen, gegen den (mitunter / in der Regel herbeiphantasierten: vorgeblich linken) Mainstream zu sein. Und vielleicht ist hier ein Punkt getroffen: Renegat kann eben auch bedeuten, prinzipiell gegen den gegenwärtigen Zeitgeist und die aktuelle Mehrheit zu sein und dabei eine eigene Wirkmächtigkeit entfalten zu wollen. Eine ‚psychologische‘ Perspektiverweiterung, die in dem Heft aber jedoch nicht vorkommt.

Die Beiträge sind allesamt gut und nachvollziehbar geschrieben, so dass sich die LeserInnen voll und ganz auf die jeweilige Argumentation einlassen können. Es werden anregende Analysen geliefert, die die Orientierung in der Gegenwart ermöglichen und das eigene Weiterlesen und -beobachten anregen. Insbesondere mit Blick auf die Linke gibt es aktuell genügend Material: Ukraine-Krieg und Corona wären als Fortsetzung des Themas naheliegend.

In historischer Hinsicht wäre es künftig verdienstvoll, einen Blick auf Alfred Meusels(1896-1960) Theorem der Soziologie der Abtrünnigen zu riskieren, werden hier doch Klassenfragen mitverhandelt, die zumindest diesem Heft nur ganz an Rande eine Rolle spielen, aber ganz sicher in den Themenkosmos gehören.

Abgerundet wird das Heft durch den Beitrag Dirk Baeckers in der Reihe Ortstermine. Er schreibt äußerst anschaulich und persönlich über Vergangenheit und Gegenwart der Universität Bielefeld.

Renegaten. Konjunktur einer Kippfigur, Mittelweg 36, 32. Jg., Heft 1 Februar/März 2023, 104 Seiten, 12 Euro