Der Dokumentarfilm «Gefängnis oder Exil» thematisiert die Lebensabschnitte ehemaliger HDP-Politiker*innen, die nach der zunehmenden autokratischen Entwicklung in der Türkei ins europäische Exil geflüchtet sind. Der Film von Şerif Çiçek, Onur Güler und Adil Demirci wurde unter anderem auf dem 15. Exil-Filmfestival in Göteborg/Schweden gezeigt und ist hier veröffentlicht. Im Gespräch mit Svenja Huck erklärt Adil Demirci die Hintergründe der Protagonist*innen.
Svenja Huck: Euer Film «Gefängnis oder Exil» zeigt ehemalige HDP-Abgeordnete und Bürgermeister*innen, die sich nun im europäischen Exil befinden. Welche Möglichkeiten gibt es für sie, weiterhin politisch aktiv zu sein?
Adil Demirci: Die Frage kann man natürlich nicht für alle gleich beantworten. Die HDP ist in Europa gut vernetzt, sie arbeitet sehr eng mit den Linken, Grünen und der SPD zusammen. Da gibt es für die Exil-Abgeordneten und Bürgermeister*innen durchaus Möglichkeiten, die Stimme der HDP in Europa auf der politischen Ebene zu vertreten. Des Weiteren gibt es auch die Möglichkeit, die Repression gegenüber der HDP und allen Oppositionellen in den Medien und auf Kundgebungen zu thematisieren und die Solidaritätsarbeit mit den Betroffenen sowie den politischen Gefangenen zu stärken. Das gibt Ihnen auch die Kraft, die Zeit im Exil gut zu überstehen. Gleichzeitig motiviert es die Menschen, die bereits in den 80er oder 90er Jahren ins Exil flüchten mussten.
Fırat Anlı, ehemaliger Ko-Bürgermeister von Diyarbakır, sagt über die Schweiz, «Hier werden wir nur für eine kurze Zeit bleiben». Welche realen Aussichten auf eine Rückkehr in die Türkei gibt es für diese Menschen?
Die Präsidentschafts-und Parlamentswahlen vom 14. Mai werden über das Schicksal der Türkei entscheiden. Viele haben natürlich die Hoffnung, dass die Ära Erdoğan nach mehr als 20 Jahren endlich endet und dann ein Demokratisierungsprozess in der Türkei beginnt. Einigen Umfragen zufolge scheint es auch realistisch zu sein, dass der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu gewinnt. Das macht vielen Menschen Mut und gibt ihnen Hoffnung, dass die langjährigen Gerichtsprozesse und -urteile revidiert werden und sie in die Türkei zurückkehren können.
Auch die Unsicherheiten im europäischen Asylsystem werden angesprochen, wie lange Bearbeitungszeiten und parteiische Übersetzer*innen. Ist der Asylstatus von hochrangigen Politiker*innen hier sicher?
Im Film spricht Nursel Aydoğan mit dem ehemaligen Bürgermeister von Diyarbakır Zülküf Karatekin über sein Asylverfahren in Österreich. Bei seinem Verfahren kam es zu Komplikationen mit der Übersetzung. Der Übersetzer hatte seine Aussagen und politische Statements bewusst falsch übersetzt und die Kritik an das türkische Justizsystem nicht mit ins Protokoll aufgenommen. Karatekin konnte die Zeit gut überstehen, weil er gut vernetzt und starke Unterstützung von der Volkshilfe, einem sozialen Träger in Linz/Österreich bekommen hat. Jedoch haben nicht alle Geflüchtete diese Möglichkeit. Das zeigt sich auch bei den Asylverfahren von Menschen mit kurdischer Abstammung in Deutschland. Nur eine kleine Minderheit der kurdischen Schutzsuchenden bekommt einen Aufenthaltstitel zugesprochen, die Quote liegt laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei 13 Prozent.
Die Abgeordnete Nursel Aydoğan sagt an einer Stelle «Zwangsverwalter einzusetzen bedeutet, den Willen des Volkes nicht anzuerkennen.» Wie blickst du mit dieser Erfahrung auf die kommende Wahl, würde die AKP eine Wahlniederlage akzeptieren?
Diese Frage beschäftigt gerade alle Menschen in der Türkei und im Ausland. Präsident Erdoğan und die AKP sind ein Bündnis mit den Rechtsextremisten von der MHP (Graue Wölfe) und der BBP(Büyük Birlik Partisi - Partei der Großen Einheit) sowie mit den Islamisten von der HÜDA-PAR (Ableger der türkischen Hizbullah) eingegangen. Diese kleinen Parteien stehen für Gewalt auf der Straße und politische Morde, die sie in den 80er und 90er Jahren gegen die linke und kurdische Bewegung ausgeübt haben. Daraus lässt sich schließen, dass Präsident Erdoğan jede Möglichkeit nutzen wird, um an der Macht zu bleiben, und sei es mit Gewalt.