Hintergrund | Arbeit / Gewerkschaften - USA / Kanada - Gewerkschaftliche Kämpfe Streiken fürs Gemeinwohl: Lernen von den US-Gewerkschaften

Gewerkschaften in den USA müssen unter viel härteren Bedingungen kämpfen, das macht sie innovativer.

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Autorin

Fanny Zeise,

Mitglieder der Service Employees International Union Local 99 streiken mit Unterstützung von Lehrer*innen der LAUSD den dritten Tag in Folge und marschieren zu einer Kundgebung in Los Angeles am 23. März 2023.
«Spar nicht bei der Bildung»
Mitglieder der Service Employees International Union Local 99 streiken mit Unterstützung von Lehrer*innen der LAUSD den dritten Tag in Folge und marschieren zu einer Kundgebung in Los Angeles, 23.3.2023. Foto: IMAGO / UIG

Unterrichtsausfall wegen fehlender Lehrkräfte, übervolle Notaufnahmen in Krankenhäusern und lange Schlangen vor Bürgerämtern: Der desolate Zustand der öffentlichen Daseinsvorsorge offenbarte sich in den vergangenen Monaten eindrücklich – grundlegende Verbesserungen sind allerdings nicht in Sicht. Um diese gesellschaftlich zu erkämpfen, könnten sich die hiesigen Gewerkschaften ein Beispiel an den USA nehmen.

Die Probleme der staatlichen Daseinsvorsorge sind seit Jahren bekannt und wurden spätestens mit der Coronapandemie für alle sichtbar – ob beim unzureichenden Nah- und Fernverkehr, fehlenden Kitas oder unterfinanzierten Kinderkliniken. Doch es gibt massive politische Hürden, die grundlegenden Veränderungen entgegenstehen: Regelungen wie das europäische Abkommen zur Haushaltsstabilität und die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse sichern die vorherrschende neoliberale Austeritätspolitik institutionell ab. Um in Auseinandersetzungen für einen bedarfsgerechten Ausbau öffentlicher Dienstleistungen wirksam Boden zu gewinnen, sind daher neue Strategien gefragt. Innovative Perspektiven dafür bieten die jüngsten erfolgreichen Auseinandersetzungen der Lehrkräfte in den USA.

Fanny Zeise ist Referentin für Arbeit, Produktion, Gewerkschaften bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Eine Streikwelle von Lehrkräften in sechs US-Bundesstaaten, darunter West Virginia, Oklahoma und Kentucky, die spontan im April 2018 begann, konnte wider Erwarten weitreichende Erfolge erzielen. An einem weiteren fulminanten Streik der United Teachers Los Angeles (UTLA), der Gewerkschaft der Lehrkräfte, beteiligte sich 2019 mit 30 000 von 34 000 Lehrer*innen eine überwältigende Mehrheit der dortigen Beschäftigten. Neben höheren Löhnen und kleineren Klassen setzten die Streikenden auch Grünflächen an jeder Schule und einen Rechtshilfefonds für von Abschiebung bedrohte Schüler*innen durch. Zudem konnten sie mit dem ersten Streik seit 1989 die angekündigte Ausweitung von Privatschulen verhindern.

Auf dem Weg zu diesem historischen Erfolg trafen die Gewerkschafter*innen auf enorme Schwierigkeiten: das restriktive US-Streikrecht, die neoliberal geprägten politischen Rahmenbedingungen in Kalifornien sowie eine seit Jahrzehnten kaputtgesparte öffentliche Schullandschaft, gegen die schon seit 2015 eine professionelle Kampagne zugunsten von mehr Privatschulen geführt wurde. Zunächst mit Erfolg: Die Leitung der Schulbehörde wurde mit Privatisierungsbefürwortern besetzt.

Wie gelang es der Gewerkschaft, trotz dieser Hürden erfolgreich zu sein, und was können deutsche Gewerkschaften daraus lernen?

Die Lehrergewerkschaft stellte das Gemeinwohl in den Mittelpunkt: ein besseres und ausfinanziertes Bildungssystem.

Die hohe Streikbeteiligung verdankte sich dem jahrelangen Aufbau von Gewerkschaftsmacht mittels sogenannter Organizing-Methoden[1] zur Mobilisierung der Basis vor Ort. Schon seit 2015 zielten diese in Los Angeles auch darauf ab, Elternbündnisse einzubinden. Mit dem Ansatz des «Bargaining for the Common Good» («Verhandeln für das Gemeinwohl») stellte die Lehrergewerkschaft nicht Gehaltsforderungen, sondern das Gemeinwohl in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung: ein besseres und ausfinanziertes Bildungssystem.[2]

Im Bündnis mit Schüler*innen, Eltern und der lokalen Community stellten die UTLA und andere Lehrergewerkschaften zu Beginn der Tarifrunde gemeinsame Forderungen auf, die über Gehaltserhöhungen und kleinere Klassen hinausgingen und damit rechtlich nicht als tariffähig galten. Angesichts der massiven Unterfinanzierung der Schulen drohten bloße Lohnforderungen in der Bevölkerung, aber auch unter den Lehrkräften selbst, als zynisch wahrgenommen zu werden. Mit dem Fokus auf das Gemeinwohl hingegen konnte breit getragener politischer Druck gegen die Austeritätspolitik aufgebaut werden.

Das Gemeinwohl in den Fokus zu nehmen und mit gewerkschaftlichen Forderungen zu verknüpfen, ist kein völlig neuer Ansatz. Beschäftigte vieler Berufe wünschen sich neben ausreichender Bezahlung ein Arbeitsumfeld, das ihre Tätigkeit nicht konterkariert. So setzen sich Pflegekräfte für mehr Personal ein, weil sie die mangelhafte Versorgung der Patient*innen mit ihrem Pflegeethos nicht vereinbaren können. In Deutschland unterstreicht ihr Slogan «Mehr von uns ist besser für alle», wie unmittelbar hier die Anliegen von Beschäftigten und das Gemeinwohl in eins fallen.

Die Streiks der Lehrkräfte in den USA intensivierten, systematisierten und popularisierten die gemeinwohlorientierte Herangehensweise: So wurden erstens die Forderungen zusammen mit Bündnispartnern und Betroffenen aufgestellt und eine gemeinsame Strategie für die Tarifrunde entwickelt. Dadurch entstanden enge und langfristige Beziehungen.

Die Forderungen nahmen zweitens die jeweils speziellen Anliegen aller Betroffenen auf. Und drittens setzten die Beschäftigten ihre Macht in den Tarifverhandlungen gezielt für diese Gemeinwohlforderungen ein – in Form von Arbeitsniederlegungen. Weil die Behörde kein verhandlungsfähiges Angebot vorlegte, rief die UTLA schließlich zu einem sechstägigen Streik auf. Dadurch verschoben sich die Kräfteverhältnisse deutlich. Neben dem fast vollständigen Ausstand an den Schulen zeigten die täglichen Demonstrationen mit etwa 60 000 Lehrkräften, Schüler*innen und Eltern, dass die gesellschaftliche Stimmung auf Seiten der Streikenden war.

Neben den gemeinsamen Demonstrationen mit Elternbündnissen und anderen waren Besuche bei Politiker*innen und bildungspolitische Diskussionsveranstaltungen sowie die Notbetreuung und Verpflegung junger Schüler*innen berufstätiger Eltern integrale Bestandteile des Streiks der Lehrkräfte. Angesichts der Tatsache, dass Streiks schon seit Jahren nicht mehr als Druckmittel genutzt – oder regelmäßig für illegal erklärt – worden waren, war diese Solidarität sehr wichtig.

Die Verknüpfung von Bündnisarbeit und Massenstreiks entfaltete ausreichend politischen Druck für die gewerkschaftlichen Forderungen.

Sie ermutigte die Beschäftigten und erschwerte Repressionen gegen die Streiks. Diese Verknüpfung von Bündnisarbeit und Massenstreiks entfaltete ausreichend politischen Druck für die gewerkschaftlichen Forderungen. Zwar reagierte die Schulbehörde in Los Angeles zunächst mit einer Klage gegen den Streik. Angesichts der drohenden Illegalisierung des Arbeitskampfes strich die UTLA die nicht tariffähigen Forderungen formal aus ihrem Verhandlungskatalog, sicherte ihren Bündnispartnern jedoch zu, die Themen der Community weiterhin stark zu machen, wenn es zu Verhandlungen käme. Auf diese Weise ließ die gewachsene Zusammenarbeit des Bündnisses die Klagen der Schulbehörde gegen den Streik ins Leere laufen.

Unter hohem politischem Druck intervenierten schließlich der Bürgermeister von Los Angeles und der Gouverneur des Bundesstaates Kalifornien und zwangen die Schulbehörde, auf die Lehrkräfte zuzugehen. Die Strategie der UTLA – die Annahme der Forderungen der Community zur politischen Vorbedingung von Tarifverhandlungen zu machen – ging auf. Auf diese Weise konnte die Gewerkschaft nicht nur die unmittelbaren Arbeitsplatzinteressen, sondern auch die gesellschaftspolitischen Forderungen ihrer Mitglieder und Bündnispartner durchsetzen.[3]

Viele Anregungen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit kommen aus den USA, weil die dortigen Gewerkschaften sich innovativ unter sehr viel härteren Bedingungen als hierzulande durchsetzen müssen. Auch in der Bundesrepublik verschlechtern verschärfte Austeritätsregeln und Privatisierungen seit Anfang der 1990er Jahre die Arbeitsbedingungen im Nahverkehr, in Kliniken oder bei der Post massiv. Der permanente Sparzwang blutet den öffentlichen Dienst aus, immer weniger Personal muss die gleiche oder meist sogar mehr Leistung erbringen, und die Qualität der Daseinsvorsorge leidet.

Die Gewerkschaften, die sich lange auf ein sozialpartnerschaftliches Verhältnis zu den öffentlichen Arbeitgebern verlassen haben, werden durch diese Politik – die zudem mit der Zersplitterung des Flächentarifvertrags einherging – deutlich geschwächt. Gleichzeitig belastet die sinkende Qualität öffentlicher Dienstleistungen Bürger*innen wie öffentlich Bedienstete immer stärker.

Deutsche Gewerkschaften argumentieren zwar häufig mit dem Allgemeininteresse, verzichten aber darauf, gemeinsam mit potenziellen Bündnispartnern Forderungen zu erarbeiten.

Vor allem Pflegekräfte stellen sich seit einigen Jahren dieser Entwicklung entgegen und konnten erste Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsversorgung durchsetzen. So streikten die Beschäftigten in den Kliniken in Berlin und Nordrhein-Westfalen nicht nur über 30 bzw. 77 Tage lang, sondern entwickelten auch eine flankierende politische Kampagne. Ver.di legte den Beginn der Auseinandersetzung bewusst in die jeweils anstehenden Landtagswahlkämpfe, um die Politik unter Druck zu setzen, und erreichte damit, dass die Klinikleitungen auf Weisung der Landesregierungen auf die Beschäftigten zugingen. Die Lage in den hiesigen Krankenhäusern ist allerdings noch immer prekär – mit der katastrophalen Versorgungssituation rund um den Jahreswechsel und den angekündigten Änderungen der Krankenhausfinanzierung durch Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist nun wieder Bewegung in die Debatte gekommen.[4]

Damit sich grundlegend etwas zugunsten der Kranken und der im Gesundheitssektor Beschäftigten ändert, müssen neben Klinikleitungen und Landespolitik insbesondere diejenigen in den Blick genommen werden, die auf Bundesebene die Austeritätsregeln verändern können. Hierbei sollten sich die deutschen Gewerkschaften an den Strategien ihrer amerikanischen Kolleg*innen orientieren.

Denn der Ansatz «Bargaining for the Common Good» geht in grundlegenden Aspekten über die hiesige Bündnispolitik hinaus. Auch wenn deutsche Gewerkschaften häufig mit dem Allgemeininteresse argumentieren, verzichten sie darauf, gemeinsam mit potenziellen Bündnispartnern Positionen zu erarbeiten und schrecken davor zurück, gesellschaftspolitische Forderungen in den Tarifverhandlungen aufzugreifen und für diese Anliegen zu streiken. Das sollte sich dringend ändern. Denkbar wäre, gemeinsam mit Patient*inneninitiativen, Fachgesellschaften sowie Medizin- und Pflegewissenschaft Forderungen zu notwendigen Personalstandards und Veränderungen in den Kliniken zu entwickeln. Diese könnten zusammen mit lokalen Bündnissen sowohl Öffentlichkeit schaffen und die Bundespolitik ins Visier nehmen als auch die Streiks vor Ort unterstützen. So entstünde ein Bündnis auf Augenhöhe mit jenen, die auf das Gesundheitssystem angewiesen sind. Eine bundesweite Auseinandersetzung um die Krankenhausversorgung, bei der eine breite politische Bündniskampagne und die Streikmacht der Beschäftigten ins Feld geführt werden, könnte einen Aufbruch zur Überwindung der jahrelangen Unterfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge einläuten.

Verbände und Initiativen sollten gewerkschaftliche Macht nutzen.

Weitere Ansatzpunkte für strategisch angelegte Konflikte, bei denen Gemeinwohl und Beschäftigteninteressen unmittelbar zusammenfallen, sind Personalquoten in Schulen und Kitas. Entlastungsforderungen waren ein wichtiger Baustein in den Konflikten im Sozial- und Erziehungsdienst Anfang 2022, immer wieder finden beispielsweise in Berlin Streiks der Lehrkräfte für kleinere Klassen statt. In der kommenden Tarifrunde 2024 im öffentlichen Nahverkehr kann ver.di sogar auf Bündniserfahrungen mit Fridays for Future vier Jahre zuvor aufbauen, die zeigen, wie gut sich Beschäftigteninteressen und Klimaschutz mit der Forderung nach dem Ausbau und der Ausfinanzierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs verbinden lassen.

Gerade weil sie im Vergleich zu den USA noch über deutlich höhere Machtressourcen verfügen, sind die deutschen Gewerkschaften gut beraten, Schritte in Richtung offensiver und bündnisorientierter Strategien zu gehen, um einer weiteren Erosion der Gewerkschaftsmacht entgegenzuwirken. Umgekehrt gilt es für Verbände, soziale Bewegungen und Initiativen, die gewerkschaftliche Macht zu nutzen und Tarifrunden als Gelegenheiten zu begreifen, um für eine auskömmliche Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu streiten.
 

Zuerst erschienen in der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik (2/23).


[1]   Unter «Organizing» versteht man die direkte Vor-Ort-Ansprache der Beschäftigten zum Aufbau gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht.

[2]   Vgl. Joseph McCartin, Marylin Sneidermann und Maurice BP-Weeks, Combustible Convergence: Bargaining for the Common Good and the #RedForEd Uprisings of 2018, in: «Labor Studies Journal», 1/2020, S. 97-113.

[3]   Jane McAlevey, Macht. Gemeinsame Sache. Hamburg 2020, S. 160-182; dies., Restoring Working-Class Power: Super Majority Strikes, www.transform-network.net, 18.4.2019.

[4]   Vgl. Ulrike Baureithel, Mutig erkämpft: Bessere Pflege in NRW, in: «Blätter», 9/2022, S. 33-36 sowie dies. und Olga Staudacher in dieser Ausgabe.