Nachricht | Kunst / Performance - Migration / Flucht - Zentralasien Mehr als Jurten und Ornamente in Filz

Die Berlin Bishkek Art Weeks: Zeitgenössische Kunst aus Kirgistan

Eine gelbe Zahnbürste klemmt außen am Reisegepäck.
Eine Zahnbürste klemmt außen am Reisegepäck. Foto: Louise Amelie

Ein Gespräch mit Louise Amelie und Darja Nesterowa
 

Louise und Darja, ihr seid im Jahr 2021 durch Kirgistan gereist, für das Fotoprojekt «Missing Member», das die Geschichte zurückgelassener Kinder von Arbeitsmigrant*innen erzählt. Dabei seid ihr in Kirgistans Hauptstadt Bishkek auf eine blühende, junge Kunstszene gestoßen. Was macht Bishkek als Kunstort so besonders?

Vom 12.05. - 28.05.23 findet in Berlin das interkulturelle Kunstfest Berlin Bishkek Art Weeks statt, initiiert von jungen Kreativschaffenden aus Berlin und Bishkek, der Hauptstadt der Republik Kirgistan.

Die Ausstellung zeigt Kunst aus Kirgistan und Berlin mit einem Fokus auf dem Thema Migration. Alle Infos und das Programm:: bb-artweeks.com

In Bishkek wächst seit einigen Jahren eine aufstrebende Kunstszene. Die Stadt ist in Zentralasien bekannt für ihre zahlreichen Kunstgalerien, Museen und kulturellen Veranstaltungen, die von lokalen und immer mehr auch von internationalen Künstler*innen organisiert werden.

Einer der Gründe, warum Bishkek als Kunstort besonders ist, sind die starken zentralasiatischen und russischen Einflüsse. Die Stadt hat historisch gesehen eine starke Verbindung zu Russland und ist gleichzeitig tief in ihrem zentralasiatischen Erbe verwurzelt. Die verschiedenen Einflüsse werden auch in den Kunstwerken sichtbar. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die zunehmende Bedeutung von unabhängigen Kunstinitiativen und Gruppen, die sehr engagiert sind und aktiv das städtische Leben gestalten und prägen. Wir haben eben diese Gruppen kennen gelernt, die dazu beitragen, dass Bishkek zu einem wichtigen Zentrum für zeitgenössische Kunst geworden ist.

Louise Amelie ist als freie Fotografin in Berlin und international tätig. Ihre Arbeit wurde mehrfach mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet.

Darja Nesterowa ist Sozialpädagogin und hat in Bischkek und Berlin in der Kinder- und Familienhilfe gearbeitet.

Gemeinsam mit dem Berliner Kreativstudio KOA entwickelten die beiden  das Konzept für die Berlin Bishkek Art Weeks.

In Bishkek herrscht eine spezielle Atmosphäre, da die Stadt von einer  jungen Generation von Künstler*innen geprägt wird, die sich für avantgardistische Kunst und neue kreative Ansätze begeistern. Der Anteil junger Menschen ist viel höher als in Europa. Es herrscht dort in der Kunstszene ein frischer, weltoffener Wind, in klarer Abgrenzung zu der jüngsten sowjetischen, Geschichte, ohne Ideologie und frei. Denn Kirgistan ist unter den zentralasiatischen Ländern ein demokratischer Staat, mehrfach wurde die jeweilige Regierung abgelöst.
Es gibt jedoch auch traditionellere Kunstformen, die nach der langen Zensur durch die Sowjetunion wieder neu erblühen. Insgesamt ist die Kunstszene in Bishkek dynamisch, vielfältig und voller Kreativität, die die lokale Kultur und Geschichte in neue Richtungen entwickelt. Gerade in der Kunst sind die Menschen in Bischkek frei und unabhängig.

Das Thema Migration prägt alle zentralasiatischen Staaten – wie wirkt sich das auf Künstler*innen und die Kunstszene in Bishkek aus?

Migration ist in Kirgistan ein omnipräsentes Thema und Teil der Normalität und des Alltags. Statistisch gesehen befindet sich in jeder Familie mindestens ein Mitglied im Ausland. Daher hat Migration einen starken Einfluss auf die Künstler*innen selbst wie auf die Kunstszene insgesamt. Die Künstler*innen, die wir kennengelernt haben, beschäftigen sich intensiv mit der Erforschung der eigenen und kollektiven Identität im Wandel der Zeit.

Viele der Künstler*innen haben bereits selber eine Zeit im Ausland gelebt und gearbeitet oder haben im Ausland studiert. Diese Erfahrungen prägen die Persönlichkeit und fließen natürlich auch in ihre Kunst ein. Durch die Migrationserfahrungen wird die Kunstszene in Bischkek internationaler, geprägt von vielen verschiedenen Einflüssen, wodurch sie eine besondere Aktualität und Leuchtkraft hat.

Migration wird ermöglicht und begleitet von der Bildung von transnationalen Netzwerken im globalen Dorf, mit dem ungehinderten Informationsaustausch in den sozialen Netzwerken. Das steht dem strengen Grenzregime der staatlichen Akteure und ihren Sortiermaschinen in den Visa-Vergabestellen diametral entgegen. Das beeinflusst auch die Kunst. Wir wollen zeigen, dass zentralasiatische Kunst mehr ist, als Jurten und Ornamente in Filz. Wir waren begeistert, dass Folklore und Kunsthandwerk einerseits Einfluss haben, aber die junge Kunstszene andererseits der westeuropäischen sehr ähnelt.

Mit der Ausstellung wollt ihr den eurozentrischen Blick auf Migration weiten und die in Europa wenig bekannte Region Zentralasien in den Fokus rücken – was können die beiden Regionen im Umgang mit Migration voneinander lernen?

Um den eingefahrenen und engen eurozentrischen Blick auf Migration -  Abschottung, Grenzsicherung, Kriminalität, günstige und fehlende Arbeitskräfte -  zu weiten, ist es wichtig, Perspektiven Raum zu geben, die im Diskurs nur selten betrachtet werden. Um die Auswirkungen und Umstände zu verstehen und um Empathie und Solidarität zu entwickeln, ist es nötig sich physisch zu begegnen. Anstatt Migration nur als ein Problem zu betrachten, das gelöst werden muss, wollen wir die positiven Aspekte thematisieren, beispielsweise die kulturelle Vielfalt und Kreativität, die durch Migration entsteht.

Europa kann von Zentralasien lernen, wie Migration als eine Chance betrachtet werden kann, um neue Perspektiven und kulturelle Einflüsse zu integrieren. In vielen zentralasiatischen Ländern ist Migration ein Teil des täglichen Lebens. Migration ermöglicht es, aus tradierten Mustern auszubrechen. Die Kirgisen sind traditionell ein Nomadenvolk. «Migration is Movement, Movement is Life». Das ist unser Motto. Das wollen wir vermitteln. Wir alle sind unterwegs. Gerade Berlin hat eine lange und interessante Migrationsgeschichte. Auch wenn wir vieles in der Migrationspolitik kritisieren, ist in Berlin doch ein buntes Leben vieler Kulturen gelungen. Hier könnten Erfahrungen und Wissen ausgetauscht werden um die jeweiligen Herausforderungen zu meistern.

Unser Team hat tagelang intensiv zusammengearbeitet, um die Ausstellung aufzubauen. Täglich müssen wir gemeinsam Kompromisse finden und die Krisen, die auftreten, lösen, die Probleme bei der Organisation von Schrauben, Farbe und Angelschnur - wir improvisieren zusammen. Indem wir unser Netzwerk mit dem kirgisischen verknüpfen, entstehen neue Energien. Das ist für uns sehr spannend.

Mit den Berlin Bishkek Art Weeks realisiert ihr nun einen Teil eines großen Projekts zum Austausch zweier Kulturregionen, vor allem Deutschland und Kirgistan. Was habt ihr im Rahmen dieses Großprojekts noch geplant?

Wir haben viele Ideen und Pläne. Unsere Netzwerke zwischen Berlin und Bischkek sind sehr verbündet und stark. Mit den Fähigkeiten unserer Freunde könnten so viele Träume realisiert werden… Wir würden ein ähnliches Projekt gerne in Kirgistan umsetzen. Leider ist die Finanzierung nicht leicht, nicht alle Förderanträge wurden bewilligt. Viele der anliegenden Aufgaben wie den Ausstellungsaufbau, das tägliche Catering usw. mussten wir in Berlin fast ohne Geld realisieren. Nur durch die die vielen Hilfsangebote aus unserem Netzwerk ist das gelungen. Dieses Projekt liegt uns unglaublich am Herzen, aber ein zweites Mal würden wir es unter diesen Umständen nicht durchstehen.