Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Rassismus–Antisemitismus Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923, Berlin 2019

Thema hat «in der Forschung bis heute noch immer zu wenig Beachtung gefunden»

München: Stadt anheimelnder Gemütlichkeit, Stadt der Revolution und der Räterepubliken und Stadt der Reaktion. In diesem Kontext bewegt sich die Studie von Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur in München und Direktor des Center for Israel Studies in Washington, der nicht die Geschehnisse zwischen 1918 und 1923 erneut zusammenfassen möchte, sondern für einen «Perspektivenwechsel» plädiert, d. h. die Einordnung «in den Kontext der jüdischen Geschichte» (S. 19). Einleitend zitiert er aus einem Brief, den Gustav Landauer an den Religionsphilosophen Martin Buber bereits am 2. Dezember 1918 schrieb: «Sehr schönes Thema, die Revolution und die Juden. Behandeln Sie dann nur auch den führenden Anteil der Juden an dem Umsturz.» (S. 13)

Brenner konstatiert, dass dieses Thema trotz der zahlreichen Neuerscheinungen anlässlich des 100. Jahrestages der Revolution und der Räterepubliken in der Forschung bis heute noch immer zu wenig Beachtung gefunden habe. Man weise zwar «eher verschämt» auf die jüdischen Akteure hin, betone aber gleichzeitig, sie hatten sich «nicht mehr als Juden betrachtet» (S. 15). Der Grund, sich nur zurückhaltend auf dieses schwierige Terrain zu wagen, sei, dass schon wahrend der Räterepubliken und erst recht nach ihrer Niederschlagung zahlreiche antisemitische Schriften auftauchten, die die führenden Protagonisten als Juden an den Pranger stellten. Auch habe Hitler ab November 1918 in München seine politische Sozialisation erfahren, die Revolutionszeit als «Judenherrschaft» erlebt. Vielfach diente die Verbindung zwischen jüdischen Aktivisten und den revolutionären Ereignissen als kausale Erklärung für den jetzt stärker in den Vordergrund drängenden, zuvor im monarchischen Bayern verdeckten Antisemitismus. Nicht nur nichtjüdische bürgerliche Kreise, auch viele jüdische Zeitzeugen wollen dies so gesehen haben, ganz zu schweigen von den Antisemiten.

In Umbruchsituationen, 1819, 1848 und erneut 1918/19 fand man in der Bevölkerungsminderheit einen Sündenbock für alle Übel der Zeitläufte. Nicht die Revolutionäre bewirkten die Judenfeindschaft. Sie kam lediglich aus der Versenkung hervor, verbreitete sich jetzt als «Judenfrage» an der Oberfläche, drängte in die Presseorgane – nicht nur der antisemitischen Bewegung – hinein. München bot damit Hitler «eine Bühne» und den Nationalsozialisten «ein ideales Testgelände» (S. 18) für ihre späteren Erfolge. Dabei müsse man, so betont der Autor, stets beachten, dass diese kausale Betrachtungsweise «nie eindeutige Antworten generieren kann». Denn sonst falle man auf die Suggestion herein, die antisemitische Weltanschauung benötigte die jüdischen Revolutionäre, um sich auszubreiten, und damit träfe man die fatale Aussage: «die Juden [seien] am Ende an ihrem Unglück selbst schuld». Ohne sie wären Hitler und die anderen Antisemiten «vielleicht um die Figur des ‚Judäo-Bolschewisten‘ armer [gewesen] und hatten sich auf die Stereotype der Juden als Kriegsgewinnler, Wucherer und Kapitalisten […] beschränken müssen» (S. 18).

In Kapitel zwei, dem umfangreichsten und instruktivsten, geht Brenner der Frage nach, welche Beziehung Eisner, Landauer, Mühsam, Toller und Levine zum Judentum hatten und inwieweit ihre Herkunft ihr politisches Engagement beeinflusste. Grunde für ihr Engagement sieht er u. a. in der «Säkularisierung der im Judentum verankerten messianischen Traditionen», «dem mit den biblischen Propheten verbundenen Gerechtigkeitsanspruch», der auch auf «andere benachteiligte Bevölkerungsschichten» (S. 22) übertragen wurde (in diesem Fall auf das Proletariat) und in der mangelnden politischen und gesellschaftlichen Partizipation. Auch wenn keiner der fünf Genannten sich mit den organisierten jüdischen Gemeinden verbunden fühlte, so waren sie sich doch ihrer Herkunft bewusst und verleugneten diese nicht. Lediglich bei Gustav Landauer kann Brenner die enorme Bedeutung, welche die «jüdische Spiritualität» (S. 75) in seinen Gedanken ausmachte, faktenreich belegen, bei den anderen gelingt dies nicht in der gleichen Weise.

Weitere jüdische Revolutionäre, Edgar Jaffe, Otto Neurath, Arnold Wadler und Towia Axelrod, werden vom Verfasser zwar genannt und teilweise in den Kontext der Ereignisse einbezogen, aber sie bleiben marginalisiert. Von den politisch aktiven Frauen aufseiten der Linken «eine der wenigen Ausnahmen» (S. 101) findet die Kommunistin Frida Rubiner, Mitglied in der Verkehrskommission und dem Propagandaausschuss in der zweiten Räterepublik, Erwähnung.

Ein (großer) Teil der Münchner Juden lehnte Kurt Eisner und die Umgestaltung der alten Gesellschaft strikt ab, das galt erst recht fürdie Räterepubliken. Laut dem Autor gehörten sie doch vorwiegend «den bürgerlichen Bevölkerungsschichten an» und waren «wie ihre christlichen Standesgenossen» der Wittelsbacher Monarchie und «ihren Werten» noch verhaftet (S. 165), auch sorgten sie sich um ihr Hab und Gut und hatten die nicht unbegründete Furcht, für die Handlungen der Revolutionäre verantwortlich gemacht zu werden. Die Ablehnung schlug sich in deutlichen Stellungnahmen der jüdischen Presse und führender Repräsentanten der jüdischen Gemeinden und Organisationen, gleich ob sie dem orthodoxen, liberalen oder zionistischen Lager zuzurechnen waren, nieder. Einzelne national-konservative Juden beteiligten sich auch aktiv an gegenrevolutionären Aktionen, so die Juristen Franz Guttmann und Walter Lowenfeld, die am Palmsonntag 1919 gegen die erste Räterepublik putschten. In der Rückschau resümiert der jüdische Sozialdemokrat Philipp Löwenfeld, es seien bestimmte Kreise dem Irrtum unterlegen, «Selbstschutz üben zu können, indem [man] sich möglichst eng an die Feinde der Demokratie und des Judentums heranzumachen suchte» (S. 171 f.).

Exemplarisch für diesen Irrtum steht der zum katholischen Glauben konvertierte Paul Nikolaus Cossmann, der nach Theresienstadt deportiert, dort im Oktober 1942 umkam. Cossmann, Publizist und Herausgeber der reaktionären «Süddeutschen Monatshefte», war einer der gewichtigsten Verbreiter der Dolchstoßlegende. Er bezichtigte Felix Fechenbach, Sozialdemokrat, Jude und ehemals enger Vertrauter Kurt Eisners, des Landesverrats. Der folgende Prozess erregte reichsweit Aufsehen und führte zur Verurteilung Fechenbachs, der 1933 von SA-Angehörigen ermordet wurde.

Die weiteren Kapitel beleuchten die Pogromstimmung nach der Niederschlagung der zweiten Räterepublik sowie München als «Hort der Reaktion» und als «die Stadt Hitlers». Akribisch beschreibt der Autor die sich rasch ausbreitende antisemitische Stimmung, die reaktionäre Politik unter Gustav Ritter von Kahr und dem Münchner Polizeipräsidenten Ernst Pohner, der 1923 aktiv am Hitler-Putsch teilnahm.(1) Des Weiteren diskutiert er die ambivalente Haltung der Katholischen Kirche bei Angriffen auf die jüdische Minderheit, die sie häufig nur halbherzig verurteilte. Zugleich stand sie den revolutionären Ereignissen eindeutig feindselig gegenüber.

Das Schlusskapitel, «Perspektivenvielfalt», widmet sich den Gräbern der toten Revolutionäre, setzt sich mit den weiteren Lebenswegen von Mühsam, Toller, dem Eisner-Mörder Graf von Arco sowie weiteren Akteuren auseinander, die zwischen 1918 und 1923 eine wichtige Rolle gespielt hatten. Es beschäftigt sich außerdem mit der Rezeptionsgeschichte der Revolution, die vielfach eine Geschichte der Verdrängung war.

Der Verfasser greift auf eine Vielzahl unterschiedlicher zeitgenössischer Quellen zurück: Briefe, Berichte ausländischer Diplomaten, Tagebücher und Zeitungsartikel unterschiedlicher politischer Ausrichtung sowie umfangreiche Sekundärliteratur. Leider wahrt er nicht immer genügend Distanz zu seinem Quellenmaterial und zu literarischen Verarbeitungen der Münchner Geschehnisse, trotzdem darf der angekündigte «Perspektivenwechsel» als gelungen angesehen werden.

Herbert Bauch

Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 400 Seiten, 28 EUR

(1) David Clay Large: Hitlers Munchen. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung,Munchen 1998.

Erstmals erschienen in: Arbeit - Bewegung - Geschichte, Nr. 3/2021.

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