Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Deutsch-deutsche Geschichte - Rassismus–Antisemitismus Engel: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch; München 2023

«Persönliche» Geschichte und die Kritik gesellschaftlicher Zustände wechseln sich ab

Information

Philip Peyman Engel ist seit letztem Jahr Chefredakteur der Wochenzeitung «Jüdische Allgemeine». Er wurde 1983 als Sohn einer jüdischen Einwanderin aus dem Iran und eines nichtjüdischen deutschen Vaters geboren. Seine Grosseltern mütterlicherseits flohen 1967 mit seiner damals 15 Jahre alten Mutter vor dem Antisemitismus aus dem Iran.

In zehn Texten berichtet er in seinem Buch u.a. aus dem heutigen Neukölln und aus seiner eigenen Jugend in Nordrhein-Westfalen, wie auch aus dem Regierungsflieger von Bundespräsident Steinmeier, den er bei einem Israelbesuch begleitet. Er beschreibt den Antisemitismus des türkischen Präsidenten Erdogan und dessen bedeutende Folgen für die politische Kultur in Deutschland, und kritisiert die Kulturstaatssekretärin Claudia Roth für deren Relativierung der BDS-Kampagne wie auch von Antisemitismus allgemein. Engel erzählt «persönliche» Geschichten und beschreibt und kritisiert gesellschaftlicher Zustände gleichermassen, was die Lektüre abwechslungsreich macht.

Trauriger Anlass seiner Publikation ist - wenig überraschend - das brutale, geplante antisemitische Massaker am 7. Oktober und die (ausbleibenden) Reaktionen darauf. Die Wochen nach dem Überfall der Hamas und anderer Gruppen auf israelische ZivilistInnen waren von einer Welle von antisemitischen Versammlungen und einer ausbleibenden Solidarität geprägt, nicht nur in Deutschland.

Engel geht es mehrfach um den Antisemitismus von Muslimen, etwa in der palästinensischen und empirisch weit bedeutender, der türkischen Community (vgl. die Zahlen auf S. 116 und 122 und die von ihm zitierte Studiedes Sachverständigenrates Integration und Migration vom Oktober 2022). Er kritisiert die bemerkenswerte Einseitig- und Empathielosigkeit des politischen Spektrums, das er als «postkolonial» ansieht, das zwar immer von Awareness rede, aber Antisemitismus oft nicht erkenne oder auch nur jüdisches Leben an sich ernstnehme. Die politische Mitte, so Engel verurteile zwar den Angriff der Hamas, schweige aber zum Antisemitismus. Dies ermöglich(t)e es der politischen Rechten bis hin zur AfD dieses Thema zu besetzen.

Dass Engel fragt, ja (sich) fragen muss, wo sich Juden und Jüdinnen, die in Deutschland circa 0,25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, heute noch sicher fühlen (können), ist eine Niederlage für alle emanzipatorischen Kräfte. Er kritisiert Antisemitismus; wie er politisch klug zu bekämpfen sei, dazu schreibt er nichts. Mit dieser Ratlosigkeit steht er aber derzeit nicht alleine.

Philipp Peyman Engel: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch; dtv Verlag, München 2023, 192 Seiten, 18 Euro