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Zum Wahlverhalten migrantischer Communities in Deutschland

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Autor*in

Fabian Namberger,

Straßenszene Müllerstraße, Berlin-Wedding
Die politischen Einstellungen und die Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind in vielerlei Hinsicht in Bewegung. Langanhaltende Parteienbindungen großer migrantischer Communities bröckeln. Beide Phänomene eröffnen Wähler*innenpotenziale für DIE LINKE. Foto: picture alliance / Bildagentur-online/Schoening

Eine kürzlich erschienene Literaturstudie der Rosa-Luxemburg-Stiftung befasste sich mit den politischen Orientierungen und dem Wahlverhalten von Menschen mit «Migrationshintergrund»[1]in Deutschland. Einige der Ausgangspunkte sowie der wichtigsten Erkenntnisse und vorläufigen Ergebnisse dieser Studie sollen im Folgenden näher erläutert werden.

Zum wachsenden Potenzial «migrantischer» Wähler*innenstimmen

Bei der Bundestagswahl 2021 besaßen von den etwas mehr als 60 Millionen Wahlberechtigten etwa 13 Prozent – oder 7,9 Millionen Menschen – einen eigenen oder familiären Migrationshintergrund. Diese Zahlen sind das Ergebnis einer stetigen Steigerung des Anteils der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte in Deutschland. Grob lässt sich dabei mit einem Zuwachs von etwa 100.000 Einbürgerungen pro Jahr rechnen.

Fabian Namberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HafenCity Universität Hamburg. Von 2019 bis 2023 war er Mitglied der Study Group «Migration, Labour, Digitalisation and Racism» am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dieser Orientierungswert dürfte in den kommenden Jahren nochmals deutlich steigen. Sowohl die anstehenden Einbürgerungen afghanischer, irakischer, syrischer und anderer Geflüchteter, die seit 2015 aus humanitären Gründen nach Deutschland kamen, als auch die geplante Absenkung von Einbürgerungshürden durch die Ampelkoalition lassen eine Tendenz zu einer weitaus höheren Einbürgerungsrate erkennen. Im Jahr 2021 waren es dementsprechend bereits mehr als 131.000 Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft und damit das allgemeine Wahlrecht erhielten.

Umso wichtiger ist es, die enorm vielschichtige Kategorie der Wähler*innen mit «Migrationshintergrund» etwas genauer aufzuschlüsseln. Die größte Gruppe dieser Wähler*innen in Deutschland bilden sogenannte Spät-/Aussiedler*innen (etwa 3,2 Prozent aller Wahlberechtigter in Deutschland).[2] Unterschieden wird hierbei zwischen (Alt-)Aussiedler*innen, die bis einschließlich 1992 eingebürgert wurden (und hauptsächlich aus Polen, der UdSSR und Rumänien kamen), und Spätaussiedler*innen, die seit 1993 anerkannt wurden und fast ausschließlich (zu über 97 Prozent) aus der ehemaligen Sowjetunion und allen voran aus Kasachstan, Kirgistan und Russland nach Deutschland einwanderten (Wittlif et al. 2022: 338).

An zweiter Stelle folgen Wahlberechtigte mit polnischem (1,5 Prozent) und türkischem Migrationshintergrund (1,2 Prozent). Eingebürgerte aus Rumänien und den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens machen je 0,5 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland aus. Insgesamt entfallen etwa zwei Drittel aller Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund in Deutschland auf die genannten fünf Länder: die ehemalige UdSSR (allen voran Kasachstan, Kirgistan und Russland), Polen, Türkei, Rumänien sowie das ehemalige Jugoslawien. Das restliche Drittel verteilt sich auf eine Vielzahl weiterer EU- und Nicht-EU-Staaten, was erneut auf die enorme Heterogenität des statistischen Sammelbegriffes «Migrationshintergrund» verweist.

Dünn bis nicht vorhanden: Die Datenlage

Trotz der wachsenden Bedeutung «migrantischer» Wähler*innenstimmen steckt die hiesige Forschung zum Wahlverhalten von Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte noch in den Kinderschuhen. Obwohl seit Ende der 1990er-Jahre ein zunehmendes Interesse an den politischen Orientierungen migrantischer Bevölkerungsgruppen zu beobachten ist, bleibt die Datenlage in der empirischen Wahlforschung vor allem eines: dünn. Dies gilt insbesondere für Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa, die seit der EU-Osterweiterung 2004 nach Deutschland gekommen sind, sowie für Migrant*innen aus Südeuropa, die im Zuge der Finanzkrise von 2008 eingewandert sind.

Nichtsdestotrotz gibt es heute eine solide Anzahl an regelmäßig stattfindenden empirischen Erhebungen, die sich mit dem Wahlverhalten von Deutschen mit Migrationshintergrund beschäftigen. Hierzu zählen etwa der European Social Survey, das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und, als erste Studie, die sich ausschließlich dem Wahlverhalten migrantischer Gruppen widmet, die Immigrant German Election Study (IMGES), die erstmals zur Bundestagswahl 2017 erhoben wurde.

Ausgehend von diesen Beobachtungen wende ich mich im Folgenden einigen grundlegenden Einsichten der empirischen Wahlforschung in die politischen Einstellungen von Wähler*innen mit Migrationshintergrund zu. Die zwei Dimensionen der Wahlbeteiligung einerseits sowie des Wahlverhaltens andererseits dienen mir dabei als analytische Ausgangspunkte.

Wahlbeteiligung: Der «immigrant participation gap» als zentraler Befund

Mit Blick auf die Dimension der Wahlbeteiligung ist es der sogenannte «immigrant participation gap», der einen zentralen Befund der empirischen Wahlforschung markiert. Die Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland meist 15 bis 20 Prozent niedriger als die von Wahlberechtigten ohne Migrationshintergrund. Diese wiederkehrende Wahlbeteiligungslücke tritt sowohl auf bundesweiter als auch auf Länderebene auf. Ebenso kann sie in anderen Staaten der OECD-Welt festgestellt werden.

Es sind die drei zentralen Faktoren

  1. der Ressourcenausstattung (Wahlberechtigte «können wählen»),
  2. der Motivation («möchten wählen») sowie
  3. der Mobilisierung («sollen wählen»),

die von der Wahlforschung als grundlegende Erklärung für die Wahlbeteiligungslücke herangezogen werden.

Die Dimension der Ressourcenausstattung korrespondiert dabei mit dem eigenen Gefühl, politische Fragen und Sachverhalte verstehen zu können. Demgegenüber geht es bei der Motivation um die subjektive Wahrnehmung davon, mit der eigenen Stimmabgabe, Einfluss auf konkretes Regierungshandeln nehmen zu können. Die Mobilisierung wiederum erfolgt durch politische Parteien, Medien und durch persönlichen Kontakt im sozialen Umfeld.

Auch wenn diese drei Grundfaktoren ebenso für die Wahlbeteiligung bzw. -enthaltung von Nicht-Migrant*innen Gültigkeit besitzen und damit gewissermaßen einen übergreifenden, «universalen» Erklärungszusammenhang bilden, kann der immigrant participation gap nicht befriedigend erklärt werden, ohne nicht mindestens drei migrationsspezifische Faktoren ins Spiel zu bringen.

Hier ist zunächst die Aufenthaltsdauer in Deutschland von großer Bedeutung. Denn, so die wiederkehrende Erkenntnis in der Wahlforschung, der immigrant participation gap schließt sich mit zunehmender Verweildauer im Ankunftsland. Erhebungen legen folgende Zahlen nahe: Eine wahlberechtigte Person, die erst fünf Jahre oder kürzer in Deutschland lebt, hat eine Wahlwahrscheinlichkeit von nur 50 Prozent. Diese Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung steigt nach einem Aufenthalt von fünf bis 20 Jahren auf 64 Prozent, erst nach einem Aufenthalt von über 20 Jahren liegt sie bei etwa 80 Prozent und damit auf dem Niveau von Bürger*innen ohne Migrationshintergrund (Wüst/Faas 2018: 16).

Zweitens sind es Diskriminierungserfahrungen, die einen erheblichen Einfluss auf «migrantische» Wahlbeteiligung haben. Eine Studie aus dem Jahr 2018 weist etwa auf einen eindeutig negativen Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrungen aufgrund der eigenen Herkunft einerseits und der Wahlbeteiligung andererseits hin. So liege die Wahrscheinlichkeit einer Wahlbeteiligung innerhalb der Gruppe mit Migrationshintergrund bei 79 Prozent, wenn keine Diskriminierungserfahrungen gemacht wurden. Ist dies jedoch der Fall, sackt die Wahrscheinlichkeit der Stimmabgabe auf nurmehr 59 Prozent ab (Wüst/Fass 2018: 16).[3]  Kurz gefasst: Menschen, die sich aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt fühlen, die rassistische und andere Diskriminierungen erfahren haben, werden seltener an der Wahlurne zu finden sein.

Drittens spielt das Herkunftsland eine Rolle. Zum einen kann das Aufwachsen in einer liberalen Demokratie – im Gegensatz zur Sozialisation in einem autokratisch geprägten Herkunftsland – wahlfördernd wirken. Zum anderen ist zu beobachten, dass es eher große Migrant*innengruppen sind, die von einer gezielten Mobilisierung profitieren. Kleine migrantische Gruppen wiederum werden seltener von Parteien oder anderen öffentlichen Instanzen direkt angesprochen. Nicht zuletzt sind es aktuelle Diskussionen über das Wahlverhalten von Deutschtürk*innen bei den türkischen Präsidentschaftswahlen 2023, die ein deutlich genaueres Hinsehen von linker Seite erfordern. Der Aspekt der Mobilisierung könnte dabei aufschlussreich sein.

Auf Grundlage des derzeitigen Forschungsstands kann davon ausgegangen werden, dass bei dem immigrant participation gap klassen- und migrationsspezifische Erklärungsfaktoren dynamisch ineinandergreifen und sich in historisch spezifischer Weise stets neu verknüpfen.

Wahlverhalten: Vom Aufweichen alter «Gewissheiten»

Das Wahlverhalten migrantischer Communities in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Die jahrzehntelang vorherrschende Grunderkenntnis der hiesigen Wahlforschung lautete: Spät-/Aussiedler*innen wählen – in Gestalt der CDU/CSU – vorwiegend im Sinne eines monokulturellen Gesellschaftsbildes, Wähler*innen aus ehemaligen Anwerbeländern und insbesondere der Türkei stimmen überwiegend für eine multikulturelle Ausrichtung, die sie bei der SPD wiederfinden. Dieses recht einfache, zweigeteilte Bild weicht zunehmend einer deutlich komplexeren Gemengelage, die sich entlang der drei Dimensionen

  1. politische Sachfragen,
  2. zur Wahl stehende Kandidat*innen sowie
  3. langanhaltende Parteienbindungen aufspannen lässt.

In Bezug auf die Dimension politischer Sachfragen sticht das Themenfeld der Migrationspolitik heraus. Insbesondere von Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund, deren (familiäre) Migrationsgeschichten mit Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen verknüpft sind, wird das Themenfeld der Einwanderungspolitik sowie der (Anti-)Diskriminierung sehr genau ins Auge gefasst. Dementsprechend wählen Migrant*innen überdurchschnittlich oft Parteien der politischen Linken (also SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE), was mit den verhältnismäßig migrationsfreundlichen, wenn auch jeweils sehr unterschiedlichen, politischen Positionierungen dieser Parteien bezüglich konkreter Einwanderungspolitik erklärt werden kann.

Die sachpolitischen Positionierungen der Parteien stehen zweitens in enger Wechselwirkung zur Frage der personellen Repräsentation durch Kandidat*innen mit Migrationshintergrund. Zwar zeigen Studien, dass «migrantische Kandidat*innen» auf erhöhte Sympathien in entsprechenden Communities hoffen können. Andere Erhebungen legen jedoch wiederum nahe, dass Wähler*innen mit Migrationshintergrund die Sachpolitik einer Kandidat*in als deutlich wichtiger einschätzen als ihre eventuelle Migrationsgeschichte.  Die beiden «Pole» – politische Inhalte einerseits, personelle Repräsentation andererseits – lassen sich demnach kaum zu einer Seite hin auflösen.

Drittens lösen sich, wie oben angedeutet, langanhaltende Muster «migrantischer» Parteienbindung zunehmend auf. Weder die SPD noch die CDU/CSU können sich ihrem traditionell starken Rückhalt bei Deutschtürk*innen einerseits und Spät-/Aussiedler*innen andererseits weiterhin sicher sein. 

So ermittelte die IMGES-I-Umfrage, die im Zuge der Bundestagswahl 2017 durchgeführt wurde, bei Spät-/Aussiedler*innen nurmehr einen Zustimmungswert von 27 Prozent für die CDU/CSU. An zweiter Stelle folgt bemerkenswerter Weise DIE LINKE (21 Prozent), an dritter die AfD (15 Prozent). Bei Deutschtürk*innen wiederum liegt die Zustimmung zur SPD «nur» noch bei 35 Prozent, ein Wert, der jedoch weiterhin deutlich über dem offiziellen Wahlergebnis der SPD von 20,5 Prozent liegt (Goerres et al. 2018: 6).

Profiteurinnen bröckelnder «migrantischer» Parteienbindungen sind die kleineren Parteien und, nicht zuletzt, DIE LINKE. Das SVR-Integrationsbarometer 2018 bietet folgende aufschlussreiche Zahlen:  Während Deutsche ohne Migrationshintergrund nur zu 9,2 Prozent der Partei DIE LINKE zuneigten, verdoppelte sich dieser Wert bei Deutschtürk*innen auf 18,4 Prozent. Für Migrant*innen aus der EU lag der Wert auf ebenfalls hohen 18,5 Prozent (Wittlif et al. 2022: 344).

Fazit: Genaueres Hinsehen lohnt

Die politischen Einstellungen, das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind in vielerlei Hinsicht in Bewegung. Wachsende Einbürgerungszahlen werden das – keineswegs homogene – Stimmgewicht von Wähler*innen mit familiärer Einwanderungsgeschichte in den kommenden Jahren zusätzlich vergrößern. Andererseits sind es langanhaltende Parteienbindungen großer migrantischer Communities in Deutschland – allen voran Spät-/Aussiedler*innen und Deutschtürk*innen – die zunehmend bröckeln. Beide Phänomene eröffnen Wähler*innenpotenziale für DIE LINKE.

Es liegt jedoch bei der Partei selbst, ihrem näheren wie auch erweiterten intellektuellen und aktivistischem Umfeld, diese Potenziale zu erkennen und sie jenseits kurzfristiger Versprechungen und engstirnigem Eigennutz weiterzuentwickeln. Eine langfristigere, sowohl im Alltag verankerte als auch wissenschaftlich fundierte Beschäftigung mit den Einstellungen und dem Wahlverhalten migrantischer Wähler*innengruppen ist eine erste Voraussetzung dafür.

Literatur

[1] Seit 2021 wurde in Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes die statistische Kategorie des «Migrationshintergrundes» vom Begriff der (familiären) Einwanderungsgeschichte abgelöst. Dennoch wird im Folgenden die Kategorie des «Migrationshintergrundes» verwendet, da sie in der gesichteten Literatur aus den vergangenen 20 Jahren zentraler Bezugspunkt ist. Im Wesentlichen besteht der Unterschied zwischen der alten Kategorie des Migrationshintergrundes und des neuen Begriffs der Einwanderungsgeschichte darin, dass erstere auf dem Merkmal der Staatsangehörigkeit zum Zeitpunkt der Geburt beruht (entweder selbst oder mindes­tens ein Eltern­teil nicht mit deut­scher Staatsan­gehörigkeit geboren). Die neue Kategorie der Einwanderungsgeschichte hingegen fußt auf dem Merkmal der Wanderungserfahrung. «So müssen entweder die Person selbst oder beide Elternteile seit 1950 auf das heutige Gebiet Deutschlands zuge­zogen sein, damit sie als Einge­wanderte beziehungs­weise als in Deutschland geborene Nach­kommen von Einge­wanderten gelten» (Statistisches Bundesamt 2023).

[2] Die folgenden Zahlen beruhen auf einer Studie von Andreas Wüst und Thorsten Faas aus dem Jahr 2018. Auch wenn die in der Studie verwendeten absoluten Zahlen nicht mehr als aktuell gelten können (der Anteil von Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund wird gegenüber den 13 Prozent aus neueren Erhebungen bei Wüst und Faas mit nur 10,2 Prozent angegeben), bietet die Studie dennoch einen aufschlussreichen und vergleichsweise detaillierten Überblick über die relativen Verteilungen von Wähler*innen mit Migrationshintergrund auf verschiedene Herkunftsländer.

[3] Bei diesen Zahlen handelt es sich keineswegs um die reale Wahlbeteiligung, sondern um die in Vor- oder Nachwahlbefragungen ermittelte Wahlbeteiligung, die aufgrund von Effekten der sozialen Erwünschtheit in aller Regel höher ausfallen als die tatsächliche Wahlbeteiligung. Nichtsdestotrotz ist das relative Verhältnis zwischen beiden Angaben – 79 zu 59 Prozent – aufschlussreich.