Nachricht | Nordafrika - Sozialökologischer Umbau - Klimagerechtigkeit Die Energiewende in Nordafrika

Beim Übergang zu erneuerbaren Energien werden koloniale Muster reproduziert. Gerecht ist das nicht

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Ölfeld in Hassi Messaoud (Ouargla), Südalgerien, Februar 2023
Die algerischen Machthaber sprechen seit Jahrzehnten von der Zeit nach dem Öl, und die aufeinanderfolgenden Regierungen haben jahrelang Lippenbekenntnisse
zum Übergang zu erneuerbaren Energien abgegeben, ohne konkrete Maßnahmen zu ergreifen.
  Ein Ölfeld in Hassi Messaoud (Ouargla), Südalgerien, Februar 2023, Foto: picture alliance / NurPhoto | APP

Die Bewältigung der globalen Klimakrise erfordert eine rasche und drastische Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Gleichzeitig wissen wir, dass das derzeitige Wirtschaftssystem die lebenserhaltenden Systeme des Planeten untergräbt und schließlich zusammenbrechen wird. Daher ist ein Übergang zu erneuerbaren Energien unausweichlich geworden. Es ist jedoch sehr gut möglich, dass dieser Übergang, falls und wenn er kommt, die gleichen Praktiken der Enteignung und Ausbeutung beibehält, die derzeit vorherrschen, wodurch Ungerechtigkeiten reproduziert und die sozioökonomische Ausgrenzung vertieft werden.

Mehrere Beispiele aus der nordafrikanischen Region zeigen, wie Energiekolonialismus und extraktivistische Praktiken auch beim Übergang zu erneuerbaren Energien reproduziert werden, und zwar in Form dessen, was als «grüner Kolonialismus» oder «Green Grabbing» bezeichnet wird. Wenn es um einen «gerechten Übergang» geht, im Sinne einer »just transition«, der den Armen und Ausgegrenzten in der Gesellschaft zugutekommt, anstatt ihre sozioökonomische Ausgrenzung zu vertiefen, geben diese Beispiele Anlass zu ernster Sorge.

Hamza Hamouchene ist ein algerischer Forscher und Aktivist und arbeitete für «War on Want» zu den Themen Extraktivismus, Ressourcen, Land und Ernährungssouveränität, sowie Klima-, Umwelt und Handelsgerechtigkeit. Er ist Herausgeber zweier Bücher, so «The Struggle for Energy Democracy in the Magreb» (2017)

«Grüner Kolonialismus» kann definiert werden als die Ausweitung der kolonialen Beziehungen der Ausplünderung und Enteignung (sowie der Entmenschlichung des Anderen) auf das grüne Zeitalter der erneuerbaren Energien, mit der damit einhergehenden Abwälzung der sozio-ökologischen Kosten auf periphere Länder und Gemeinschaften. Im Grunde ist es dasselbe System, nur mit einer anderen Energiequelle, während die gleichen globalen energieintensiven Produktions- und Konsummuster beibehalten werden und die gleichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, die Ungleichheit, Verarmung und Enteignung hervorrufen, unangetastet bleiben.

Wissenschaftler und Aktivisten haben einen weiteren nützlichen Begriff geprägt: «Green Grabbing». Das meint die Dynamik der Landnahme im Rahmen einer vermeintlich grünen Agenda. Land und Ressourcen werden für angeblich ökologische Zwecke angeeignet. Dies reicht von bestimmten Naturschutzprojekten, durch die indigene Gemeinschaften ihres Landes und ihrer Territorien beraubt werden, über die Beschlagnahmung von Gemeindeland für die Produktion von Biokraftstoffen bis hin zur Errichtung großer Solaranlagen/Windparks auf dem Land von Viehzüchtern ohne deren Zustimmung.

Wenn wir es also ernst meinen mit der Abkehr von fossilen Brennstoffen, müssen wir die Zusammenhänge zwischen fossilen Brennstoffen und der Wirtschaft im Allgemeinen genau untersuchen und die Machtverhältnisse und Hierarchien innerhalb des internationalen Energiesystems thematisieren. Das bedeutet anzuerkennen, dass die Länder des globalen Südens immer noch systematisch von einer kolonialen, imperialistischen Wirtschaft ausgebeutet werden, die auf der Plünderung ihrer Ressourcen und einem massiven Transfer von Reichtum vom Süden in den Norden beruht.

Die algerischen Machthaber zum Beispiel sprechen seit Jahrzehnten von der Zeit nach dem Öl, und die aufeinanderfolgenden Regierungen haben jahrelang Lippenbekenntnisse zum Übergang zu erneuerbaren Energien abgegeben, ohne konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Tatsächlich hat sich die Umsetzung der aktuellen Pläne für erneuerbare Energien erheblich verzögert, was das Fehlen einer ernsthaften und kohärenten Vision für den Übergang widerspiegelt. So verzögert sich beispielsweise die jüngste Ausschreibung für die Errichtung von 1 Gigawatt (GW) Solarkapazität um mehr als zwei Jahre. Algeriens Pläne, bis 2030 15 GW an Solarenergieerzeugungskapazität zu installieren, sind nicht realistisch, wenn man bedenkt, dass das Land Ende letzten Jahres (2021) laut der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) über eine installierte Solarkapazität von insgesamt 423 MW verfügte. Alle Quellen zusammengenommen beträgt die installierte Kapazität an erneuerbaren Energien derzeit nicht mehr als 500 MW. Dies ist weit entfernt von den für 2030 geplanten 22 GW, die 2011 angekündigt wurden. Das im Juni 2020 ins Leben gerufene Ministerium für Energiewende und erneuerbare Energien hat diese Ziele auf 4 GW bis 2024 und auf 15 GW bis 2035 reduziert. Doch selbst dies ist zu optimistisch.

Kurz gesagt: Algerien muss schnell auf erneuerbare Energien umsteigen, denn eines Tages werden die europäischen Kunden des Landes keine fossilen Brennstoffe mehr für Energiezwecke importieren. Die Europäische Union (EU) erweitert und beschleunigt ihre Energiewende, die durch den Einmarsch Russlands in der Ukraine noch dringlicher geworden ist. Kurzfristig wird die EU natürlich weiterhin Gas importieren und ihre Bemühungen um eine Diversifizierung ihrer Energiequellen verstärken, aber langfristig wird sie alles daransetzen, sich von fossilen Brennstoffen zu lösen. Für Länder wie Algerien wird dies eine existenzielle Bedrohung darstellen, wenn sie weiterhin von Öl und Gas abhängig bleiben. Daher ist der dringende Umstieg auf die Produktion erneuerbarer Energien (vor allem für den lokalen Markt) nicht nur ökologisch richtig, sondern auch strategisch und überlebenswichtig.

In den letzten Jahren ging die allgemeine Tendenz in dem Land jedoch in Richtung einer stärkeren Liberalisierung der Wirtschaft und Ausweitung der Zugeständnisse an den privaten Sektor und ausländische Investoren. Das neue Kohlenwasserstoffgesetz ist sehr freundlich gegenüber multinationalen Unternehmen und bietet ihnen mehr Anreize und Zugeständnisse für Investitionen in Algerien. Es ebnet auch den Weg für zerstörerische Projekte, wie die Ausbeutung von Schiefergas in der Sahara und von Offshore-Ressourcen im Mittelmeer.

Die Haushaltsgesetze der Jahre 2020/21 öffneten die Tür für die internationale Kreditaufnahme und sahen harte Sparmaßnahmen vor, indem verschiedene Subventionen gestrichen und öffentliche Ausgaben gekürzt wurden. Im Namen der Förderung ausländischer Direktinvestitionen befreiten sie multinationale Unternehmen von Zöllen und Steuern und erhöhten deren Anteil an der nationalen Wirtschaft, indem sie die 51/49-Prozent-Regel aufhoben, die den Anteil ausländischer Investitionen an einem Projekt auf 49 Prozent begrenzt und damit die nationale Souveränität noch weiter untergräbt. Jetzt ist der Sektor der erneuerbaren Energien an der Reihe. Diese Entscheidung ist definitiv nicht geeignet, die Souveränität in diesem strategischen Sektor zu gewährleisten, der in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird!

Während bestimmte westliche Regierungen sich als umweltfreundlich darstellen, indem sie Fracking innerhalb ihrer Grenzen verbieten und Ziele für die Reduzierung der Kohlenstoffemissionen festlegen, bieten sie gleichzeitig ihren multinationalen Unternehmen diplomatische Unterstützung für die Ausbeutung von Schiefervorkommen in ihren ehemaligen Kolonien an, wie es Frankreich 2013 mit «Total» in Algerien getan hat. Das ist Energiekolonialismus und Umweltrassismus.

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und den Versuchen der EU, die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern, zeigt sich einmal mehr, dass die Energiesicherheit der EU über allem anderen steht. Wir sehen mehr Gasbindung, mehr Extraktivismus, mehr Pfadabhängigkeit und einen Stopp des grünen Übergangs, wo diese extraktiven Projekte stattfinden. Genau das ist im Fall von Italien und Algerien passiert, die vereinbart haben, die Gaslieferungen an Italien zu erhöhen. Das algerische Unternehmen Sonatrach und die italienische ENI werden ab 2023/2024 zusätzlich neun Milliarden Kubikmeter Gas in die EU pumpen. Die EU wird auch LNG-Lieferungen aus Ägypten, Israel, Katar und den Vereinigten Staaten erhalten.

In Algerien und in anderen Ländern Nordafrikas und des globalen Südens muss die Energiewende ein souveränes Projekt sein, das in erster Linie nach innen gerichtet ist und zunächst den lokalen Bedarf deckt, bevor es zu Exportinitiativen kommt. Wir können nicht in der alten Weise weitermachen, für Europa zu produzieren und dessen Diktat zu befolgen, einschließlich seines Wunsches, sich durch die Diversifizierung seiner Energiequellen von seiner Abhängigkeit von russischem Gas zu lösen. Priorität hat jetzt die Dekarbonisierung der nordafrikanischen Volkswirtschaften durch einen Anteil von 70 bis 80 Prozent erneuerbarer Energien am Energiemix, bevor man überhaupt an Exporte in die EU denken kann.

Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Länder wie Algerien, die in einer räuberischen Form eines extraktivistischen Entwicklungsmodells gefangen sind, weder über die finanziellen Mittel noch über ausreichendes Know-how verfügen, um eine rasche Energiewende zu vollziehen. In dieser Hinsicht muss ein gewisser finanzieller Ausgleich auf dem Tisch liegen, damit das Öl im Boden bleibt, und die Monopole auf grüne Technologie und Wissen müssen beendet und diese Ressourcen den Ländern und Gemeinschaften im globalen Süden zur Verfügung gestellt werden.

Ein grüner und gerechter Übergang muss das globale Wirtschaftssystem grundlegend umgestalten, das weder auf sozialer noch auf ökologischer oder gar biologischer Ebene zweckmäßig ist (wie die Covid-19-Pandemie zeigt). Er muss den kolonialen Verhältnissen ein Ende setzen, die die Menschen immer noch versklaven und enteignen. Wir müssen uns immer fragen: Wem gehört was? Wer macht was? Wer bekommt was? Wer gewinnt und wer verliert? Und wessen Interessen werden bedient? Denn wenn wir diese Fragen nicht stellen, werden wir geradewegs zu einem grünen Kolonialismus übergehen, mit einer Beschleunigung der Extraktion und Ausbeutung im Dienste einer sogenannten gemeinsamen «grünen Agenda».

Der Kampf für Klimagerechtigkeit und einen gerechten Übergang muss die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Anfälligkeiten zwischen Nord und Süd berücksichtigen. Die Länder des globalen Südens, die am stärksten von der globalen Erwärmung betroffen sind und die vom globalen Kapitalismus in ein System des räuberischen Extraktivismus eingesperrt wurden, müssen ihre ökologische und klimatische Schuld begleichen. In einem globalen Kontext der erzwungenen Liberalisierung und des Drängens auf ungerechte Handelsabkommen sowie eines imperialen Gerangels um Einfluss und Energieressourcen dürfen der grüne Übergang und das Gerede über Nachhaltigkeit nicht zu einer glänzenden Fassade für neokoloniale Pläne der Ausplünderung und Beherrschung werden.

Darüber hinaus wird zwar immer wieder über den Mangel an technologischem Fachwissen gesprochen, wenn Projekte für erneuerbare Energien im globalen Süden installiert werden, doch wird in der Regel nicht gefragt, warum dies überhaupt der Fall ist. Ist dieser Mangel nicht auf die Monopolisierung der Technologie und das System des geistigen Eigentums zurückzuführen (dessen Grausamkeit sich in der aktuellen Pandemie gezeigt hat)? Der Technologietransfer muss ein Eckpfeiler jeder gerechten Energiewende sein, sonst werden die Länder des globalen Südens immer abhängig bleiben.

In diesem Zusammenhang ist der gerechte Übergang ein Rahmen für einen fairen Übergang zu einer Wirtschaft, die ökologisch nachhaltig, gerecht und fair für alle ihre Mitglieder ist. Ein gerechter Übergang bedeutet einen Übergang von einem Wirtschaftssystem, das auf dem exzessiven Abbau von Ressourcen und der Ausbeutung von Menschen beruht, zu einem System, das stattdessen auf die Wiederherstellung und Regeneration von Gebieten und die Rechte und Würde der Menschen ausgerichtet ist. Eine robuste und radikale Vision des gerechten Übergangs sieht Umweltzerstörung, kapitalistische Ausbeutung, imperialistische Gewalt, Ungleichheit, Ausbeutung und Marginalisierung entlang der Achsen von Rasse, Klasse und Geschlecht und als gleichzeitige Auswirkungen eines globalen Systems, das transformiert werden muss. So gesehen werden «Lösungen», die versuchen, eine einzelne Dimension, wie die Umweltkatastrophe, isoliert von den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen, die sie verursachen, anzugehen, zwangsläufig «falsche Lösungen» bleiben.

«Just transition» wird natürlich an verschiedenen Orten unterschiedlich aussehen. Es ist in der Tat besser, von «just transitions» im Plural zu sprechen, um dieser Realität Rechnung zu tragen. Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass die massiven globalen und historischen Ungleichheiten und ihr Fortbestehen in der Gegenwart Teil dessen sind, was verändert werden muss, um eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft zu schaffen. Dies bedeutet, dass ein gerechter Übergang an verschiedenen Orten sehr unterschiedliche Dinge bedeuten kann. Was in Europa funktionieren mag, muss nicht unbedingt in Afrika anwendbar sein. Was in Ägypten funktioniert, muss nicht unbedingt in Südafrika funktionieren. Und was in den städtischen Gebieten Marokkos funktionieren mag, ist vielleicht für die ländlichen Gebiete dort nicht gut. Und vielleicht sieht ein Übergang in einem Land wie Algerien, das reich an fossilen Brennstoffen ist, anders aus als in anderen Ländern, die weniger mit solchen Ressourcen ausgestattet sind.

Das Konzept des gerechten Übergangs stützt sich auf Konzepte wie Energiedemokratie und Energiesouveränität, um die Vision einer Welt zu entwickeln, in der die Menschen Zugang zu und Kontrolle über die Ressourcen haben, die sie für ein menschenwürdiges Leben benötigen, und in der sie eine politische Rolle bei den Entscheidungen darüber spielen, wie diese Ressourcen genutzt werden und von wem.
 

Erschienen in: maldekstra #19: «Energie, Klima, Kämpfe»