Kommentar | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Afrika Die Paulskirche als imperiale Arena

Andreas Bohne über einen blinden Fleck in der Erinnerungspolitik der Burschenschaften

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Andreas Bohne,

Burschenschaften anfechten
Burschenschaften anfechten, CC BY-SA 2.0, Foto: Zeitfixierer, via Flickr

Für den 18. Juni 2023 plante die Allgemeine Deutsche Burschenschaft, zusammen mit dem Convent Deutscher Akademikerverbände, zum «175. Jubiläum der Frankfurter Nationalversammlung» in die Paulskirche einzuladen. Der sich selbst als «liberal-konservativ» bezeichnende Dachverband wollte damit an die Beteiligung von Burschenschaftern im ersten deutschen Parlament erinnern[1] – eine Erinnerung, die für alle burschenschaftlichen Dachverbände eine wichtige Rolle spielt. In Zeiten ihres allgemeinen Bedeutungsverlustes sind sie bestrebt, durch die Erinnerung an eine vermeintlich ruhmreiche Vergangenheit ihre eigene Gegenwart zu legitimieren. Dabei wird indes die eigene Vergangenheit verklärt und vieles ausgeblendet.

Nun wurde die Veranstaltung kurzfristig abgesagt. Das ist aber nicht dem Umstand einer kritischen Auseinandersetzung geschuldet. Denn der Umgang mit der Tradition der Paulskirche, einschließlich der blinden Flecken, ist nicht nur in den Reihen der Burschenschaften anzutreffen. Was in der Debatte um die erste deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche zumeist vollkommen untergeht, ist ihre Bedeutung als imperiale Arena, als Sendungsort für das aggressive Streben nach Kolonien und Einflusssphären aus nationalen, wirtschaftlichen und völkischen Interessen heraus.

Andreas Bohne ist Leiter des Afrikareferates der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Seine Dissertation über Burschenschaften und Kolonialismus erscheint Ende des Jahres im transcript-Verlag.

Die Paulskirche wird nicht nur in der deutschen Nationalgeschichtsschreibung, sondern auch in der bundesdeutschen Erinnerungspolitik und -kultur gewürdigt. Exemplarisch dafür steht die auf Initiative der früheren Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters etablierte Arbeitsgemeinschaft und Stiftung «Orte der Demokratiegeschichte» mit der Paulskirche als Flaggschiff. Die Nichtbeachtung der dort vorgetragenen Kolonialpropaganda fügt sich nahtlos ein in die Negierung des deutschen Kolonialismus als konstitutiver Bestandteil der deutschen Nationalgeschichte. Diesen Kontext hat etwa auch der Historiker Hermann Hiery betont, der (als FDP-Mitglied) linker Umtriebe unverdächtig sein sollte:

«1848 ist die eigentliche Geburtsstunde des deutschen Imperialismus. Die imperiale Aggressivität, die Selbstüberschätzung und der ausgesprochene Sendungsglaube der späten Kaiserzeit, der sogenannten wilhelminischen Epoche, sind – zumindest in der Wortwahl – bereits in der Paulskirche zu erkennen.»2]

Vor diesem Hintergrund steht die Paulskirche als Erinnerungsort nicht nur für die deutsche Demokratiegeschichte, sondern auch für eine historische Verklärung, wenn nicht gar für koloniale Amnesie – in der offiziellen Erinnerungspolitik und ganz besonders in den Reihen der Burschenschafter.

Das beginnt schon beim Verweis auf den Präsidenten der Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, hessischer Minister, Mitglied der Teutonia-Heidelberg 1815 und der Urburschenschaft-Jena 1817. Als der Abgeordnete Johann Tellkampf während einer Rede in der Paulskirche betonte, dass Kolonien für die Auswanderung fehlten, hielt ihm der mit dem Thema bestens vertraute von Gagern entgegen, dass die Vertreter der Nationalversammlung das durchaus wüssten («Ich bitte den Redner, nicht so tief in die Auswanderungs-Frage einzugehen; sie ist ja uns Allen hinreichend bekannt.»; «Herr Tellkampf! Darüber sind schon vor zwanzig Jahren Bücher geschrieben worden.»).

Burschenschafter in den Reihen früher kolonialer Propagandisten

Die imperiale Diskussion und die Agitation in der Paulskirche erstreckten sich entlang zweier miteinander verwobener Linien: der Forderung nach einer deutschen Flotte und dem Ruf nach deutschen Siedlerkolonien. Beide Forderungen waren nicht neu – wie das obige Zitat von Gagerns verdeutlicht –, sondern griffen Gedanken des Vormärz auf;[3] nunmehr erhielten sie indes eine weit größere Bühne, auf der Burschenschafter besonders laut agitierten. Einige Beispiele mögen das illustrieren.

Die Flotte spielte eine entscheidende Rolle für die expansiven und imperialen Ideen in der Paulskirche. Als erste Maßnahme setzte die deutsche Nationalversammlung – nur wenige Tage nach ihrer Konstituierung – auf Antrag von Johann Gustav Heckscher (Alte Göttinger Burschenschaft 1816, Alte Heidelberger Burschenschaft 1817, Corps Guestphalia Heidelberg 1818) einen Marineausschuss ein. Bereits ein paar Tage später, am 8. Juni 1848, legte dieser Ausschuss seinen Bericht vor. Am 14. Juni 1848 stimmten dann alle Abgeordneten (bei einer Ausnahme) im ersten finanziellen Beschluss der Nationalversammlung für den Vorschlag des Marineausschusses, sechs Millionen Taler für den Aufbau einer deutschen Flotte zu bewilligen. Die Flotte diente als Symbol für das Streben nach nationaler Einheit und als Baustein der Reichseinigung, aber auch als militärisches Drohpotenzial. Die Schaffung einer Marine galt als Voraussetzung für Handels- und Siedlungskolonien; die Flotte stand für die erstrebte Weltgeltung ebenso wie für liberal-bürgerliche Emanzipationsbestrebungen. Exemplarisch für diese Sichtweise steht die Rede von Marquard Barth (Markomannia München 1828) in der Paulskirche. Die von ihm aufgeworfene Frage, «Was will die Nation, was wollen wir?», beantwortete er folgendermaßen selbst:

«Dass das Deutschland, dessen Kaiser einst dem Abendland geboten und welches bei der Teilung der neuen Welt so ganz vergessen worden […], dass das Deutschland, dessen Hanse die Meere beherrschte, als England noch nicht daran dachte, eine Seemacht zu sein […], dass dieses Deutschland, sage ich, aufhöre, der Hohn und Spott der Nationen zu sein, und die Stelle wieder einnehme, welche ihm gebührt vermöge seiner Lage, und mehr noch vermöge seiner Kulturstufe, und vermöge der Tugenden seines Volkes. Macht ist es, meine Herren, was die Nation von uns verlangt, und als Mittel zur Macht die Einheit […].»

Die von Barth gepflegte nostalgische Erinnerung an die alte Zeit zurück bis zum mittelalterlichen Kaisertum, an die Vergangenheit, in der Deutschland durch die Hanse nicht nur Anteil am Welthandel hatte, sondern darüber hinaus auch «die Meere beherrschte», dient dazu, die zukünftige Weltstellung zu beanspruchen. Deutschland solle sich aus seiner untergeordneten Position befreien und seinen vermeintlichen Minderwertigkeitskomplex überwinden, um in den Kreis der Weltmächte zurückzukehren, zu dem es schon wegen seiner Kulturleistung gehöre. Als notwendiger Schritt für diesen Wiederaufstieg müsse die nationale Einheit hergestellt werden.

Die Diskussion um Siedlerkolonien war eng verbunden mit der Emigration großer Teile der deutschen Bevölkerung, die schon seit den 1820er Jahren angestiegen war und in den 1840er Jahren deutlich anschwoll. Joseph von Buß (Freiburger Burschenschaft) kritisierte in einer Aussprache zur Auswanderungsfrage die zu einseitige Orientierung auf Nordamerika, denn «auch nach anderen Ländern der Erde muss die Auswanderung gehen». Wohin die Richtung gehen sollte, wird im Verlauf seiner Rede klar:

«Von der höheren Auffassung der Auswanderung zur Gründung von Kolonien, von denen das deutsche Volk nur Kulturkolonien kennt, welche ihm auch den Handelsverband sichern können, schweige ich bei der Aufgeregtheit der Versammlung.»

Auch aus Sicht des nachfolgenden Redners, des Burschenschafters Friedrich Gottlieb Schulz (Alte Allemannia/Kränzchenverein Göttingen 1832) – der bereits vor der Nationalversammlung als Fürsprecher für Gebietsansprüche aufgefallen war –, war klar, dass alles getan werden müsse, um ein «mächtiges herrliches Neudeutschland» entstehen zu lassen, und dass der Blick sich auch auf «Ansiedlungsländer an unserer nächsten Grenze, im Osten und Südosten unseres Vaterlandes», richten müsse. Sollte Österreich sich nicht dem großdeutschen Nationalinteresse unterwerfen, forderte Schulz, «wollen wir lieber alle aus dem verkümmernden Kleindeutschland nach dem aufstrebenden Neudeutschland an den großen Strömen Nordamerikas ziehen», um gleich wieder zur Hoffnung zurückzukehren:

«Ich denke, so weit ist es noch nicht gekommen; die alte deutsche Eiche treibt noch frische Zweige und Blätter. Ich wünsche, dass das Auswanderungsamt, sobald es die Verhältnisse erlauben, sich mit der österreichischen Regierung über ein geregeltes Kolonisationssystem für die Donauländer verständigt.»

Aber auch weitere Ziele kolonialer Expansion kommen in Schulz’ Gedankenspielen vor: «Meine Herren, die Franzosen haben für die nächsten vier Jahre 50 Millionen Franken bewilligt, um ihre Armen nach Afrika überzusiedeln.» Trotz der (fast traditionell) stark antifranzösischen Haltung vieler Burschenschafter dient hier der Konkurrent als Vorbild. Und es verknüpft sich imperiale Außenpolitik mit der Externalisierung der sozialen Frage, wie sie auch später, in den Kolonialdebatten des Kaiserreichs, immer wieder kolportiert wird.

Die Expansionsträume und -forderungen kannten keine Einschränkung. Ob «ostwärts» entlang der Donau oder auf den afrikanischen Kontinent: Der Fantasie und den Expansionsplänen waren keine Grenzen gesetzt. Dabei ist bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Expansion untrennbar mit dem Konzept von «Rasse» verbunden, wie Friedrich Gottlieb Schulz unmissverständlich ausführte. Ihm zufolge seien Teile der «germanischen Völker […] vorzugweise bestimmt zu sein, den Erdball in Besitz zu nehmen.» Aufgrund der Fähigkeiten könnten fähige Deutsche – so Schulz’ Schlussfolgerung – zum Vorteil des Reiches auswandern. Und Heinrich von Gagern verlangte, «dass wir diejenigen Völker, die längs der Donau zur Selbstständigkeit weder Beruf noch Anspruch haben, wie Trabanten in unser Planetensystem einfassen».

Der blinde koloniale Fleck der Paulskirche

Die Burschenschafter – die oben stellvertretend genannten Personen ließen sich durch weitere ergänzen – repräsentieren nicht nur die «liberale und demokratische» deutsche National- und Einheitsbewegung, sondern stehen ebenso für ihre imperialen und nach außen gerichteten, expansiven Tendenzen. Wäre «das Deutschlandproblem schon 1849 bereinigt worden, so hätten die imperialistischen Strömungen schon damals gute Aussichten gehabt, konkretisiert zu werden», urteilt der Historiker Hans Fenske.[4]

Mit anderen Worten: Hätten sich die burschenschaftlichen Kräfte um Heinrich von Gagern bereits früher durchgesetzt, hätte die aktive Kolonialexpansion schon vor 1884 einsetzen können. Diese koloniale Dimension zählt eben auch zum Erbe der Paulskirche.


[1] Abhängig von der Zählung waren zwischen 74 und 169 Burschenschafter als Abgeordnete in der Paulskirche vertreten.

[2] Hiery, Hermann: Der Kaiser, das Reich und der Kolonialismus. Anmerkungen zur Entstehung des deutschen Imperialismus im 19. Jahrhundert, in: Bosbach, Franz; Hiery, Hermann (Hg.): Imperium / Empire / Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich, München 1999, S. 155-166 (S. 159).

[3] Die dritte im Vormärz behandelte Forderung nach der Bildung einer kolonialen Ökonomie, wie u.a. von Friedrich List gefordert, fand geringeren Widerhall.

[4] Fenske, Hans: Imperialistische Tendenzen in Deutschland vor 1866. Auswanderung, überseeische Bestrebungen, Weltmachtträume, in: «Historisches Jahrbuch», 97/98 (1978), S. 336-383 (S. 382).