Obwohl die äthiopische Regierung und die Volksbefreiungsfront von Tigray am 2. November 2022 ein Friedensabkommen unterzeichneten, kann von Frieden bislang keine Rede sein. Der über zwei Jahre dauernde Bürgerkrieg wird oftmals als inner-äthiopische Angelegenheit dargestellt, sodass die geostrategischen Interessen externer Akteure kaum beachtet werden. Dass die Rolle der eritreischen Regierung im weltweit blutigsten Konflikt während der Verhandlungen in Pretoria völlig außer Acht gelassen wurde, könnte Tigray mal wieder den Frieden kosten.
«Welche Wahlen?!», entgegnete Eritreas Präsident Isayas Afewerki entsetzt, als ihn 2008 ein Journalist fragte, wann denn Wahlen in dem nordostafrikanischen Staat stattfänden. Afewerki, der das Land seit der Erlangung der Unabhängigkeit von Äthiopien 1991 regiert, hat sich bis heute keiner Wahl gestellt. Obwohl sein Regime eine der brutalsten Diktaturen weltweit ist, bleibt der 77-jährige international weitgehend unbekannt.
Jenny Ouédraogo ist Projektmanagerin für Westafrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
2018 sorgte Afewerki allerdings für Aufsehen, als er gemeinsam mit dem äthiopischen Ministerpräsidenten, Abiy Ahmed, ein historisches Friedensabkommen in Saudi-Arabien unterzeichnete. Luft- und Landwege zwischen Eritrea und Äthiopien wurden daraufhin, über zwanzig Jahre nach einem der tödlichsten Grenzkriege Afrikas, wieder geöffnet. So konnten sich Familienangehörige und Bekannte nach langer Funkstille auf ein Wiedersehen freuen. Zwar erhielt nur Ahmed 2019 dafür den Friedensnobelpreis, doch die Aussöhnung brachte beiden Seiten Vorteile; so traf man sich vermehrt zu Konsultationen und besichtigte im Jahr 2020 gemeinsam auch die Sawa-Militärbasis in Eritrea und den Bishoftu-Luftwaffenstützpunkt in Äthiopien.
Als im November 2020 der Tigray-Konflikt ausbrach, machte sich die neu gewonnene Freundschaft der beiden Staaten militärisch bezahlt. Denn obwohl die äthiopische Regierung lange Zeit betont hatte, dass es sich bei dem Konflikt um eine interne Angelegenheit handle, kämpfte das eritreische Militär an der Seite der äthiopischen Nationalarmee in Tigray – angeblich gegen den gemeinsamen Feind, die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF).
Mittlerweile hat der Tigray-Konflikt bereits über 600.000 Menschen das Leben gekostet. Dabei hat Ministerpräsident Ahmed das Durchhaltevermögen seiner Streitkräfte zu großen Teilen dem eritreischen Verbündeten zu verdanken, der über zwei wichtige Dinge verfügt, die der äthiopischen Nationalarmee eine Fortsetzung des Krieges ermöglichen: Soldat*innen und Geld.
Zwangsarbeiter*innen im Einsatz
Bereits zu Anfang des Tigray-Konflikts kristallisierte sich heraus, dass die äthiopische Nationalarmee dem tigrayischen Militär weit unterlegen war. Die Unterstützung durch Afewerkis Streitkräfte war und ist für die äthiopische Regierung daher unverzichtbar. Während Äthiopien bei einer Gesamtbevölkerung von über 120 Millionen Menschen nur 138.000 Soldat*innen unter Waffen hat, übertrifft Eritrea, ein Land mit gerade mal 3,6 Millionen Einwohner*innen, diese Zahl mit 202.000 Soldat*innen bei weitem.
Diese hohe Zahl verdankt das eritreische Regime einer spezifischen Form institutionalisierter Zwangsarbeit. Die regierende Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) des Einparteienstaats kontrolliert die eritreische Bevölkerung seit Anfang der 1990er Jahre durch einen gesetzlich zwar auf 18 Monate befristeten, de facto aber unbefristeten «Nationaldienst». In diesem werden jedes Jahr Tausende junger Eritreer*innen gezwungen, eine militärische Ausbildung zu absolvieren, bevor sie einen Schulabschluss erwerben können. Selbst Kinder und Jugendliche werden zwangsrekrutiert und oftmals ohne Vorankündigung in das Militärcamp Sawa gefahren, wo man sie misshandelt, harten Strafen aussetzt und zur Arbeit zwingt.
Im Land mit dem weltweit zweithöchsten Anteil an versklavten Menschen ist es insbesondere für Jungen und Männer fast unmöglich, sich dem Zwangsdienst zu entziehen. Viele Mädchen, die ihm entgehen wollen, entscheiden sich für eine frühe Heirat und Mutterschaft. Eritreer*innen, die dem Militärcamp entkommen, leben in permanenter Angst vor den berüchtigten Razzien des Regimes, bei denen Kinder und Jugendliche routinemäßig festgenommen und nach Sawa gebracht werden. Andere treibt die Angst vor der Zwangsarbeit ins Exil – beispielsweise in afrikanische Staaten wie Uganda und Sudan oder über das Mittelmeer nach Europa.
Diaspora-Steuer finanziert den Krieg
Kurz nach der Unabhängigkeit erhob Eritrea erstmalig eine «Diaspora-Steuer». Im Ausland ansässige Eritreer*innen mussten eine Einkommensteuer über zwei Prozent an den eritreischen Staat abführen. Anfangs stand die Diaspora dieser Zahlung nicht besonders kritisch gegenüber – eher im Gegenteil: Eritreer*innen im Ausland sahen die Steuer als ihren Beitrag, die durch den vorangegangenen Unabhängigkeitskrieg zerstörte Heimat wiederaufzubauen. Die Akzeptanz der Steuer hing offenbar auch damit zusammen, dass es sich ursprünglich um eine temporäre Zahlung handeln sollte – eine Übergangslösung, bis sich Wirtschaft und Regierung stabilisierten.
An der Regelung hat sich jedoch bis heute nichts geändert; im Ausland lebende Eritreer*innen müssen die Steuer, die als eine der wichtigsten Einnahmequellen des Regimes gilt, weiterhin abführen. Inzwischen wächst indes die Skepsis, da die Geldflüsse intransparent sind und die Steuer den Angehörigen in der Heimat offensichtlich keine Vorteile bringt. Stattdessen wird sie zur Kriegsfinanzierung genutzt. Laut dem ehemaligen Diplomaten Fathi Osman wird die Diaspora-Steuer, ähnlich wie während des Grenzkriegs gegen Äthiopien, auch zur Finanzierung des anhaltenden Konflikts in Tigray verwendet.
Dabei sind die Methoden, die die eritreische Regierung zur Erhebung der Diaspora-Steuer nutzt, skrupellos. Neben Botschaften und Konsulaten beteiligen sich auch transnationale eritreische Institutionen wie Mahbere-Kom und Young People’s Front for Democracy and Justice (YPFDJ) an der Generierung der Abgaben. Um konsularische Dienstleistungen – etwa die Ausstellung von Ausweisdokumenten – in Anspruch zu nehmen, verlangen eritreische Konsulate einen Nachweis über die Zahlung der Diaspora-Steuer. Wer nicht zahlt, hat schlechte Karten. Darüber hinaus wird es Nicht-Zahler*innen schwergemacht, ihre Familien in der Heimat zu besuchen. Selbst vor vermeintlich geschützten Einrichtungen machen die Agent*innen des Regimes keinen Halt: Sie infiltrieren Eritreisch-Orthodoxe Kirchengemeinden in Europa und wenden sich an Eritreer*innen in Geflüchtetenunterkünften, um Gelder einzutreiben.
Vor diesem Hintergrund steht zu befürchten, dass der Tigray-Konflikt weitergehen wird. Als Antwort auf internationalen Druck versprach Abiy Ahmed zwar bereits 2021, den Rückzug der eritreischen Streitkräfte aus Tigray zu veranlassen, doch dieser ist bis heute nicht vollzogen worden. Mehr noch: Die anhaltende Loyalität zwischen den Regierungschefs und der durchsichtige Trick, Eritrea aus den Friedensverhandlungen auszuklammern, hebeln das Friedensabkommen aus. Das aber sind keine guten Aussichten für Tigray, Äthiopien und die ganze Region. Denn fest steht: Solange Eritrea Kriegspartei bleibt, wird es keinen Frieden in Tigray geben.
Zum Hintergrund des Tigray-Konflikts vgl. auch die Analyse von Ivesa Lübben und Katrin Voss.