Nachricht | Krieg / Frieden - Ostafrika Hungersnot in Tigray

Der Hunger ist kein Kollateralschaden, sondern eine direkte Folge des äthiopischen Bürgerkrieges

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Jenny Ouédraogo,

19. Mai 2023, Adwa, Äthiopien: Dutzende von Frauen und Kindern stehen im humanitären Hilfszentrum Don Bosco in Tigray Schlange, um Suppe gegen die Unterernährung von Kindern zu erhalten. 
19. Mai 2023, Adwa, Äthiopien: Dutzende von Frauen und Kindern stehen im humanitären Hilfszentrum Don Bosco in Tigray Schlange, um Suppe gegen die Unterernährung von Kindern zu erhalten. Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Nachdem Äthiopien in den letzten Jahren vor allem aufgrund des Kriegs in der nördlichsten Region Tigray Schlagzeilen machte, wird das Land nun von einer der schlimmsten Hungerkatastrophen seiner Geschichte heimgesucht. Das Epizentrum dieser Krise ist, mal wieder, Tigray.

Rund fünfeinhalb der sechs Millionen Einwohner*innen Tigrays sind von Hunger betroffen, viele bereits an den Folgen gestorben. Besonders beunruhigend ist, dass die Krise schon im Frühjahr derartige Ausmaße annimmt, da so früh nach der Haupterntezeit im November eigentlich reichlich Nahrungsmittel vorhanden sein sollten.

Wie konnte es soweit kommen?

Die Hungersnot hat mehrere Ursachen. Neben einer andauernden Dürreperiode hat vor allem das große Maß an Zerstörung durch den jüngsten Krieg die Region in extreme Armut gestürzt. Mehr als 1,4 Millionen Menschen wurden gewaltsam vertrieben – insbesondere aus dem fruchtbaren Westen Tigrays, der mithilfe der paramilitärischen Amhara-Miliz «Fano» von der benachbarten Amhara-Region übernommen wurde. Auch die Wirtschaft litt unter den Folgen: Fabriken wurden geplündert oder niedergebrannt, Tourismus und Handel kamen zum Erliegen, Banken blieben geschlossen. So konnten Landwirt*innen keine Kredite aufnehmen, Sozialleistungen und Gehälter wurden nicht ausgezahlt. Nicht zuletzt trieb die Inflation die Lebensmittelpreise in unerschwingliche Höhen.

Jenny Ouédraogo ist Projektmanagerin für das Horn von Afrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Diese unterschiedlichen Ursachen tragen dazu bei, dass es derzeit eine Hungersnot gibt. Der wichtigste Faktor jedoch ist, dass sie gezielt herbeigeführt wurde. So verhinderte die äthiopische Regierung während des Kriegs, der durch ein Friedensabkommen im November 2022 eigentlich beendet werden sollte, dass Hilfsgüter in die Region gelangten. Diese Strategie veranlasste UN-Expert*innen dazu, die Regierung in Addis Abeba des Einsatzes von Hunger als Kriegswaffe zu beschuldigen. Und in der Tat: Äthiopische Soldaten und verbündete Truppen aus Eritrea hatten während des Krieges in Tigray systematisch Häuser geplündert, Vieh, Lebensmittel und landwirtschaftliche Geräte entwendet, Pflugochsen geschlachtet, Wassersysteme zerstört und alles, was sie nicht mitnehmen konnten, verbrannt.

Auch nach dem vermeintlichen Ende der Kampfhandlungen führte die anhaltende Unsicherheit, ob der Waffenstillstand Bestand haben würde, dazu, dass nur ein Bruchteil der landwirtschaftlichen Flächen in Tigray bepflanzt wurde.

Bereits Mitte 2021 wollten die Vereinten Nationen eine Hungersnot in der Region ausrufen, doch die äthiopische Regierung habe diesen Schritt blockiert, erklärt Mark Lowcock, der damalige Leiter der humanitären Hilfe der UNO. Stattdessen erklärte die Weltorganisation lediglich, dass Hunderttausende unter «hungerähnlichen» Bedingungen leben würden. Als die humanitären Organisationen zu jener Zeit Alarm schlugen, beschuldigte die äthiopische Regierung das Welternährungsprogramm (WFP), Waffen an die Rebellen in Tigray zu liefern, und verwies mehrere hochrangige UN-Beamte des Landes. Da bereits die Analyse von 2021 auf eine Hungersnot in Tigray hindeutete, hat die Regierung seither eine erneute Bewertung der Ernährungssicherheit mithilfe der Integrated Food Security Phase Classification (dem Standardinstrument für Hilfsorganisationen zur Berechnung des Ausmaßes des Hungers in der Welt) blockiert.

Als wäre die Lage nicht bereits schlimm genug, setzte das Welternährungsprogramm im März 2023 die Lebensmittellieferungen für Tigray aus, nachdem ein groß angelegter, «koordinierter und krimineller Plan» zum Diebstahl und Export humanitärer Güter nach Kenia und Somalia aufgedeckt worden war. Dieser Plan wurde von Beamt*innen der äthiopischen Regierung umgesetzt, wobei Militäreinheiten im ganzen Land von der humanitären Hilfe profitierten. Ein regierungsoffizieller Versuch, die Schuld auf niedere Beamte in Tigray zu schieben, war offensichtlich ein Ablenkungsmanöver – es handelte sich vielmehr um massive, koordinierte Diebstähle in sieben der neun Regionen Äthiopiens.

Obwohl die Lebensmittellieferungen im Dezember 2023 wiederaufgenommen wurden, sind sie angesichts des immensen Bedarfs nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das Tigray Food Cluster – eine Gruppe von Hilfsorganisationen unter dem gemeinsamen Vorsitz des WFP – gab bekannt, dass nur 14 Prozent der Menschen, die Unterstützung erhalten sollten, erreicht wurden.

Die neu eingeführte Vorsichtsmaßnahme des Welternährungsprogramm, die eine Überwachung von Lebensmittellieferungen mithilfe von GPS-Trackern und QR-Codes vorsieht, funktioniert aufgrund technischer Probleme nicht. Inzwischen haben die meisten Betroffenen infolge der langen Unterbrechung und der langsamen Wiederaufnahme der Lieferungen seit über einem Jahr keine Unterstützung durch die UNO erhalten.

Parallelen zwischen 1984 und 2024

Bereits vor vierzig Jahren hatte eine Kombination aus klimabedingter Dürre und Krieg eine katastrophale Hungersnot in Äthiopien verursacht, der bis zu eine Million Menschen zum Opfer fielen. Vertreter*innen von Hilfsorganisationen vergleichen daher die aktuelle Situation in Tigray mit der Hungerkrise von 1984.

Damals führte die äthiopische Militärregierung, die sogenannte Derg, mehrere Kriege. Sie verfügte über die größte Armee Afrikas südlich der Sahara und investierte das Gros ihrer knappen Ressourcen in deren Ausstattung. Im Jahr 1984 gab die damalige Regierung unter Oberst Mengistu Haile Mariam zudem Unsummen aus für die Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen der Revolution, die zum Sturz von Kaiser Haile Selassie geführt hatte. Auf der Straße, die vom Flughafen zum Stadtzentrum führt, und rund um den Revolutionsplatz, auf dem endlose Soldatenparaden dem Junta-Chef salutierten, wurden zudem riesige Monumentalbauten (Tiglachin Monument) errichtet – eine Spende aus Nordkorea.

Vier Jahrzehnte später führt die Regierung der «Wohlstandspartei» (Prosperity Party) nicht nur in Tigray, sondern auch in der Amhara- und in Teilen der Oromo-Region Krieg und provoziert indirekt Konflikte mit den Nachbarstaaten Somalia und Sudan. Die Militärausgaben des Landes belaufen sich inzwischen auf eine Milliarde US-Dollar – doppelt so viel wie in den Jahren zuvor. Für die an Äthiopien verkauften Waffensysteme verlieh die Regierung ihre höchste Auszeichnung an den Geschäftsführer des türkischen Drohnenherstellers Bayraktar.

1984 leugnete die äthiopische Regierung die Hungerkrise. In den kritischen Monaten von April bis September, als sie sich auf die Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Revolution und die Gründung der neuen «Arbeiterpartei Äthiopiens» (Workers Party of Ethiopia) vorbereitete, wurden Nachrichten über den Hunger systematisch zensiert.

Diese Leugnung einer Hungersnot wiederholt sich in der Gegenwart: Im Februar 2023 – nur einen Monat, bevor der erwähnte Diebstahl von Lebensmitteln durch äthiopische Beamt*innen aufgedeckt wurde – hatte Ministerpräsident Abiy Ahmed verkündet, dass Äthiopien sich nicht nur selbst mit Nahrungsmitteln versorgen, sondern diese auch exportieren könne. Einer seiner Sprecher leugnete die Hungersnot in Tigray, bevor er teilweise zurückruderte und ein Problem mit «wiederkehrenden Dürreperioden» einräumte. Und nachdem der Interimsregierungschef Tigrays, Getachew Reda, Alarm geschlagen und dringend um humanitäre Hilfe gebeten hatte, wurde er beschuldigt, «die Krise zu politisieren».

Internationale Geber lieferten in den Jahren 1983 und 1984 eine ganze Reihe von Ausreden dafür, weshalb sie nicht auf die humanitäre Krise reagierten. Zunächst konnte angeblich der dafür vorgesehene Hafen (Port of Assab) die benötigten Gütermengen nicht bewältigen, dann behauptete man, die Zahl der Hungernden sei erfunden, und zuletzt gab man vor, kein Vertrauen in die äthiopische Verwaltung der Hilfsmittel zu haben.

Die jüngste humanitäre Katastrophe in Tigray wurde ebenfalls als «vergessene Krise» bezeichnet. Es scheint, als täten sich die Geber erneut schwer damit, frühzeitig einzugreifen. Einige WFP-Vertreter*innen machen aus ihren Sympathien gegenüber der Regierung keinen Hehl. Ein von der Washington Post zitierter Diplomat sagte, das Welternährungsprogramm habe mit Blick auf den Diebstahl von Hilfsgütern «fahrlässig oder mitschuldig» gehandelt. Zudem wurden Berichte über die Untersuchungen des Diebstahls von USAID und der UNO bis heute nicht veröffentlicht.

Die Parallelen zwischen den 1980er Jahren und heute sind frappierend. Sofern nicht entschlossen gehandelt wird, könnte die aktuelle Krise sogar noch größere Dimensionen annehmen, als jene von 1984.

Abiy Ahmeds Freifahrtschein

Dennoch scheinen die Geber gewillt zu sein, der äthiopischen Regierung den Vorteil des Zweifels einzuräumen. Nachdem Ministerpräsident Abiy Ahmed ein Jahr vor Ausbruch des Krieges in Tigray der Friedensnobelpreis verliehen wurde, erhielt er am 28. Januar dieses Jahres auch noch die Agricola-Medaille, die höchste Auszeichnung des Welternährungsprogramms. Die UN-Organisation erklärte, die Auszeichnung würdige Ahmeds «Vision, Führung und Engagement für Ernährungssicherheit und Ernährung sowie das Streben nach innovativen Lösungen für die Selbstversorgung mit Weizen im Kontext sich schnell verändernder und schwieriger Umstände».

Die Warnungen vor einer Hungersnot passen daher nicht in Ahmeds PR-Kampagne, der zufolge Äthiopien sich von einem Weizenimporteur zu einem sich selbst versorgenden Weizenexporteur entwickelt habe. Doch anstatt den vermeintlichen Überschuss zur Deckung des steigenden humanitären Bedarfs im eigenen Land zu verwenden, verkauft Äthiopien das Getreide ins Ausland – und für den Bau eines milliardenschweren Nationalpalastes hat das Geld wohl auch noch gereicht.

Während Tigray sich dringend von den Folgen des Krieges erholen muss, provoziert das Handeln der äthiopischen Regierung neue Konflikte. Ein anhaltender Mangel an Grundgütern könnte die Region weiter destabilisieren. Das Gebot der Stunde lautet daher, die Kritiklosigkeit gegenüber Addis Abeba zu beenden und das bereits 2022 unterzeichnete Abkommen von Pretoria über die dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten endlich umzusetzen.