Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Cono Sur Umkämpfte Erinnerung

Uruguay 50 Jahre nach dem Putsch

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Autor*innen

Azul Cordo , Mauro Tomasini,

Jährlich erinnern Aktivist*innen und Angehörige mit einem Schweigemarsch in Montevideo/Uruguay an die Verschwundenen der Militärdiktatur und fordern Aufklärung.
Jährlich erinnern Aktivist*innen und Angehörige mit einem Schweigemarsch in Montevideo/Uruguay an die Verschwundenen der Militärdiktatur und fordern Aufklärung. CC BY-NC-SA 2.0, Marta Gonz, via Flickr

Am 27. Juni 2023 jährt sich der letzte Putsch in Uruguay zum 50. Mal. Noch immer ist die Erinnerung daran politisch umkämpft: Während zivilgesellschaftliche Akteur*innen weiter auf die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und die Verfolgung der Täter*innen drängen, möchten rechte und konservative Parteien am liebsten einen Schlussstrich ziehen.

Uruguay befand sich schon lange vor dem 27. Juni 1973 – dem Tag, an dem der damalige De-facto-Präsident Juan María Bordaberry das Parlament auflöste – im Ausnahmezustand. Das Land befand sich in einer Wirtschaftskrise, Unternehmen kürzten Löhne und die Gewerkschaften mobilisierten ihre Anhänger*innen. Bereits seit 1968 galten «Sicherheitsmaßnahmen», mit der die Regierung verfassungsmäßig garantierte Rechte im Falle «innerer Unruhen» aussetzen konnte. Dies führte zu willkürlichen Massenverhaftungen von Oppositionellen.

Während Todesschwadrone und Streitkräfte auf den Straßen patrouillierten, berief die Regierung Vertreter*innen der Wirtschaftsverbände in die Ministerien. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik schwand – und das Militär war zum Zeitpunkt des Putsches längst ein politischer Akteur mit eigenem Profil geworden.

Azul Cordo ist Journalistin. Sie schreibt für La Diaria Feminismos und LATFEM zu Menschenrechts- und Umweltthemen, sexuellen und reproduktiven Rechte und psychischer Gesundheit.

Mauro Tomasini ist Koordinator der RLS-Partnerorganisation SERPAJ, wo er im Bereich zivile und politische Rechte, u.a. zu Fällen von Staatsterrorismus arbeitet. Er publiziert zu Fragen der öffentlichen Sicherheit, der institutionellen Gewalt und des Strafvollzugs auf nationaler und regionaler Ebene.

Im Gegensatz zur chilenischen Diktatur (1973-1990), in der in relativen Zahlen die meisten Menschen ermordet wurden und der argentinischen (1976-1983), wo es die meisten gewaltsam Verschwundenen gab, waren in Uruguay (1973-1985) Folter und massive und lang andauernde politische Inhaftierungen die wichtigsten repressiven Methoden der Diktatur. Allein in den ersten drei Jahren der «Sicherheitsmaßnahmen» (1968-1971) wurden etwa zehntausend Menschen inhaftiert – in einem Land, in dem nicht mehr als drei Millionen Menschen lebten. Im Jahr 1972 war die Führung der Befreiungsbewegung der Tupamaros (MLN-T) zerbrochen, was die Organisation handlungsunfähig machte. Trotzdem verschärfte die Regierung Bordaberry ihre putschistische Strategie weiter: Es folgten zwölf Jahre Staatsterrorismus. Parteien und Gewerkschaften wurden verboten, die Presse zensiert, Kultureinrichtungen wie dasTheater El Galpón geschlossen, individuelle Freiheiten und das Versammlungsrecht aufgehoben.

Neben der massenhaften Inhaftierung von Aktivist*innen aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Parteien führte die Diktatur Staatsbürgerschaften der Kategorie A, B und C ein. Wer in die Kategorie C eingestuft wurden, durfte keine öffentlichen Ämter (einschließlich Lehrämter) innehaben und wurde entlassen. Die Betroffenen hatten erhebliche Schwierigkeiten bei der Suche nach anderen Arbeitsplätzen, wurden durch die Sicherheitskräfte verfolgt und waren sozialer Stigmatisierung ausgesetzt. Etwa 380.000 Menschen mussten ins Exil gehen, 197 «verschwanden» nach ihrer Inhaftierung. Der Rat der Oberbefehlshaber der Streitkräfte rechtfertigte die Repressionen unter dem Vorwand der Landesverteidigung, z.B. um «die Masse der Arbeiter von der Abhängigkeit und Unterwerfung zu befreien, die ihnen falsche Führungspersonen, die antinationalen Ideologien und Interessen folgen, einimpfen wollten» (Kommuniqué Nr. 8, 1. Juli 1973). In den ersten zwei Wochen nach dem Putsch war der Widerstand entschlossen: Arbeiter*innen und Studierende besetzten in einem Generalstreik Fabriken und Fakultäten. In den darauffolgenden Jahren wurde der Widerstand aufrechterhalten: Im Untergrund, aber auch mit niedrigschwelligen Cacerolazos, bei denen Nachbar*innen Lärm mit Kochtöpfen erzeugten und ihren politischen Unmut auszudrücken. Das führte 1980 zu einer massiven Beteiligung an der Volksabstimmung. Die Bevölkerung sagte «Nein» zu einer Verfassungsreform, die die Militärregierung aufrechterhalten sollte.

Zwei Dämonen oder Nunca Más?

Während der ersten demokratischen Regierung von Julio María Sanguinetti (1985-1990) etablierte sich ein Diskurs, der den Staatsterrorismus legitimierte. Mit dem Argument, die junge Demokratie befände sich noch in einem prekären Zustand, verhinderte man die juristische Verfolgung von Militärs und Zivilist*innen, die in die Diktatur verwickelt waren. Man vertrat eine «Theorie der zwei Dämonen», mit der die Schuld der Guerilla und des Militärs gleichgesetzt wurde. So konnte der Staat von allen Gräueltaten, die er begangen hatten, freigesprochen werden. Andererseits betrieb man eine aktive Politik des Vergessens, die nahelegte, man solle die Geschichte «zu den Akten» legen.

In den 1990er Jahren erhoben sich Stimmen gegen das Vergessen. Die Parolen «Wahrheit, Erinnerung, Gerechtigkeit» und Nunca más (Nie wieder) wurden von Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Studierendenvereinigungen sowie progressiven politischen Organisationen und radikalen Linken hochgehalten. Die Erinnerungen und Zeugnisse der Opfer waren und sind ein wichtiges Instrument, um eine demokratische Erinnerungsarbeit zur jüngsten Vergangenheit zu schaffen.

Nach der Rückkehr zur Demokratie hielten die liberalen, konservativen und Mitte-Rechts-Regierungen an der «Theorie der zwei Dämonen» fest und beharrten darauf, nach vorne zu schauen, ohne die Verbrechen des Staatsterrorismus aufzuarbeiten. Ein Amnestie-Gesetz verhinderte, dass die Verantwortlichen für die Verbrechen vor Gericht gestellt wurden. Seit der ersten Regierung des linken Parteienbündnisses Frente Amplio, die im Jahr 2005 antrat, wurden forensische Untersuchungen ermöglicht, jedoch mit zahlreichen zeitlichen, personellen und finanziellen Einschränkungen. Auch der Zugang zu den offiziellen Archiven blieb schwierig. Im Wesentlichen waren es soziale Organisationen und Menschenrechtsbewegungen, die Fortschritte bei der Untersuchung und Verurteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erzielten: die Mütter und Angehörigen der gewaltsam verschwundenen Gefangenen, der Dienst für Frieden und Gerechtigkeit (SERPAJ), die Vereinigung ehemaliger politischer Gefangener CYSOL und die Beobachtungsstelle Luz Ibarburu und das Institut für juristische und soziale Studien (Ielsur). In den Jahren 1989 und 2009 wurden Referenden organisiert, mit denen die Amnestie-Gesetze rückgängig gemacht werden sollten. Ihr Scheitern waren ein herber Rückschlag für Uruguays Zivilgesellschaft.

Seit 1996 gibt es jährlich am 20. Mai einen Schweigemarsch durch die zentrale Avenida 18 de Julio in Montevideo. Immer mehr Menschen nehmen teil und er findet heute in fast allen Provinzen des Landes statt. Obwohl der Schweigemarsch groß ist und verschiedene politische Gruppierungen ohne Parteifahnen dort zusammenkommen, wirkt er auch beschwichtigend: Einmal im Jahr versammelt sich die Gesellschaft, demonstriert schweigend, ruft ¡Presente! (Anwesend) bei jedem Namen auf der Liste der 197 verschwundenen Gefangenen, singt die Nationalhymne, applaudiert und geht nach Hause. Der Schweigemarsch wird mit «Wo sind sie?», der Frage nach den Verschwundenen, eröffnet, aber er fragt nicht nach den tieferen Gründen für den Putsch oder nach den Verantwortlichen für den Staatsterrorismus. Im Schweigemarsch wird «Wahrheit und Gerechtigkeit» für die Verschwundenen gefordert, wobei die gleiche Forderung für die politischen Gefangenen, die, die im Exil leben, die im Untergrund leben und die Entlassenen etwas untergeht.

Die Rückkehr der Rechten

Nach fünfzehn Jahren progressiver Regierungen (2005-2020) unter Führung der Koalition der Frente Amplio gewann im Jahr 2020 die rechtskonservative Nationale Partei die Wahlen. Präsidentschaftskandidat Luis Lacalle Pou, Sohn des ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle (1990-1995), gewann mit Hilfe einer Mitte-Rechts-Koalition, der so genannten «Bunten Koalition», die sich aus der Nationalen Partei, der konservativen Colorado-Partei, der sozialdemokratischen Unabhängigen Partei, der Militärpartei Cabildo Abierto und der liberalen Partido de la Gente zusammensetzt.

Die neue rechte Regierung warf bald die Frage auf, inwieweit sie die von den Regierungen der Frente Amplio erzielten Fortschritte im Bereich der Menschenrechte respektieren würde. Säulen dieser Menschenrechtspolitik waren die Entkriminalisierung der Abtreibung, die staatliche Regulierung des Marihuanamarktes und die Ehe für alle. Auch die Haltung der aktuellen Regierung zu den Menschenrechtsverletzungen der Diktatur bleibt offen. Von Bedeutung ist dabei der wachsende Einfluss des extrem rechten Cabildo Abierto, einer Partei, die 2019 als Reaktion auf die Entlassung des ehemaligen Armeechefs Guido Manini Ríos gegründet wurde. Manini hatte die Justiz dafür kritisiert, dass sie Militärs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgte. Er ist der Parteivorsitzende des Cabildo Abierto. Zu den Parteimitgliedern gehören auch Militärs und Beamte wie der Rechtsanwalt Guillermo Domenech (heute Senator), der als Jurist während der Diktatur an der Entlassung oppositioneller Lehrer*innen mitwirkte. Cabildo Abierto erhielt elf Prozent der Wähler*innenstimmen und stellt damit drei Senator*innen und elf Abgeordnete sowie Vertreter*innen im Ministerium für Wohnungsbau und im Gesundheitsministerium.

Diese neue Partei mit klassisch antikommunistischen Zügen und einer anti-progressiven Einstellung ist Teil sowohl einer regionalen wie auch internationalen Entwicklung. Der argentinische Historiker und Journalist Pablo Stefanoni schreibt in seinem jüngsten Buch «La rebeldía se volvió de derecha?» (dt. «Ist der Widerstand rechts geworden?») dazu: «Die neuen Rechten drücken Unzufriedenheit, Unmut und Wut in der Gesellschaft aus. Einige von ihnen sind gegen fortschrittliche Entwicklungen, die soziale, geschlechtliche oder sexuelle Hierarchien geschwächt haben. Aber sie kommen auch als Reaktion auf eine Fokussierung auf die Mitte, die dazu geführt hat, dass es in vielen Ländern keine großen Unterschiede zwischen Mitte-Rechts und Mitte-Links gibt. Und auf das Fehlen von Alternativen und positiven Zukunftsbildern.»

Die Mitglieder des Cabildo Abierto wollen in der Debatte zur Aufarbeitung der Vergangenheit «die ganze Wahrheit» erfahren. Damit meinen sie, dass auch Militärs und die «Opfer der Subversion», wie sie es nennen, zu Wort kommen und anerkannt werden. Durch ein solches Gleichsetzen von Opfern und Täter*innen ziehen sie den Charakter des Putsches in Zweifel.

Das Vergessen überwinden

Bei seiner vorherigen Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2014 erklärte der aktuelle Präsident Luis Lacalle Pou, dass er es für notwendig halte, «dieses Kapitel» der jüngeren Geschichte abzuschließen und meinte damit die Zeit der Diktatur. Er kündigte an, dass er im Falle seiner Wahl zum Präsidenten die forensischen Suchen nach den Spuren der gewaltsam Verschwundenen einstellen werde. Sechs Jahre später, während des Wahlkampfs, der ihn zum Präsidenten machte, bezeichnete Lacalle Pou diese Äußerungen als seinen schwersten politischen Fehler und erklärte: «Ich glaube zwar, dass Uruguay ein neues Kapitel aufschlagen muss, aber ich bin nicht der Richtige, um mich in die Lage derjenigen Uruguayer zu versetzen, die wissen wollen, was passiert ist». Er versicherte, dass er alle Ressourcen zur Verfügung stellen würde, um die Ausgrabungen weiter fortzuführen.

Der Wandel seiner Position ist zweifellos eine Folge der wachsenden Schweigemärsche als Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses, der «Wahrheit und Gerechtigkeit» für die Verschwundenen und ihre Familien fordert. Die gut besuchten Schweigemärsche sind einer der größten Erfolge des langen Kampfes der sozialen, politischen und Menschenrechtsorganisationen. Sie haben es geschafft, die Menschenrechtsverletzungen während des Staatsterrorismus auf die staatliche Agenda zu setzen. Ganz egal, welche politische Richtung die jeweilige Regierung vertritt, sie kann dieses Thema nicht mehr aus ihren Programmen streichen.   

Trotz aller Entwicklungen nahm Präsident Lacalle Pou nicht an dem vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten Wiedergutmachungsakt an diesem 15. Juni teil. Darin wurde die Verantwortung des Staates für die Verbrechen an den «April-Mädchen», drei 1974 ermordeten Tupamaras-Aktivistinnen, dem im selben Jahr gewaltsam verschwundenen Medizinstudenten und Aktivisten der Kommunistischen Partei Luis Eduardo González und dem im Jahr 1977 gewaltsam verschwundenen kommunistischen Arbeiter Oscar Tassino Asteazu, anerkannt.

Es ist immer noch schwierig, sich die Folgen und Auswirkungen des Staatsterrorismus heute vor Augen zu führen. «Können wir sagen, dass die Diktatur gescheitert ist?», fragte sich der uruguayische Historiker und Politikwissenschaftler Gerardo Caetano in einem Radiointerview am 16. Juni. Er antwortete: «Sie ist nicht komplett gescheitert: Es gibt immer noch Straffreiheit». Denn viele Militärs und Zivilist*innen, die für die Verfolgung, Folter und das Verschwinden von mindestens 197 Personen während des Regimes verantwortlich waren, sind noch nicht identifiziert und verurteilt worden.

Eine brutale Kontinuität der Praktiken der Diktatur ist die hohe Zahl der Inhaftierungen in Uruguay. Während der uruguayischen Diktatur wurden mehr als 5.000 Menschen verhaftet. Infolgedessen galt Uruguay als das Land mit der höchsten Pro-Kopf-Zahl politischer Gefangener weltweit. Zwar gibt es heute in Uruguay keine politischen Gefängnisse mehr, aber die massenhafte Inhaftierung ist nach wie vor das unwirksame und ungerechte Mittel zur Lösung von Konflikten. Die Menschenrechtsorganisation SERPAJ beklagt in ihren jährlichen Berichten die Überbelegung, unmenschliche und grausame Haftbedingungen und Folter in uruguayischen Gefängnissen.

Heute ist es undenkbar, dass das Kapitel geschlossen wird. In diesem Jahr, in dem sich der letzte Staatsstreich in Uruguay zum 50. Mal jährt, steht die Relevanz des Themas und auch die Notwendigkeit, es aus verschiedenen Blickwinkeln anzugehen, außer Frage. Zentral dabei sind die Forderungen, die sich gegen die Straffreiheit für die während der Diktatur begangenen Verbrechen richten. Während man die Verbrechen der Diktatur während der ersten fünfzehn demokratischen Jahre schlicht leugnete, breitet sich nun ein Revisionismus aus, der die politischen Positionen zur Vergangenheit aufweichen möchte. Es ist aber eine Vergangenheit, die nicht vergeht.

Es gibt viele und unterschiedliche Ideen, was Nunca Más – Nie wieder – bedeutet. Einige setzen sich gegenüber anderen durch, verschwinden oder verändern sich. Was aber schon seit einiger Zeit klar ist, ist, dass Uruguay nicht mehr das Land ist, dass es während der Diktatur war.  
 

Übersetzung: Caroline Kim