Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Nordafrika Ägypten: 10 Jahre Konterrevolution

Hossam el-Hamalawy über die politischen Entwicklungen seit dem Putsch.

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Plakat mit dem Bild des Präsidenten und der Aufschrift «Militär und Polizei sind auf der Seite des Volkes» in Kairo, Ägypten.
Plakat mit dem Bild des Präsidenten und der Aufschrift «Militär und Polizei sind auf der Seite des Volkes» in Kairo, Ägypten.
 
 

 

 

Foto: IMAGO / Friedrich Stark

Am 3. Juli 2023 jährt sich zum zehnten Mal, dass der damalige ägyptische Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi, einen Putsch gegen Ägyptens ersten demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Mursi führte. Dieses weltbewegende Ereignis zerschlug die Revolution, die am 25. Januar 2011 im bevölkerungsreichsten arabischen Land gegen Präsident Hosni Mubarak begonnen hatte – ein Autokrat, der das Land drei Jahrzehnte lang regiert und dabei umfangreiche Unterstützung des Westens erhalten hatte. Der erste Aufstand in einer Reihe von Protesten in der Region wurde bald als «Arabischer Frühling» bezeichnet – der Sturz Mursis im Jahr 2013 markierte das endgültige Ende dieses Protestzyklus und der Beginn eines bis heute andauernden reaktionären Rückschlags.

Hossam el-Hamalawy ist ein ägyptischer Journalist und sozialistischer Aktivist, der derzeit in Berlin lebt. Seine Beiträge erscheinen regelmäßig auf Substack und Twitter.

Was bedeutet Sisis Herrschaft für die über 100 Millionen Menschen, die in Ägypten leben? Mursi, der 2019 in Regierungshaft starb, war ein führendes Mitglied und verfolgte eine Politik, die allem Anschein nach konservativ und neoliberal war. Seine Amtszeit als Präsident enttäuschte viele Progressive und überzeugte daher nicht wenige von ihnen, Sisis Putsch 2013 zu unterstützen. Doch zehn Jahre später zeigt sich, dass die Machtübernahme des Militärs eine Welle von Staatsterror und scheinbar dauerhafter autoritärer Herrschaft auslöste.

Herrschaft ohne Regierung

Am Vorabend der Revolution von 2011 umfasste die herrschende Koalition des Landes die drei Komponenten des repressiven Staatsapparates – Militär, Polizei und Geheimdienst – sowie eine Clique neoliberaler Geschäftsleute um Hosni Mubaraks Sohn Gamal, welche die oberen Ränge der regierenden Nationaldemokratischen Partei besetzten.

Seit seiner Gründung nach dem Putsch der «Freien Offiziere» unter den Generälen Muhammad Nagib und Gamal Abdel Nasser im Jahr 1952 wurde der Unterdrückungsapparat Ägyptens mit Absicht fragmentiert gehalten, mit sich überschneidenden Mandaten und schwacher Koordination. Die verschiedenen Sektionen spionierten einander aus und konkurrierten um Ressourcen. Dieses Design spiegelte die Interessen der neuen Herrscher*innen wider: die Verhinderung eines erneuten Militärputsches. Ein solcher Ansatz wird von Expert*innen für zivil-militärische Beziehungen üblicherweise als «Gegengewichtung» bezeichnet. Es handelte sich hier keinesfalls um eine ägyptische Erfindung, sondern war bereits Standardtaktik in Autokratien des gesamten globalen Südens.

Die These, die von einigen ägyptische Analysten sowie armeefreundliche Propagandisten vertreten wird, besagt, dass das Militär während der Herrschaft Mubaraks zugunsten der Polizei ins Abseits gedrängt wurde. Sie argumentieren, dass dies der Hauptgrund dafür war, dass das Militär den 18-tägigen Aufstand zunächst unterstützte und Mubarak 2011 zum Rücktritt zwang. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Es stimmt, dass Mubarak das Innenministerium innerhalb der Regierungskoalition förderte. Er stützte sich dabei stark auf deren Ausführungsorgane, vor allem auf die Geheimpolizei und die Zentralen Sicherheitskräfte (die militarisierte Bereitschaftspolizei), um inländischen Dissident*innen entgegenzutreten und Aufstände zu bekämpfen. Dennoch wurde das Militär kaum marginalisiert. Es trat lediglich in den Hintergrund und die hochrangigen Führungskräfte genossen Privilegien, häuften Reichtümer an und beeinflussten die Politikgestaltung aus dem Abseits. Die Generäle vermieden so jegliche öffentliche Kritik oder Rechenschaftspflicht und überließen die alltäglichen politischen Auseinandersetzungen der Polizei und den Politiker*innen. Kurzgefasst – sie herrschten, ohne zu regieren.

Nach dem Friedensvertrag mit Israel 1979 verkündeten der damalige Präsident Anwar Sadat und sein Nachfolger Mubarak das «Ende aller Kriege» und arbeiteten an einer Änderung der strategischen Armeedoktrinen. In den 1980er Jahren weigerte sich die ägyptische Armee de facto, ihre Kampfkapazität zugunsten wirtschaftlicher Aktivitäten auszubauen. Trotz der relativ kurzen Phase der Professionalisierung und Entpolitisierung unter Sadat erlebte das Militär während der Amtszeit von Feldmarschall Abdel Halim Abu Ghazala, Mubaraks Verteidigungsminister, eine Wiederbelebung des politischen Einflusses. Ghazala überwachte die Ausweitung der Militärunternehmen bis zu seinem Sturz 1989.

In den zwei Jahrzehnten vor der Revolution kamen Geschäftsleute an die Macht, die von den neoliberalen Reformen des Regimes und ihren Verbindungen zu Mubaraks jüngstem Sohn Gamal profitierten. Gamal wurde als Nachfolger seines Vaters gehandelt und viele Gerüchte über die Spannungen zwischen Geschäftsleuten und Militär und den Widerstand von Spitzenpolitiker*innen gegen die Aussichten eines Zivilisten im Präsidentenamt nahmen zu. In Wirklichkeit wurde 2008 in einem geleakten Telegramm der US-Botschaft trotz der Spannungen zwischen den Wirtschaftseliten und dem Militär betont, dass «die Gesamtbeziehung zwischen den beiden weiterhin kooperativ und nicht kontrovers zu sein scheint». Gamal Mubarak pflegte auch enge Beziehungen zur militärischen Führungsspitze, was ihm die Unterstützung der Generäle für eine künftige Präsidentschaft hätte sichern können.

Darüber hinaus ermutigten der Aufstieg dieser neoliberalen Eliten und Mubaraks Nachfolgepläne den Diktator, dem Militär noch mehr wirtschaftliche und politische Privilegien zu gewähren, um deren Unterstützung zu gewährleisten. Keines der Militärunternehmen wurde privatisiert. Im Gegenteil: Die Armee intervenierte um Unternehmen des öffentlichen Sektors zu kaufen (oder genauer gesagt: zu annektieren). Andernorts besetzten pensionierte Generäle die Reihen der Staatsbürokratie und die Vorstände öffentlicher und privater Unternehmen.

Sisi und die Revolution

Als die Revolution 2011 ausbrach, hatte das Militär eine Position als zentrale Stütze des Regimes inne und war in enge Partnerschaften mit dem lokalen und internationalen Kapital eingebunden. Als das Innenministerium am 28. Januar 2011, dem sogenannten «Freitag des Zorns», zusammenbrach, befahl Mubarak der Armee zur Rettung des Regimes einzugreifen. Schnell wurden Truppen in der Hauptstadt und in den städtischen Zentren der Provinzen stationiert.

Die Generäle unterstützten den Aufstand nicht. Im Gegenteil, sie versuchten mehr als einmal, die Besetzung des Tahrir-Platzes aufzulösen. Sie konnten jedoch ihren Unteroffizieren und Wehrpflichtigen nicht befehlen, das Feuer auf die Demonstrant*innen zu eröffnen, da sie deren Loyalität angesichts einer Bewegung, der sich aus allen Gesellschaftsschichten zusammensetzte, nicht garantieren konnten. Als schließlich in der letzten Woche des 18-tägigen Aufstands die Arbeiterstreiks begannen, hatten die Generäle keine andere Wahl, als Mubarak zum Rücktritt zu zwingen, um nicht das gesamte Regime (dessen Teil sie waren) zusammenbrechen zu lassen.

In der darauffolgenden Übergangszeit bemühte sich das Militär um ein Bündnis mit den Muslimbrüdern und den Salafisten, in der Hoffnung, dass die Islamisten dazu beitragen würden, die revolutionären Strömungen zu bremsen. Gleichzeitig tat die Armee ihr Bestes, um allen Forderungen nach einer Reform oder Umstrukturierung des verhassten Innenministeriums auszuweichen.

Die Militäreliten strebten ein schnelles Ende der Revolte und eine Rückkehr zur «Normalität» an, um mit ihrer altgewohnten Formel «herrschen ohne regieren» fortzufahren. Dennoch gelang es den Islamisten nicht, die Militanz auf den Straßen, an den Arbeitsplätzen und in den Universitäten zu dämpfen. Eine Welle von Arbeitskämpfen folgte auf die andere; die Demonstrant*innen lieferten sich Konfrontationen mit den Polizeikräften und Soldaten.

In der lokalen Presse wird über derlei Menschenrechtsverletzungen nicht berichtet, da Sisi sowohl die öffentlichen als auch die privaten Mainstream-Medien kontrolliert.

Mit der Wahl des Kandidaten der Muslimbruderschaft, Muhamed Mursi, begann – anders als von Seiten des Militärs gehofft – im Sommer 2012 ein neues Kapitel der «Instabilität». Mursi versuchte, das Militär und die Polizei zu beschwichtigen, indem er sie für die Verbrechen, die sie in den ersten beiden Jahren der Revolution begangen hatten, nicht zur Rechenschaft zog – ganz zu schweigen von den Missbräuchen in den vorangegangenen Jahrzehnten unter Mubarak. Der faustische Handel, wonach die Militärs in die Kasernen zurückkehren würden, wenn die Regierung ihre Interessen wahrte und den Aufstand beendete, hatte jedoch keinen Erfolg.

An diesem Punkt setzten sich die Generäle unter der Führung von Sisi heimlich mit den Führer*innen der säkularen Opposition in Verbindung, die für den ersten Jahrestag von Mursis Amtsantritt Massenproteste planten. Sisi und die hohen Offiziere planten ihrerseits, die Proteste als Vorwand zu nutzen und das Eingreifen der Armee als «Antwort» auf die Frage des Volkes und nicht als Staatsstreich darzustellen. Ein Experte bezeichnete das Ereignis als eine «Putschrevolution».

Doch was auf den 3. Juli 2013 folgte, war keine Widerherstellung des Mubarak-Regimes und seiner autoritären Struktur. Stattdessen baute Sisi eine neue Ordnung auf – eine, von der er hoffte, dass sie stärker, widerstandsfähiger und absoluter sein würde als das System, welches zwei Jahre zuvor zusammengebrochen war. Der ägyptische Soziologe Sameh Naguib erklärt:

Die Logik ist simpel: Das alte Regime wäre nicht gestürzt, wenn es nicht schwach gewesen wäre und keine strategischen Fehler gehabt hätte. Wenn die fast verloren gegangene Klassenmacht des alten Regimes wiederhergestellt werden soll, dann müssen neue radikale Politiken und Strategien eingeführt werden. Wenn das alte Regime zu ängstlich war, um radikale neoliberale Reformen durchzuführen, dann muss das neue Regime wagemutig voranschreiten, auch wenn dies zu weitreichenden Klassenkämpfen führt. Wenn sich das alte Regime auf ein implizites Gleichgewicht mit der von den Muslimbrüdern angeführten Opposition verlassen hat, ist es jetzt an der Zeit, diese Organisation und dieses Gleichgewicht zu zerstören. Wenn das alte Regime autoritär war, aber in Bezug auf das Risiko der Gewaltanwendung seine Grenzen hatte, darf das neue Regime nicht zögern, selbst wenn dies Massaker bedeutet. Viele der Merkmale des neuen Regimes sind von dieser Logik geprägt.

Die Gegenreaktion beginnt

Die staatliche Gewalt begann unmittelbar nach der Machtübernahme durch das Militär. Öffentliche und private Mainstream-Medien schürten die Angst in der Bevölkerung, dämonisierten Mursi-Anhänger*innen und hetzten gegen die von ihnen organisierten Sitzstreiks auf dem Rabaa-Platz in Kairo und dem Nahda-Platz in Gizeh. In einer öffentlichen Erklärung forderte Sisi am 24. Juli 2013 ein «Mandat des Volkes», was ihn befähigen sollte gegen die «mögliche Terrorgefahr» vorzugehen. Zwei Tage später wurden mit Hilfe der Armee Massen mobilisiert, welche die Plätze füllten, während Fernsehprominente weiterhin gegen die Putschisten hetzten und eine moralische Panik schürten. Tötungen durch das Militär und die Sicherheitskräfte waren bereits an der Tagesordnung bevor am 14. August 2013 die Protestcamps in Rabaa und Nahda aufgelöst wurden und an einem einzigen Tag mehr als 800 Demonstrant*innen ermordet wurden – das größte Massaker in der modernen ägyptischen Geschichte.

Sisis Repressionen während der nominellen Präsidentschaft des ehemaligen Vorstands des Obersten Verfassungsgerichts, Adly Mansour, erfolgten in sukzessiven Wellen. Zunächst konzentrierte er sich auf Organisationen mit der Kapazität, landesweit zu mobilisieren. Er begann eine Kampagne zur Auslöschung der Muslimbruderschaft, indem er ihre Organisationsstrukturen zerschlug und ihre Führer und Kader tötete und verhaftete. Etwa zur gleichen Zeit wurde ein Anti-Protest-Gesetz verabschiedet, das jede Form von Straßenaktivismus verbot. Mit diesem Gesetz wurden säkulare Aktivist*innen inhaftiert, darunter auch einige, die die Machtübernahme durch das Militär unterstützten. Die Bewegung des 6. April, eine der führenden Jugendgruppen des Landes, wurde ebenfalls verboten. Die Universitäten – unter Sadat und Mubarak sichere Zufluchtsorte für politisch Andersdenkende – wurden von den zentralen Sicherheitskräften des Innenministeriums mit scharfer Munition gestürmt und die Student*innen am helllichten Tag zusammengetrieben und getötet.

Sisi übernahm im Juni 2014 offiziell das Präsidentenamt und initiierte umgehend eine neue Welle der Repression gegen alle Organisationen, die auf lokaler Ebene mobilisieren konnten. Die Fußball-Ultras, welche eine wichtige Rolle während der Revolution gespielt hatten, wurden 2015 für illegal erklärt, und ihre Mitglieder werden seitdem regelmäßig verhaftet.

Eine Reihe von Gesetzen wurde erlassen, um die einstmals florierende Zivilgesellschaft des Landes zu lähmen oder die Schließung von Nichtregierungsorganisationen (NROs) zu erzwingen. Menschenrechtsaktivist*innen wurden auf der Straße angegriffen, mit Reiseverboten belegt, ihr Vermögen wurde eingefroren und sie wurden inhaftiert. Denjenigen, denen es gelang aus dem Land zu fliehen, wurde die Ausstellung von Ausweispapieren verweigert, und ihre Familien in der Heimat werden zur Zielscheibe von Angriffen. Die Zuständigkeiten der Militärgerichte wurden erweitert, und bald wurden Tausende von Zivilist*innen verurteilt. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen stieg sprunghaft an. Das gewaltsame Verschwindenlassen und die Folterung von Verdächtigen, einschließlich Kindern, sind weiterhin an der Tagesordnung. Menschenrechtsaktivist*innen haben sexuelle Gewalt gegen Männer und Frauen dokumentiert. Im Rahmen einer von der Regierung geförderten Kampagne für konservative Moralvorstellungen wurden Frauen wegen «Verletzung der Familienwerte» inhaftiert, während die Polizei die größte Kampagne gegen die LGBTQ-Gemeinschaft seit Jahrzehnten durchführte.

Sisis Imperium der Inhaftierung

Die Massenverhaftungen führten zu einer wachsenden Zahl von Menschen hinter Gittern. Der Staat legt keine genauen offiziellen Zahlen vor, aber einige ägyptische Bürgerrechtler*innen schätzen die Gesamtzahl der Inhaftierten auf bis zu 120 000 verurteilte Gefangene und Untersuchungshäftlinge. Fast die Hälfte von ihnen wird aus «politischen» Gründen festgehalten, die andere Hälfte aus «kriminellen» Gründen.

Im grob geschätzt ersten Jahr nach dem Putsch wurden rund 41.000 Personen verhaftet oder angeklagt. Nach Angaben des staatlich kontrollierten Nationalen Rates für Menschenrechte waren die ägyptischen Gefängnisse 2015 zu 150 Prozent ausgelastet. Haitham Muhammadein, ein sozialistischer Anwalt und ehemaliger Häftling, schätzt die Gesamtzahl der politischen Gefangenen und Inhaftierten bis 2022 auf 20.000 bis 30.000.

Unterdrückte gesellschaftliche Gruppen wie Kopt*innen oder Frauenrechtlerinnen, die sich vor der sektiererischen und konservativen Ideologie der Bruderschaft fürchteten, begrüßten die Proteste vom 30. Juni 2013 und die Machtübernahme durch die Armee in der Hoffnung, dass an seiner Stelle eine säkularere und liberalere Alternative entstehen würde.

Um die steigende Zahl von Gefangenen unterzubringen, baute Sisi bis 2021 mindestens 34 neue, vom Innenministerium betriebene Gefängnisse. Die Zellen sind überfüllt, und die hygienischen Standards sind katastrophal. Die Gefangenen leiden unter unzureichender Ernährung, haben keinen ausreichenden Zugang zu Belüftungsanlagen, dürfen sich nicht bewegen, werden am Kontakt mit ihren Familien gehindert und erhalten keine medizinische Versorgung. Zwei weitere Megagefängnisse wurden in Wadi al-Natron und Badr gebaut (in zwei Außenbezirken des Großraums Kairo, Anmerkung), und Sisi benannte Gefängnisse in Orwellianischer Manier in «Rehabilitationszentren» um.

Eine ägyptische Menschenrechtsgruppe dokumentierte zwischen dem 30. Juni 2013 und dem 30. November 2019 mindestens 958 Todesfälle in Haft, darunter neun Minderjährige. Rund 70% der Todesfälle waren auf die absichtliche Verweigerung medizinischer Versorgung zurückzuführen, 14 % auf Folter und 7 % auf Selbstmord. Im Jahr 2022 waren es bereits mehr als 1.000 Todesfälle.

Von Beginn an richtete sich Sisis Krieg gegen den Terror auch auf die Sinai-Halbinsel, wo ein bewaffneter, vormals relativ unbedeutender Aufstand, nach dem Putsch an Fahrt gewann. Die Armee, die Polizei und die sie unterstützenden Milizen waren an grotesken Übergriffen beteiligt, die von kollektiven Bestrafungen, willkürlichen Tötungen an Kontrollpunkten, der Festnahme von Familienangehörigen von Verdächtigen als Geiseln bis hin zu Hinrichtungen vor Ort reichten. Das Militär setzte auch konventionelle Waffen in zivilen Gebieten ein, wie schwere Artillerie, Kampfhubschrauber und Streubomben.

Maulkorb für die Medien

In der lokalen Presse wird über derlei Menschenrechtsverletzungen nicht berichtet, da Sisi sowohl die öffentlichen als auch die privaten Mainstream-Medien kontrolliert. Nach dem Staatsstreich übernahm das Militär sehr schnell die Kontrolle über die Medien. Sisi entschied sich zunächst dafür, den Informationsfluss zu monopolisieren und einzuschränken. Die Fernsehsender der Opposition wurden sofort abgeschaltet. Büros internationaler Nachrichtensender wurden gestürmt und mehrere ausländische Sender vom Netz genommen, während ausländische Journalist*innen schikaniert und deportiert wurden. Mehr als 600 Websites wurden blockiert, darunter buchstäblich alle, die von der Opposition, lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen oder unabhängigen Journalisten betrieben wurden.

Auf lokaler Ebene wurden die Journalist*innen systematisch eingeschüchtert. Die Polizei stürmte das Pressesyndikat, welches unter Mubarak ein sicherer Hafen für Medienschaffende und Aktivist*innen gewesen war, um wegen Protestaktionen angeklagte und flüchtige Journalisten zu verhaften. Sisis Anti-Terror-Gesetz von 2015 kriminalisierte die Anfechtung von Erklärungen des Militärs. Es folgten eine Welle von Gesetzen, die die staatliche Kontrolle über traditionelle und Online-Medien verschärften und Behörden zur Regulierung der Medien schufen. Die Leiter*innen dieser Behörden wurden von Sisi direkt ernannt, auch der Oberste Rat für Medienregulierung, die Nationale Medienbehörde und die Nationale Pressebehörde.

Geradezu schockierend ist die Tatsache, dass ein Unternehmen im Besitz der staatlichen Sicherheitsbehörde die meisten lokalen Zeitungen, Fernseh- und Radiosender aufkaufte und so seinen Einfluss auf die gesamte Medienbranche konsolidierte. Ende 2021 stufte das Komitee zum Schutz von Journalisten Ägypten als Land mit weltweit drittschlechteste Haftbedingungen für Journalist*innen ein, nach China und Myanmar. Auch im Weltindex für Pressefreiheit 2022 von Reporter ohne Grenzen rangiert Ägypten an einhundertachtundsechzigster Stelle von 180 Ländern. Unter Mubarak lag das Land noch auf Platz 127.

Eine bunt zusammengewürfelte Opposition

Sisis konterrevolutionärer Vorstoß fand zunächst in großen Teilen der Gesellschaft Unterstützung. Die Polarisierung des Landes unter Mursi hatte zu Verwerfungen zwischen Islamisten und säkularen Kräften geführt – nicht nur als Ergebnis der Aktionen der Muslimbruderschaft, sondern auch der liberalen Opposition, welche sich um die so genannte Nationale Heilsfront scharte, mit dem Narrativ des Konfliktes als nationale Rettung.

Die ägyptische Großbourgeoisie war natürlich unzufrieden mit dem revolutionären Umbruch gewesen und stellte sich hinter die Armee, aber sie war bei weitem nicht die einzige Klasse in der breiten Pro-Sisi-Allianz: auch Teile der Mittelschicht waren der Instabilität überdrüssig geworden und schenkten der sensationslüsternen Propaganda in den Mainstream-Medien Glauben, die die Muslimbrüder für die Misere des Landes verantwortlich machten.

Ägypten mag zu groß sein, um zu scheitern, aber der ägyptische Präsident ist es nicht.

Der Staatsstreich genoss auch unter großen Teilen der Arbeiterklasse breite Unterstützung. Ein Jahr unter der Regierung der Muslimbrüder hatte weder eine Verbesserung des Lebensstandards der Arbeitnehmer*innen noch ein Ende der neoliberalen Reformen und Sparmaßnahmen gebracht. Die Statistiken über Arbeitskämpfe in diesem Zeitraum sind aufschlussreich: Allein im Jahr 2012 verzeichnete das Ägyptische Zentrum für wirtschaftliche und soziale Rechte mindestens 3.817 Arbeitskämpfe und soziale Mobilisierungen, was mehr ist als die Gesamtzahl der Proteste, die das Land im gesamten Jahrzehnt von 2000 bis 2010 erlebt hatte. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2013, am Vorabend des Staatsstreichs, wurden mindestens 4.567 soziale Proteste registriert. Doch trotz dieses Anstiegs der Militanz wurde die Frustration der ägyptischen Arbeiter*innen über die Herrschaft von Mursi dank des Einflusses von Gewerkschaftsführern aus verschiedenen Lagern letztlich in eine reaktionäre Position kanalisiert.

Der staatlich unterstützte ägyptische Gewerkschaftsbund stand von Anfang an geschlossen hinter Mubarak und gab seinen Bürokraten die Anweisung, dafür zu sorgen, dass die Arbeiter nicht an der ersten Protestwoche während des 18-tägigen Aufstands teilnahmen. Später spielte sie eine Rolle bei der Mobilisierung des Mobs, der die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz während der berüchtigten «Kamelschlacht» angriffen. Während der gesamten Übergangszeit waren sie fortan bei jeder Mobilisierung zur Unterstützung des Obersten Rates der Streitkräfte präsent.

Die Leitung der Föderation Unabhängiger Unionen hingegen wurde von Nasseristen dominiert, darunter ihr Präsident Kamal Abu Eita, der die Machtübernahme durch die Armee befürwortete und dafür mit einer Mitgliedschaft im ersten Kabinett nach dem Staatsstreich als Minister für Arbeit und Einwanderung belohnt wurde. Abu Eita spielte eine zentrale Rolle bei der Niederschlagung von Arbeitskämpfen während seiner kurzen Amtszeit als Minister, indem er die Arbeitnehmer aufforderte, den Staat bei dem «Krieg gegen den Terror» zu unterstützen. Die Arbeiterbewegung zahlte einen hohen Preis. Industrielle Organisatoren wurden entlassen, schikaniert oder bei Razzien im Morgengrauen verhaftet. Unabhängige Gewerkschaften wurden eingestampft und Streiks verboten.

Unterdrückte gesellschaftliche Gruppen wie Kopt*innen oder Frauenrechtlerinnen, die sich vor der sektiererischen und konservativen Ideologie der Bruderschaft fürchteten, begrüßten die Proteste vom 30. Juni 2013 und die Machtübernahme durch die Armee in der Hoffnung, dass an seiner Stelle eine säkularere und liberalere Alternative entstehen würde. Alle diese Kräfte bejubelten das blutige Vorgehen des Militärs gegen die Anhänger Mursis und sangen das Loblied auf Sisi. Dass Sisis Vorgehen nach seinem Amtsantritt für die Mehrheit derjenigen, die ihn einst begeistert unterstützten, feindlich gesinnt war, erübrigt sich zu sagen.

Selbst die ägyptische Großbourgeoisie hat unter Sisi gelitten. Die Generäle des Repressionsapparats mit dem Militär an der Spitze haben sich zu einer, wie manche es nennen, «räuberischen» Herrschaftsklasse entwickelt, welche zwar von Zeit zu Zeit mit den zivilen Wirtschaftseliten zusammenarbeitet, aber auch deren Kapital gleichwohl parasitär gewaltsam vereinnahmt, wenn dies für sie notwendig erscheint. Im Jahr 2022 schrieb der Economist, dass «Ägypten nicht für Handelsbeziehungen offen ist», und warnte ausländische Investoren, dass «die Armee sich alles nimmt, was sie will», und das in einem «mafiösen Erpressungsstil». In der Tat zögern ausländische Investoren in Sektoren zu investieren, in denen das Militär expandiert, da sie unlauteren Wettbewerb und die Unmöglichkeit einer Schlichtung bei möglichen Streitigkeiten mit der Armee befürchten. Einige ägyptische Wirtschaftsmagnaten haben bereits ihre Besorgnis geäußert, und mindestens einer der großen Namen, Naguib Sawiris, hat sich bei mehreren Gelegenheiten unverblümt gegen die Einmischung des Militärs in die zivile Wirtschaft ausgesprochen. In einigen Fällen sahen sich einheimische Kapitalist*innen gezwungen, ihr Vermögen an das Militär oder den Sicherheitsdienst abzutreten, so etwa Muhammad al-Amin, der Eigentümer der Sender CBC, Extra News und al-Watan, Salah Diab, der Eigentümer der Zeitung al-Masry al-Youm, Muhammad und Hatem Mo'men, die Besitzer der Fastfood-Kette Mo'men, sowie Safwan Thabet und sein Sohn Seif, die Eigentümer von Juhayna-Milchprodukten.

Wachsender Druck von allen Seiten

Zehn Jahre nach dem Putsch mag Sisis Macht noch weitreichend sein, aber sein politischer Einfluss im In- und Ausland ist nicht mehr so stark wie am Anfang. Seine jüngste Initiative, einen «Dialog» mit den Überbleibseln der Opposition zu führen, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sisis Popularität ist heute aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen und seines militaristischen Ansatzes in allen Fragen der Staatsführung wahrscheinlich auf dem Tiefpunkt angelangt. Er regiert ein Ägypten ohne Zivilgesellschaft und verlässt sich ausschließlich auf seine einheimischen Helfer aus dem Repressionsapparat - Militär, Polizei, Geheimdienst und die Verwaltungskontrollbehörde.

Doch ohne regionale und westliche Unterstützer*innen hätte Sisi nicht so lange durchhalten können. Die arabischen Golfstaaten, insbesondere Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, spielten eine zentrale Rolle bei der Stützung seines Regimes, um die Revolution und die Muslimbruderschaft zu zerschlagen. Monarchen wissen sehr wohl, dass Revolutionen ansteckend sind, und waren bestrebt das bevölkerungsreichste Land der Region so schnell wie möglich zu befrieden.

Israel war auch besorgt über den Sturz von Mubarak und die revolutionäre Welle gewesen, die Ägypten erfasste, wo pro-palästinensische Gefühle schon immer stark waren. Der Staatsstreich wurde vom politischen Establishment in Tel Aviv mit großer Begeisterung aufgenommen, welches sich auch in den USA aktiv für Sisi einsetzte. Israel hat mit Sisis Einverständnis Luftangriffe im Sinai durchgeführt, um Sisi bei seinem Kampf gegen militante Islamisten zu unterstützen. Die sicherheitspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten ist stärker denn je.

Nach dem Staatsstreich von 2013 war die US-Regierung zunächst uneins, wie sie sich gegenüber Sisi verhalten sollte. Während Obama und der US-Botschafter in Kairo die Machtübernahme durch das Militär nicht unterstützten, sprachen sich Außenminister John Kerry und das Pentagon für den Putsch aus. Obama verzichtete jedoch darauf, das Ereignis als «Staatsstreich» zu bezeichnen und fror im Oktober 2013 symbolisch mehrere Millionen Dollar an Hilfsgeldern und eine Waffenlieferung ein, setzte aber den Rest – über 1 Milliarde Dollar –fort. Seit 2015 ist alles beim Alten …«Business as Usual».

Auch die europäischen Staaten, insbesondere Frankreich und Deutschland, erwiesen sich als wichtige Unterstützer des Sisi-Regimes und lobten seine Bemühungen im Kampf gegen «Terrorismus» und «illegale Migration» trotz öffentlicher Erklärungen, in denen sie ihre «Besorgnis» über die Menschenrechtslage in Ägypten zum Ausdruck brachten.

Die Spannungen zwischen den arabischen Golfscheichtümern und Sisi haben in letzter Zeit im Zuge der sich zuspitzenden Schuldenkrise zugenommen. Der Internationale Währungsfonds und andere internationale Geber haben Kairo unter Druck gesetzt, seine Währung abzuwerten, härtere Sparmaßnahmen durchzuführen, die Arbeiten an Sisis Mega-Projekten zu verlangsamen und die Unternehmen in Militärbesitz zu privatisieren.

In der Zwischenzeit gewinnt der Dissens langsam an Fahrt und äußert sich an drei verschiedenen Fronten. Die erste ist im Cyberspace, wo die Kritik an der Politik des Regimes trotz Zensur und Verhaftungen die ägyptischen sozialen Medien überschwemmt. Die zweite sind die zunehmenden spontanen Streikaktionen an den Arbeitsplätzen. Es ist schwierig, den genauen Umfang der Arbeitskampfmaßnahmen zu ermitteln, aber dissidente Organisationen wie das Center for Trade Union and Workers' Services und die Revolutionären Sozialisten, die die Situation beobachten, sprechen von einem generellen Anstieg an Aktionen. Die dritte ist relativ gesehen am stärksten organisiert und äußert sich in Mobilisierungen in den Reihen der Berufssyndikate.

Wie Sisi seinen Weg durch die derzeitige Wirtschaftskrise findet, wird über seine Chancen auf weitere ausländische Unterstützungsgelder entscheiden, die für sein politisches Überleben unerlässlich sind. Um es in den Worten von Hisham Kassem zu sagen, ein altgedienter liberaler Experte Ägyptens: «Ägypten mag zu groß sein, um zu scheitern, aber der ägyptische Präsident ist es nicht».