Erica Malunguinho ist eine Künstlerin, Aktivistin und Politikerin aus Brasilien.
Sie setzt sich für die Gleichberechtigung von Queers, trans*Menschen und die Schwarze Community in Brasilien ein. Von 2018 bis 2022 war Erica Abgeordnete im brasilianischen Kongress. Sie war die erste Trans*frau, die in Brasilien in ein Parlament gewählt wurde. Zur Wahl 2022 trat sie nicht erneut an.
«Queer sein in Brasilien ist ein Akt der Rebellion»
RLS: Erica, du saßt fast fünf Jahre für die linke Partei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) im Kongress von São Paulo. Wofür hast du dich in deiner Rolle als Parlamentarierin vor allem eingesetzt?
Erica Malunguinho: Was ich in der Politik mache, unterscheidet sich nicht von dem, was ich im Leben mache. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir verstehen, dass Politik machen nicht nur bedeutet, in legislativen Räumen und Räumen institutioneller Macht zu sein. Und ich bin einer dieser Menschen, die Politik auch und vor allem jenseits der Arbeit der Institutionen macht. Das, was ich dort als Parlamentarierin verteidigt habe, verteidige ich auch im Leben.
Es ist ein intensiver Kampf gegen strukturelle historische Gewalt, gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit und LGBT-Phobie. Meine Verteidigung als Parlamentarierin und als politisches Wesen besteht genau darin: Darüber nachzudenken, wie diese Knoten der Gewalt gelöst werden können. Aber das ist keine Praxis, die es nur in den Institutionen gibt. Es ist vielmehr eine Lebenseinstellung.
Ihr arbeitet in Brasilien mit kollektiven Mandaten (Quilombo Mandate) - Was bedeutet das und warum macht ihr das so?
Mandate sind eigentlich immer kollektiv. Man kann gar keine Arbeit weiterentwickeln, wenn man nicht Menschen hat, mit denen man zusammenarbeitet. Die Bestätigung und politische Verteidigung dieser kollektiven Idee ist dann nochmal etwas ganz anderes. Wir als Schwarze Menschen, Frauen, LGBT-Menschen wissen über die Bedeutung von Kollektivität, die Bedeutung, Menschen, zu Wort kommen zu lassen, die manchmal hinter den Kulissen zum Verstummen gebracht werden. Im Sinne eines kollektiven Mandats zu denken, bedeutet zu sagen: «Ja, das wird von mir gemacht, aber auch von anderen Leuten. Ich bin nicht allein». In der Praxis heißt das, ein Verständnis von Beziehungen zu haben, das traditionell ist bei den afrikanischen Völkern, den indigenen und schwarzen Völkern Brasiliens, diese Logik der Familie, des Kollektivs, des gemeinsamen Aufbaus von Gesellschaften zu verstehen.
Und wenn wir an eine institutionelle Politik denken, die auf Kollektivität basiert, bedeutet das zu verstehen, dass die Menschen die Dinge gemeinsam machen. Aber die heutige politische Praxis funktioniert nicht mehr in dieser Tradition, sie ist sehr individualistisch, sehr personalistisch. Es geht deshalb heute manchmal um die Figur einer konkreten Person und um ihre Rolle, was aber nicht bedeutet, dass es nur diese eine Person ist. (…) Ich wurde gewählt, aber ich wurde zusammen mit allen gewählt, die auf mich gesetzt haben. Wenn wir also über ein kollektives Kabinett (in Brasilien das Prinzip der sog. «gabinetona») nachdenken, heißt das, daran zu denken, dass die Leute, die uns gewählt haben, auch Teil dieses politischen Projekts sind.
Was ist die Idee hinter Orten wie Aparelha Luzia, ein kulturelles Zentrum für die Schwarze Community, das du 2016 in São Paulo gegründet hast?
Aparelha Luzia ist ein Schutzraum. Ein Zufluchtsort für Schwarze Menschen. Es ist ein Raum, in dem Schwarze Menschen überlegen können: «Was können wir tun, was wollen wir tun, wenn wir nicht über Rassismus nachdenken müssen?» Das ist die Philosophie hinter dem Ort. In der Praxis ist es ein Raum für Kunst, für Kultur. Ein Raum für Tanz, Theater und Kunstausstellungen, Feste, Diskussionen. Es ist also die Kunst, die die Politik kultiviert. Denn ich mag die Idee eines harten, traurigen Kampfes nicht, bei dem wir unsere Faust die ganze Zeit geballt halten müssen. Der Kampf muss auch Leichtigkeit mit sich bringen und Frische, damit er einen Sinn hat, damit er wirksam ist. Er muss denen, die an vorderster Front stehen, ein Umfeld der Ruhe bieten. Und ich glaube, die Kunst hat diese Rolle. Das ist es, was Kunst macht.
Aparelha Luzia ist also ein Ort um den Kampf zu mentalisieren, über Politik nachdenken, Politik zu machen, aber auch Kultur, Kunst, Freizeit, Unterhaltung und andere Dinge, die grundlegend sind, einzubeziehen. Das gibt nicht nur dem Kampf selbst einen Sinn, sondern verstärkt ihn auch. Weil es nicht nur ein Kampf ist. Es ist das Leben, das jenseits des Kampfes stattfindet. Und mit dem Kampf.
Der Mord an der Politikerin Marielle Franco (Stadträtin in Rio de Janeiro, Präsidentin des Frauenausschusses des Stadtparlaments) 2018 war eine Zäsur - und hat dich dazu gebracht, in die Politik zu gehen. Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Du bist fast zeitgleich mit der Wahl Bolsonaros zum Präsidenten (2019 - 2022) in den Kongress von São Paulo gekommen, in einem extrem gespaltenen Brasilien, auch in Bezug auf die Rechte von LGBTQI+-Menschen. Vielleicht kannst du uns einen kurzen Einblick geben: Was bedeutet queer sein in Brasilien?
Eine LGBT-Person in Brasilien zu sein, bedeutet, mit den Statistiken zu brechen. Brasilien ist das Land, in dem die meisten Trans*Menschen auf der Welt getötet werden. Ein Land, das extrem gewalttätig gegenüber der LGBT-Gemeinschaft ist. Und am Leben zu sein, ist ein Akt des Mutes, des Widerstandes und der Rebellion. Und es war nicht nur die rechtsextreme Regierung, die uns das gezeigt hat. Denn diese Zahlen von Todesfällen und Morden und Gewalt gegen LGBT-Menschen sind konstant und das war bereits so, bevor die Rechtsextremisten die Macht übernommen haben.
Als Bolsonaro gewählt wurde, wurde das nur deutlicher. Die Menschen begannen, mehr darüber zu wissen. Das liegt auch daran, dass die Leute anfingen, sich zu äußern. Die extreme Rechte outet sich öffentlich mit ihren gewalttätigen Reden, mit ihren gewalttätigen Praktiken. Wir fingen also an, offen zu sehen, was in der brasilianischen Kultur bereits existierte, und das brachte natürlich viel, viel mehr Leid für uns und viel mehr Schmerz. Aber es hat auch eine Klarheit geschaffen. Wir haben verstanden, dass es Leute gibt, die uns hassen, wir haben verstanden, dass wir Feinde haben, die gemeinsam mit uns in Brasilien leben. Das war also in gewisser Weise die positive Seite. Wir haben verstanden, dass es Menschen gibt, die uns töten möchten und Bolsonaro hat das zum Vorschein gebracht. Das ist sehr schlimm, aber wir haben gesehen, dass der Feind mitten unter uns ist.
Bolsonaro hat die Wahl 2022 verloren, mit Lula ist jetzt wieder ein linker Politiker an der Macht. Hat sich seit dem Machtwechsel spürbar etwas zum Positiven geändert für die LGBT-Community?
Die Atmosphäre in Brasilien hat sich verändert. Weil wir eine Regierung haben, die meiner Meinung nach zwar immer noch sehr zögerlich ist in Bezug auf wirkliche Veränderungen für LGBT-Menschen, aber das Umfeld, die Atmosphäre im Land hat sich schon sehr verbessert. Wir haben einen Minister für Menschenrechte, der in Bezug auf LGBT-Menschen sehr gut aufgestellt ist. Auch die Ministerin für Rassengleichheit. Das Ministerium für indigene Völker, der Umweltminister. Es gibt eine Gruppe von Ministerialbeamten und Sekretariaten, von denen wir wissen, dass sie Hand in Hand mit LGBT-Menschen gehen. Es herrscht also eine gewisse Atmosphäre. Aber, es müssen jetzt natürlich auch gewisse Dinge umgesetzt werden. Und zwar schnell. Aber immerhin haben wir jetzt Menschen, auf die wir zählen können. Und vorher hatten wir das nicht.
Welche konkreten Verbesserungen fordert ihr?
Hmm. Ich denke an eine Liste, die ich jetzt machen müsste… Erica lacht. …es sind viele Dinge und ich überlege, was ich jetzt besonders hervorheben sollte…
Bürgerrechte: LGBT-Menschen in Brasilien kämpfen immer noch für Bürgerrechte. Es gibt also sehr grundlegende Dinge, wie den Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung im öffentlichen Gesundheitssystem. Trans* Menschen müssen Zugang haben, Zugang und eine gewisse Versorgungsqualität während des Prozesses der Transition. Ihnen müssen die gleichen Rechte für ihre Familienangehörigen oder Partner*innen garantiert werden wie heteronormativen Familien: Vaterschaft, Mutterschaft, doppelte Mutterschaft, doppelte Vaterschaft.
Das Recht auf eine Schulbildung: Das bedeutet, dass politische Maßnahmen gegen Mobbing und LGBT-Phobie in Schulen ergriffen werden. Das Recht und den Zugang zu Schulen zu haben, bedeutet für uns LGBTs, ein sicheres Umfeld zu haben. Bisher ist die Schule kein sicheres Umfeld, Universitäten sind keine sicheren Umgebungen. Daher ist es wichtig, dass die öffentliche Politik ein Ende der LGBT-Phobie in diesen institutionellen Räumen vorsieht.
Zugang zu Einkommen und Arbeit, insbesondere für die Trans* Bevölkerung. Mehr als 90 Prozent der Trans* Frauen arbeiten in der Prostitution. Und das ist nicht normal. Keine Gemeinschaft ist so massiv und geschlossen für eine bestimmte Art von Arbeit verfügbar. Das passiert nur, weil wir auf die Straße gedrängt werden und uns prostituieren. Deshalb ist das Recht auf Einkommen und Arbeit ein sehr wichtiges Thema. Schulbildung, Einkommen und Arbeit.
Wohnungsbauprogramme: Auch das ist sehr wichtig. LGBT-Menschen erhöhen auch die Zahl der Menschen auf der Straße. Und es ist offensichtlich, dass die Tatsache, dass wir auf der Straße sind, mit der LGBT-Phobie zusammenhängt. LGBT-Personen werden aus ihren Häusern geworfen, sie werden bei ihrer Arbeit gefeuert und beginnen, unter extremer Marginalität zu leiden. Wir brauchen deshalb Wohnungsbauprogramme, die vorsehen, dass auch LGBT-Menschen das Recht auf eine Wohnung haben.
Und es ist sehr wichtig, dass die institutionelle Politik, die Regierung, kurz gesagt, die Institutionen, uns LGBT-Menschen nicht nur als Ziel der öffentlichen Politik betrachten. Ich muss nicht nur unterstützt werden von der öffentlichen Politik sondern ich kann sie auch selbst schreiben.
Wir müssen über Projekte nachdenken, um mit der LGBT-Phobie zu brechen, aber bei denen wir gleichzeitig aktiv dabei sind, als Teilnehmer*innen, Macher*innen. Es geht also nicht nur darum, unsere Rechte zu schützen, sondern auch darum, uns die Möglichkeit zu geben, unsere Stimme zu erheben und die öffentlichen Sprecher*innen dessen zu sein, was uns passiert.
Letztes Jahr hast du entschieden nicht erneut zur Wahl als Abgeordnete anzutreten, sondern deine Kämpfe wieder außerhalb der institutionalisierten Politik weiterzuführen. Warum?
Wie ich bereits gesagt habe, sind Institutionen wichtig; es ist legitim und notwendig, innerhalb des institutionellen Rahmens Politik zu machen. Aber eigentlich wird Politik im Alltag gemacht, im Leben, kurz gesagt, mit verschiedenen Aktionsformen. Und deshalb habe ich mich entschieden, nicht mehr in den Institutionen zu sein, um das weiterzubewegen, von dem ich weiß, dass ich es in Bewegung gebracht habe. Das zu tun, was ich immer politisch getan habe, nämlich an der Basis zu denken, direkt mit jungen Menschen zu arbeiten, mit Menschen in Unterhaltungs- und Freizeitsituationen (…) und Politik auf andere Weise zu machen. Ich kehre also an diesen Ort zurück und für mich ist das sehr wichtig, weil ich das Gefühl habe, dass ich die Verantwortung, die ich übernommen hatte, erfüllt habe.
Ich bin 2018 in die Politik gegangen, ich wurde gewählt und habe den Weg geebnet, damit viele andere Menschen heute gewählt werden. Und deshalb verteidige ich, dass ich jetzt an anderen Orten mitwirken und handeln kann, denn Politik ist für mich kein Beruf, ich muss nicht in an diesem Stuhl kleben, wie es die meisten weißen Männer tun. Ich muss sogar gehen, damit andere Menschen diesen Raum betreten.
Es ist ja so, dass wir gegen ein System kämpfen. Und in einem System gibt es viele Möglichkeiten, aktiv zu werden. Ich habe mich entschieden, gegen das System zu sein und in einer anderen Atmosphäre aktiv zu sein. (…) Es ist wichtig, dass wir alle kollektiv gegen das System handeln und für mich muss es nicht unbedingt innerhalb der Institutionalität sein. Ich kann das auch an anderen Orten tun. Das ist mein Wunsch in diesem Moment.
Überall auf der Welt erstarken konservative rechte Parteien, die u.a. eine queer- und trans*feindliche Politik verfolgen. Wie kann man dem entgegentreten? Was hilft, um weiter daran zu glauben, dass eine inklusivere Gesellschaft möglich ist und weiterhin aktiv dafür zu kämpfen?
Die reichen Länder müssen jetzt handeln. Reiche Länder, wirtschaftlich starke und fortschrittliche Gemeinschaften müssen in der Praxis handeln und sich für Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen und LGBTs auf globaler Ebene einsetzen. Es liegt in der Verantwortung der reichen Länder, sich in dieser Zeit politisch und wirtschaftlich zu engagieren und uns zu stärken. Auf diese Weise werden wir sicherstellen, dass die extreme Rechte auseinanderbricht und gestoppt wird.
Aber diejenigen, die diesen Kampf jetzt kämpfen müssen, sind die Menschen im globalen Norden, die über Ressourcen verfügen und die gewissermaßen diese Kreaturen der extremen Rechten geschaffen haben.
Deshalb sind wir natürlich hier, um zu unterstützen und diesen absurden Vormarsch der extremen Rechten zu zu bekämpfen, der gewalttätig ist und der allen schadet. Aber wir brauchen nicht nur Unterstützung (des globalen Nordens), sondern auch die Verantwortung und das Engagement, uns wirtschaftlich und politisch zu unterstützen. Wir, die wir die Antithese darstellen, den Widerstand und den Antifaschismus.
Wie ermutigst du Menschen, die sich für die Rechte der LGBT-Community einsetzen und damit oft persönliche Anfeindungen etc. in Kauf nehmen, nicht aufzugeben?
Wir haben eine sehr wichtige Sache in unserem Kampf. Unser Kampf ist auch ein Kampf für das wertvollste Gut der Menschheit, nämlich das Leben. Wir dürfen also nie vergessen, dass das, was wir tun, diese Anstrengung, Widerstand zu leisten, der Kampf für etwas sehr Edles ist. Wir denken an uns selbst, aber auch an die Emanzipation aller.
Wir haben ein sehr wichtiges Projekt für die kollektive Emanzipation der Gesellschaft, ein Projekt der Menschlichkeit, das gelebt werden muss. Wir haben Antworten, die die Knoten der Gewalt auflösen. Wir sind, wie ich schon sagte, die Antithese. Wir sind die Gegenseite der Härte. Wir sind der Atem, wir sind die Luft, wir sind das Leben. Und dieses Projekt des Lebens, der Liebe, der Brüderlichkeit, verteidigen wir, die LGBT-Menschen, mit unserer Existenz. Denn was wir, die LGBT-Menschen, in der Praxis sagen, ist, dass es möglich ist, so zu existieren, wie man ist. Und das ist sehr edel und sehr großzügig. Wir geben der Gesellschaft und der Welt eine große Lektion. Daran glaube ich. Ich denke, wir müssen daran glauben und verstehen, dass dies ein sehr wertvolles Gut ist. Trotz des Schmerzes bringen wir die Zukunft.